Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Die heimatliche Scholle

Die heimatliche Scholle gehört zu jenen Dingen, von denen die Schriftleiter und Versammlungsbarden ganz besonders gerne singen und sagen. Aber vergeblich wird man in ihren weitschweifigen und bombastischen Deklamationen über dieses Thema einen positiven Inhalt suchen. Man wird nichts finden als die Behauptung: der Boden, auf dem wir sitzen, gehört uns; die Nation hat ein Recht auf ihren Boden, und dieses Recht müssen alle Volksgenossen, auch die Arbeiter, verteidigen, weil es für alle gleich wertvoll ist.

Also auch der deutsche Boden stellt angeblich eine Interessengemeinschaft zwischen dem deutschen Proletariat und der deutschen Bourgeoisie her.

Wie sieht es mit den Beweisen für diese Behauptung aus? Vor allem: Was ist unter dem Recht der Nation auf ihren Boden zu verstehen? Kann man der nationalen Terminologie schon im Allgemeinen nichts weniger nachrühmen als Klarheit, so gehört im Speziellen das Wort von der heimatlichen Scholle und den Rechten, die mit ihr verbunden sind, zu den allerunbestimmtesten nationalen Phrasen. Es kann alle möglichen Bedeutungen annehmen. Aber was immer es bedeuten mag, das Vorhandensein einer Interessengemeinschaft zwischen dem Proletariat und den anderen Klassen einer Nation kann man damit, wie wir sehen werden, nicht beweisen.

Eine Nation muß, wenn sie überhaupt sein soll, irgendwo sein. Aber läßt sich daraus ein Recht der Nation auf ein bestimmtes Gebiet ableiten, gleichviel welchen Inhalt dieses Recht hat?

Faktisch kann natürlich jede Nation so viel Recht in Anspruch nehmen, als sie durch Waffengewalt oder auf andere Art behaupten kann. Aber davon sprechen wir jetzt nicht. Es handelt sich uns hier um die ideologische Ableitung des Rechtes.

Setzen wir den Fall, die ganze menschliche Gesellschaft ist zu einer einzigen Gemeinschaft, einer Weltrepublik vereinigt. Dann bestimmt die Gesamtheit im Interesse der Gesamtheit über die Besiedlung und Bebauung des Bodens, und das Recht einer einzelnen Gruppe auf ein bestimmtes Territorium leitet sich von dem Rechte der Gesamtheit her und kann, wenn's nottut, auf ihren Schutz rechnen.

Aber wie steht's heute? Heute kann keine Nation ihr Recht auf ein bestimmtes Gebiet von dem Rechte der Gesamtheit ableiten. Sie muß nach einem anderen Rechtstitel suchen, wenn es ihr nicht genügt, daß sie ihren Boden mit Gewehren und Kanonen behaupten kann.

Solcher Rechtstitel gibt es verschiedene. Uns interessiert aber hier nur einer, nämlich der historische, und zwar deshalb, weil sich die Nationalen, wie alle Leute, die unhistorisch denken, hauptsächlich auf ihn stützen. Die Logik der Anhänger des historischen Rechtes ist von einer erhabenen Einfachheit: Weil eine Sache schon gestern so war, wie sie heute ist, soll sie auch morgen so sein; weil sich auch die ältesten Leute nicht erinnern können, daß Krähwinkel jemals tschechisch gewesen wäre, muß der deutsche Charakter von Krähwinkel immerdar unangetastet bleiben.

Daß der Streit über solche historischen Rechte in pure Kinderei ausarten muß, zeigen uns die Katzbalgereien der Deutschnationalen mit den Tschechischnationalen (z.B. über die bange Frage: soll man Teplitz oder Töplitz schreiben?) Tag für Tag in der ergötzlichsten Weise. Versteht sich, daß auch die Separatisten gern von Hus und Zizka reden – sie haben eben das proletarische Bewußtsein verloren. Denn das Proletariat kann als eine revolutionäre Klasse überhaupt keinen historischen Rechtstitel anerkennen. Es sucht die Begründung seiner Rechtsanschauungen nicht in verstaubten Archiven, sondern in der lebendigen Wirklichkeit. Die wirtschaftliche Entwicklung hat die Arbeiterseele umgemodelt, sie hat in den Arbeitern Bedürfnisse geweckt, denen alle herkömmlichen Rechtsbegriffe in der lächerlichsten Weise widersprechen, und so hat sich das Rechtsbewußtsein, wie überhaupt die ganze Ideologie des Arbeiters von Grund aus gewandelt. Recht ist dem klassenbewußten Arbeiter, was den Klasseninteressen des Proletariats entspricht, ein anderes Recht erkennt er nicht an. Das heißt natürlich nicht, daß er die bestehenden Rechtsverhältnisse einfach ignoriert, denn sie sind Tatsachen und der Sozialdemokrat rechnet mit den Tatsachen. Aber die Frage, wie wir uns zu den durch die bürgerliche Rechtsordnung geschaffenen Verhältnissen stellen, ist für uns eine Frage nicht des Rechtes, sondern der Taktik oder, wie es in unserem Programm heißt: wir suchen mit allen zweckmäßigen, dem natürlichen Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechenden Mitteln ans Ziel zu kommen.

