Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Der Nationalcharakter

Zu den höchsten Gütern der Nation rechnen die Nationalen als „Ethiker“ und „Idealisten“ natürlich auch den Nationalcharakter, ja sie erklären ihn für das nationale Gut – alles andere erhält ja, sagen sie, erst als Mittel zur Erhaltung der deutschen „Edelart“ Sinn und Wert. Und nun will es ihr Pech, daß gerade der Nationalcharakter das fragwürdigste aller nationalen Güter ist. Nämlich, er existiert gar nicht.

Was ist denn unter Nationalcharakter zu verstehen? Gewöhnlich definiert man ihn als die Summe aller körperlichen, geistigen und sittlichen Eigenschaften, die allen oder doch den meisten Angehörigen der Nation gemein sind. Angenommen, es gibt einen Nationalcharakter in dieser Bedeutung des Wortes – was sollen wir in der Politik, der er, wenn die Nationalen recht hätten, Ziel und Inhalt geben müßte, mit ihm anfangen? Setzen wir den Fall: alle Deutschen sind blond, und die Blondheit gehört also zum deutschen Nationalcharakter. Was soll es uns? Die Blondheit ist und bleibt für die Politik ganz gleichgültig. Oder: zum deutschen Nationalcharakter rechnet man auch eine Eigenschaft, die die Deutschen selbst Gründlichkeit, die anderen Völker Schwerfälligkeit oder Umständlichkeit nennen. Was soll der Politiker mit ihr machen? Hat man schon je etwas von einer Aktion zur Erhaltung der so viel gerühmten deutschen Gründlichkeit gehört?

Aber das nur nebenbei, denn es ist keine Frage, daß es einen Nationalcharakter in dem Sinne, in dem man das Wort gewöhnlich gebraucht, überhaupt nicht gibt. Keinem Zweifel unterliegt es natürlich, daß die Tendenz zur Entwicklung eines solchen Nationalcharakters immer vorhanden ist. Von den Einflüssen, denen eine Nation ausgesetzt ist, sind wenigstens einige für alle Nationsangehörigen gleich oder doch ähnlich, und Gleiches bewirkt Gleiches, Ähnliches Ähnliches. Aber gewiß ist auch, daß sich die Tendenz zur Bildung eines Nationalcharakters in der bürgerlichen Gesellschaft nur sehr unvollkommen durchsetzen kann, weil ihr da andere Tendenzen entgegenwirken, und zwar umso stärker entgegenwirken, je weiter die Entwicklung des Kapitalismus fortschreitet. Die Spaltung der Nation in Klassen, von denen jede dieselben Ereignisse anders erlebt, anders empfindet, anders wertet, anders verarbeitet, hindert die Entwicklung neuer Nationalcharaktere und zerstört die alten. Dazu kommt, daß der Kapitalismus jede Nation mit fremden Elementen durchsetzt, und zwar jeden Teil der Nation mit anderen: der Elsässer hat andere Eigentümlichkeiten als der Deutschböhme. Nicht zu vergessen, daß auch nicht alle Angehörigen einer Nation unter denselben natürlichen Verhältnissen leben, daß auch die Verschiedenheit des Klimas, der Bodenbeschaffenheit usw. innerhalb der Nation differenzierend wirkt: der Deutsche an der Waterkant und der Deutsche in den Tiroler Bergen sind verschiedene Menschen. Was bleibt unter solchen Umständen vom Nationalcharakter übrig? Man versuche doch einmal, jene Eigenschaften anzugeben, die dem Wiener Kaffeehausliteraten, dem Ostseefischer, dem Finanzmann in Berlin W., dem Reichenberger Weber – die Reihe läßt sich beliebig verlängern – gemein sind. Die Mühe wird umsonst sein. Wenn es aber auch einen Nationalcharakter im gebräuchlichen Sinne des Wortes entweder gar nicht oder nur in Anfängen oder Resten gibt, so kann man doch von einem Charakter des Nationsganzen, einem Nationscharakter sprechen. Man hebt z.B. als unterscheidendes Merkmal der französischen Nation ihren Geist hervor. Das bedeutet aber nicht, wenn es auch oft so aufgefaßt wird, daß alle oder die meisten Franzosen geistreich sind, sondern nur, daß wir im französischen Volke mehr Menschen von Geist finden als bei anderen Völkern, wobei sie aber immer noch eine kleine Minorität des französischen Volkes ausmachen können. Wenn in Deutschland erst jeder tausendste, in Frankreich aber schon jeder hundertste Mensch Esprit besitzt, so werden wir von den Franzosen, obwohl neunundneunzig Prozent, also die erdrückende Majorität, von ihnen nicht geistreich sind, sagen, sie sind ein geistreiches Volk. Durch eine liederliche Logik ist aus diesem Charakter der Nation der typische Charakter der Nationsangehörigen geworden. Man drückt die Ansicht, daß es im französischen Volk mehr geistreiche Menschen gibt als unter anderen Völkern, salopp so aus: die Franzosen sind geistreich. Natürlich kann man dann auch sagen: der Franzose ist geistreich. Im Handumdrehen ist aus dem Nationscharakter, dem Charakter des Nationsganzen, der Nationalcharakter, der gemeinsame Charakter der Nationsangehörigen geworden.

Der Nationscharakter ist veränderlich. Seine Struktur entspricht der sozialen Struktur der Nation, seine Entwicklung ist abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Forderung nach seiner Erhaltung ist also eine Utopie, und zwar eine reaktionäre Utopie. Unsere Nationalen deklamieren so gerne von der deutschen Art – wobei sie allerdings nicht die heutige deutsche Art meinen, sondern eine, die schon der Vergangenheit angehört und nur noch in kümmerlichen Resten in die Gegenwart hineinragt. Sie stellen sich unter dem idealen Deutschen den klassischen Kleinbürger vor, dessen Handwerk noch einen goldenen Boden hatte und der, bei aller Engherzigkeit und Beschränktheit, in seiner Welt ein ganzer Kerl war. Diesen Kleinbürger kostümieren sie à la Siegfried, drücken ihm den Balmung in die Faust, setzen ihn unter bengalische Beleuchtung, und der Deutsche, wie er sein soll, ist fertig. Aber der deutsche Kleinbürger, nicht nur der, den sich unsere Nationalen zurechtgemacht haben, auch der, der wirklich einmal existiert hat, existiert in unserer Welt nicht. Mit dem Verkommen des Handwerks ist natürlich auch die Handwerkerart verkommen. Sie erhalten, oder besser gesagt, zu neuem Leben erwecken zu wollen, heißt: ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen wiederherstellen zu wollen. In der Praxis läuft das hinaus auf die Forderung nach der Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklung durch zünftlerische Schikanen, in der Theorie auf die Forderung