Wie verhalten wir uns also zu dem Recht der Nation auf ihren Boden, das in den geltenden Gesetzen begründet ist oder durch eine Änderung der Gesetze begründet werden soll? Ein solches Recht an und für sich kennen wir nicht. Es hängt von seinem konkreten Inhalt ab, ob wir es billigen oder verwerfen. Wir werden es verteidigen, wenn das proletarische Interesse das erheischt, sonst werden wir es bekämpfen. Damit sind wir wieder bei der Frage angelangt: Was bedeutet das Recht der Nation auf ihren Boden?

Es kann, wie bereits gesagt, sehr verschiedenes bedeuten. Nehmen wir an, eine Nation macht den Versuch, ein anderes Volk zu unterwerfen oder gar aus seinem Gebiet zu vertreiben. Wie soll sich das Proletariat der angegriffenen Nation verhalten? Es wird zu den Waffen greifen, aber nicht, weil die Angreifer ein nationales oder staatliches Recht, sondern weil sie ein proletarisches Recht verletzen. Kann man, weil sich auch die Bourgeoisie des Überfallenen Volkes zur Wehr setzen wird, von einer Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat sprechen? Nein, diese Gemeinschaft besteht nur zufällig, nur scheinbar: die Bourgeoisie kämpft für bürgerliche, das Proletariat für proletarische Interessen. Mit dem Recht der Nation auf ihren Boden, was immer es bedeuten mag, hat der Krieg nichts zu tun. Ganz deutlich wird uns das, wenn wir noch zwei andere Fälle ins Auge fassen: Eine Nation läßt ihr Heer in ein fremdes Gebiet einmarschieren, um einen Aufstand der unterdrückten Klassen in diesem Gebiet niederzuwerfen. Oder die Invasion hat den Zweck, den Unterdrückten die Freiheit zu bringen. Wie steht's in diesen beiden Fällen mit dem Recht der Nation auf ihren Boden? Sie zeigen uns, daß dieses Recht nur eine Demagogenphrase ist.

Aber die angeführten Möglichkeiten haben für uns hier nur akademisches Interesse. Die Deutschnationalen prügeln zwar tschechische Turner und Sänger, die einen „Eroberungszug“ in deutsches Land unternommen haben, für ihr Leben gern aus diesem Gebiet wieder hinaus, aber daß die Tschechen sie mit Krieg überziehen könnten, ist ihnen auch in ihren tollsten chauvinistischen Träumen noch nicht eingefallen. Wenn sie darüber jammern, daß die Tschechen das Recht der deutschen Nation auf ihren Boden verletzen, so meinen sie nicht eine kriegerische Expedition, sondern die friedliche Einwanderung von Tschechen in deutsches Land. Die Herren tun, als ob diese Einwanderung der schrecklichste der Schrecken für das deutsche Volk wäre, und während der Krisenjahre, die wir hinter uns haben, sind sie, um die deutschen Arbeiter einzufangen, an die Fabrikanten mit dem Verlangen herangetreten, wo Entlassungen notwendig wären, vor allem die tschechischen Arbeiter zu entlassen. Die Fabrikanten begriffen den demagogischen Wert dieser Forderung auch und erfüllten sie, soweit es ihre geschäftlichen Interessen erlaubten. Die nationalen Blätter konnten in dieser Zeit des öfteren mit Genugtuung melden, daß in Betrieben, die ihre Produktion einschränken mußten, zunächst tschechische Arbeiter entlassen worden seien. War diese „Säuberung“ des deutschen Bodens nicht im Interesse der deutschen Arbeiter gelegen?

Nein. Das Proletariat muß Freizügigkeit fordern. Nicht aus irgendeiner nebelhaften Freiheitsvorstellung heraus. Die Freizügigkeit ist ja eine sehr fadenscheinige Freiheit. Nur scheinbar gibt sie dem Arbeiter die Möglichkeit, seinen Aufenthaltsort nach seinem Belieben zu wählen. In Wirklichkeit bedeutet sie, daß die Bewegung des Proletariers nur durch das Verwertungsbedürfnis des Kapitals bestimmt werden darf und daß er sich diesem unterordnen muß, wenn er nicht verhungern oder verkommen will. Eben darum aber ist die vollkommenste Freizügigkeit in einer Gesellschaft, in der in der Produktion die vollkommenste Anarchie herrscht, eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Will man aber die Freizügigkeit, so muß man auch ihre Konsequenzen wollen, also z.B. den Zuzug tschechischer Arbeiter in deutsches Gebiet. Ein Recht der Nation auf ihren Boden als Recht auf die Ausschließung Fremder von der Arbeitsgelegenheit auf diesem Boden muß in der kapitalistischen Gesellschaft als ein Unding erscheinen, und der erbitterte Protest der Nationalen gegen die slawische „Hochflut“ ist eine Donquichotterie oder ein frecher Schwindel, solange sie kein Mittel gegen die Einwanderung von tschechischen Proletariern wissen. Und wenn sie eines wüßten, so müßten die deutschen Arbeiter gegen dessen Anwendung protestieren, und zwar in ihrem ureigensten Interesse. Denn was wäre die Folge, wenn kein tschechischer Fuß mehr durch seinen profanen Tritt die heilige deutsche Erde entweihen könnte? Kommt der Berg nicht zum Propheten, so kommt der Prophet zum Berg: könnten die tschechischen Arbeiter nicht mehr ins deutsche Gebiet einwandern, so würde das deutsche Kapital ins tschechische Gebiet auswandern. Solche Dinge sind schon dagewesen. Die deutschen Arbeiter könnten zwar von ihrem Standpunkt gegen solche Wanderlust des Kapitals nichts einwenden, aber sie müßten dagegen protestieren, daß sie künstlich geweckt werde. Der deutsche Arbeiter hat kein Interesse daran, gegen die tschechische Einwanderung anzukämpfen.

Wie steht's aber mit den anderen Klassen, vor allem mit der industriellen Bourgeoisie? Hat der deutsche Arbeiter keinen Grund, dem tschechischen Arbeiter, wie es die Nationalen gern sähen, den Krieg zu erklären, wenn er auf deutscher Erde Arbeit sucht, so hat der Fabrikant im deutschen Gebiet sogar allen Grund, die tschechische Einwanderung zu fördern, und diese ist ja auch vor allem durch das Bedürfnis des Kapitals nach Arbeitskräften hervorgerufen worden. Und das deutsche Kleinbürgertum? Der Krämer, der Handwerker, der Gastwirt, so gute Deutsche sie auch sind, haben nichts gegen den Zuzug von Tschechen einzuwenden, so lange diese Tschechen Arbeiter – das heißt für die deutschen Kleinbürger: Konsumenten, Käufer, Kunden – sind. Sie schreien erst, wenn auch der tschechische Krämer, der tschechische Schneidermeister im deutschen Gebiet erscheinen, wenn also die Tschechen nicht mehr bloße Ausbeutungsobjekte für sie sind, sondern ihnen auch als Konkurrenten gegenübertreten und ihnen am Ende gar auch noch in der Gemeindestube Scherereien verursachen. Der deutsche Handwerker holt seine Lehrbuben am liebsten aus dem Tschechischen, er zieht den tschechischen Gehilfen dem deutschen vor; sein nationales Gewissen erwacht erst, wenn sich der tschechische Gehilfe selbständig macht und mit ihm rivalisiert. Und nicht anders steht's mit den deutschen Beamten, Advokaten, Ärzten, mit dem ganzen neuen Mittelstand. Der deutsche Intellektuelle macht seine Einkäufe gern bei tschechischen Geschäftsleuten, wenn sie billiger verkaufen als ihre deutschen Konkurrenten, er hält gewöhnlich ein tschechisches Dienstmädchen, weil es anspruchsloser und gefügiger ist als ein deutsches, auch er wird erst national, wenn der Tscheche mit ihm konkurriert. Das gesamte deutsche Bürgertum hat gegen die tschechische Einwanderung nichts, solange sie eine Arbeitereinwanderung ist. Sein Nationalgefühl wird erst rege, wenn dem tschechischen Arbeiter der tschechische Geschäftsmann, Beamte, Arzt, Rechtsanwalt folgt. Und weil den deutschen Spießbürgern ihre tschechischen Konkurrenten zuwider sind, soll der deutsche Arbeiter gegen die tschechische Einwanderung protestieren, und er wird des Verrats an der eigenen Nation beschuldigt, weil er nicht albern genug ist, das Recht der Nation auf ihren Boden, das dem Bürgertum gleichgültig ist, solange es nur durch tschechische Proletarier „verletzt“ wird, zu verteidigen, das heißt, sich gegen seine tschechischen Klassengenossen aufhetzen zu lassen.

Es könnte noch in einem anderen Sinne von einem Recht der Nation auf ihren Boden gesprochen werden. Soll eine Nation nicht verlangen dürfen, daß die in ihr Gebiet einwandernden Fremden sich assimilieren? Unsere Nationalen stehen wirklich auf diesem Standpunkt – was sie natürlich nicht hindert, alles zu tun, um den Tschechen im deutschen Gebiet die Assimilation zu erschweren und zu verekeln. Aber wie soll die Pflicht zur Assimilation vom sozialdemokratischen Standpunkt begründet werden? Was läßt sich vom sozialdemokratischen Standpunkt gegen die völlige Tschechisierung einer deutschen, die völlige Germanisierung einer tschechischen Stadt einwenden – vorausgesetzt natürlich, daß sich eine solche Entnationalisierung ohne Zwang und Gewaltanwendung vollzieht?

Ludo Hartmann hat in einem Artikel zur Frage der nationalen Minoritätsschulen den sehr interessanten Versuch unternommen, die Pflicht zur Assimilation vom sozialistischen Standpunkt zu begründen. Er meint, daß man die Sprache, unbeirrt von aller nationalen Ideologie, nur als ein Verkehrs- und Veständigungsmittel betrachten darf; tue man dies, so erscheine die Assimilation vom Standpunkte der Gesamtheit aus als das Zweckmäßige und daher das Erstrebenswerte. Hartmann verwirft darum die von Bauer vorgeschlagene Minoritätsschule (in der auch die Sprache der Mehrheit gelehrt werden soll), denn er findet, daß Bauer nicht vom kollektivistischen, sondern vom individualistischen Standpunkt ausgeht, und daß dessen Minoritätsschule ihren Zweck -Erleichterung der Assimilation ohne Zwang zur Assimilation – zu erreichen kaum geeignet sein dürfte; er empfielt eine Schule, in der die nichtdeutschen Kinder als (wegen ihrer mangelhaften Kenntnis des Deutschen) minderbefähigte Schüler behandelt werden sollen.

Bauer behandelt also die Nationalität als Privatsache, Hartmann nicht. Wer hat recht?

Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, Hartmann beizupflichten, denn er geht von Voraussetzungen aus, deren Richtigkeit auf der Hand liegt. Prinzipiell ist, wie dem Liberalismus alles, so dem Sozialismus nichts Privatsache. Er betrachtet alles vom Standpunkt der Gesamtheit. Also muß er, was auf die Gesellschaft wirkt, der Leitung durch die Gesellschaft zu unterwerfen suchen. Und da die Sprache gesellschaftlich nicht gleichgültig, vielmehr höchst wichtig ist, so werden in der sozialistischen Gesellschaft die sprachlichen Verhältnisse als eine Angelegenheit der Gesamtheit behandelt werden. Diese Behandlung wird auch zweifellos die sein, die Hartmann wünscht. Das sozialistische Weltparlament wird erklären: Die Sprache ist ein Verkehrs- und Verständigungsmittel, aber die Sprachen sind ein Verkehrshindernis, die Vielsprachigkeit widerspricht der Sprachfunktion, und dieser Widerspruch wird um so fühlbarer, je mehr Sprachen sich zu Kultursprachen entwickeln. Er müßte also in der sozialistischen Gesellschaft, in der jede Sprache eine Kultursprache werden würde, unerträglich werden. Machen wir also der Vielsprachigkeit ein Ende, erheben wir eine Sprache zur allgemeinen Vermittlungssprache, lassen wir sie in allen Schulen der Welt lehren, und sie wird sehr bald die alleinige Sprache werden, also den Zweck der Sprache, ein Mittel der Verständigung und des Verkehrs zu sein, in der vollkommensten Weise erfüllen(6).

So könnte das sozialistische Weltparlament reden. Aber wer kann heute, in der bürgerlichen Gesellschaft, die in zwei große Klassen zerrissen ist und in zahllose Staaten zerfallt, eine solche Sprache führen? Nicht einmal wir Sozialisten. Denn, das übersieht Hartmann, der Sozialismus an der Macht und der Sozialismus in der Opposition sind nicht dasselbe und müssen sich darum verschiedener Methoden bedienen. Allerdings bestimmt unsere Aktion auch heute das Gesamtinteresse der Zukunft, darin hat Hartmann recht. Aber wir haben nur eine Möglichkeit, das Gesamtinteresse der Zukunft zu vertreten: indem wir das gegenwärtige Interesse des Proletariats, als der Klasse, der die Zukunft gehört, verfolgen. Hartmann hat also unrecht, wenn er sagt: „Die Arbeiterschaft darf bei der Beurteilung der deutsch-tschechischen Frage nicht von der Tatsache ausgehen, daß in den deutschen Gebieten Böhmens und Wiens die Minoritäten größtenteils aus Proletariern bestehen, die in erster Linie von den Beschwerden, welche die Assimilation mit sich bringt, betroffen werden.“ Wir müssen vielmehr diese und überhaupt jede nationale Frage genau so behandeln wie alle anderen Fragen: ausschließlich vom Standpunkt des Proletariats aus. Um das zu erkennen, braucht man nur die Gedanken Hartmanns zu Ende zu denken. Setzen wir den Fall, wir wollten die Sprachenfrage nach seinem Rezept lösen, also die Sprache lediglich als ein Verkehrs- und Verständigungsmittel behandeln. In einer sozialistischen Gesellschaft könnten wir das, wie gesagt, tun: sobald Ausbeutung und Unterdrückung aufgehört haben, kommt die Sprache wirklich nur noch als ein Verkehrs- und Verständigungsmittel in Betracht. Aber heute ist dem nicht so. Heute ist es für die besitzenden Klassen der Nation nicht gleichgültig, wie groß die Nation ist. Je mehr Tschechen es gibt, desto selbstbewußter kann das tschechische Bürgertum auftreten, desto eher wird es sich bei der deutschen Bourgeoisie und bei der Regierung in Respekt setzen. Die Sprache hat also heute nicht bloß die Bedeutung eines Verkehrs- und Verständigungsmittels, sie ist eine Quelle politischer Macht. Darum wird jede Bourgeoisie, wo sie kann, auf nationale Eroberungen ausgehen. Sie wird keinesfalls geneigt sein, die Minoritäten ihrer Nation preiszugeben, wohl aber wird sie für die Assimilation der Fremden in ihrem Gebiet schwärmen. Unter diesen Umständen ist der Weg, den uns Hartmann weist, ungangbar, denn er führt nicht ans Ziel: die Pflicht zur Assimilation würde nicht die Assimilation bewirken, sie würde nur zur Schikanierung der Minorität durch die Majorität und der Majorität durch die Minorität führen. Darunter hätte vor allem das Proletariat zu leiden. Die Arbeiter würden – ganz wie es die Bourgeoisie wünscht – national erregt werden, und diese Erregung müßte ihr Klassenbewußtsein trüben, ihre Tauglichkeit zum Klassenkampf vermindern.

Wir können also den von Hartmann gezeigten Weg nicht einschlagen. Nun gibt es aber, solange eine Regelung der sprachlichen Verhältnisse, die dem Gesamtinteresse Rechnung trägt, nicht durchführbar ist, nur zwei Möglichkeiten: entweder wir geben die nationalen Minoritäten den Majoritätsnationen, das heißt deren besitzenden Klassen, preis, oder wir suchen die Behandlung der Nationalität als Privatsache zu erzwingen. Wir können natürlich nur das letztere tun. Der Vorschlag Bauers, dessen Verwirklichung den Tschechen im deutschen Sprachgebiet die Möglichkeit der Assimilation ohne Nötigung zur Assimilation schaffen würde, ist darum der korrektere, denn er behandelt die Nationalität als Privatsache.

Aber haben wir nicht gesagt: dem Sozialismus ist prinzipiell nichts Privatsache? Sehr wohl. Wir haben aber auch gesagt, daß der Sozialismus in der Opposition etwas anderes ist als der Sozialismus an der Macht. Wenn wir heute an den Staat die Forderung richten, daß er die Nationaltät, wie manches andere, als Privatsache behandeln solle, so bedeutet das nicht, daß wir unsere Prinzipien aufgegeben haben. Es bedeutet auch nicht, daß wir die Nationalität für gesellschaftlich gleichgültig halten. Es bedeutet vielmehr, daß wir der Meinung sind: die Zeit, in der die Gesamtheit die nationalen Verhältnisse im Interesse der Gesamtheit regeln kann, ist noch nicht gekommen, wohl aber ist die Zeit vorüber, in der die besitzenden Klassen sie entsprechend ihren Herrschaftsinteressen reglementieren konnten.

Also auch ein Recht der Nation auf ihren Boden, dem die Pflicht der Nationsfremden zur Assimilation entsprechen soll, kann der Sozialdemokrat nicht anerkennen, wenn er nicht allen seinen Prinzipien zum Trotz ein Recht auf Vergewaltigung der nationalen Minoritäten statuieren will.

Den ärgsten Spektakel über die Verletzung des nationalen Rechtes auf den Boden machen die Nationalisten, wenn ein „deutsches“ Haus oder Grundstück in tschechische Hände übergeht. Sie meinen also, das Privateigentum an Grund und Boden müsse im deutschen Land ein Privilegium der Deutschen sein. Solche Privilegien hat es gegeben: Klassen, Nationen, Rassen usw. sind vom Grundeigentum ausgeschlossen gewesen. Aber der Gleichmacher Kapitalismus hat mit diesen Privilegien aufgeräumt. Er kennt nur ein Privileg, das des Geldsacks. Wer ein Grundstück, ein Haus oder irgendeine andere Sache bezahlen kann, der darf sie auch erwerben. Wer dieses Privileg einschränken will, wer die Gleichheit alles dessen, was zahlungsfähig ist, bekämpft, der will aus der kapitalistischen Gesellschaft zu vorkapitalistischen Zuständen zurückkehren, er ist ein Reaktionär, und die Arbeiter, die über den Kapitalismus hinauswollen, können keine Gemeinschaft mit ihm haben. Aber auch abgesehen davon ist es für den Arbeiter gleichgültig, in wessen Händen sich der Hausbesitz befindet, denn er ist an dem Haus, in dem er wohnt, nur als Mieter interessiert, und den geht es sehr wenig an, welcher Nation der Hausagrarier, der ihn ausbeutet, angehört. Übrigens verkaufen auch die besten Deutschen ihre Häuser, wenn sie es mit Vorteil tun können, mit der größten Gemütsruhe an Tschechen. Auch hier sehen wir, daß die wirtschaftlichen Interessen stärker sind als die nationalen Interessen. Die Begeisterung für den heimatlichen Boden kühlt sich ab, sobald er mit Profit losgeschlagen werden kann. Ja, diese Begeisterung ist unter den Hausagrariern so schwach, daß die Begeisterung der anderen der Häuserspekulation ein ergiebiges Feld der Tätigkeit eröffnet hat. Und die deutschen Schutzvereine, zu deren vornehmsten Aufgaben die Erhaltung des deutschen Bodens in deutschen Händen gehört, verfluchen heute nicht nur jene Deutschen, die ihre Häuser statt an sie an Tschechen verkaufen, sondern auch diejenigen, die ihnen durch den Hinweis auf das Vorhandensein generöser tschechischer Käufer die höchsten Preise für ihre Chaluppen abpressen. Das ist die Dialektik des Nationalismus. Er führt sich immer selbst ad absurdum.

Was immer man sich unter dem Recht der Nation auf ihren Boden vorstellen mag, eine Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat stellt die heimatliche Scholle nicht her.

Anmerkungen des Verfassers

(6) Wenn ich von einer Weltsprache rede, so denke ich natürlich nicht an Volapük und Esperanto. Aber der Spott, mit dem man die Vorkämpfer dieser „Weltsprachen“ überhäuft, scheint mir doch übers Ziel zu schießen. Ihr Grundgedanke, daß eine bewußte Sprachentwicklung möglich sein muß, ist richtig. Wenigstens ist nicht einzusehen, warum wir nicht, wie andere gesellschaftliche und natürliche Prozesse, auch die Entwicklung der Sprache sollten bewußt leiten können. Freilich müßten wir, um es zu können, erst hinter das Entwicklungsgesetz der Sprache gekommen sein, und der wesentliche Irrtum der Esperantisten usw. besteht darin, daß sie das nicht begreifen. Sie sind „überspannt“, aber nur so, wie es auch die utopistischen Sozialisten waren.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008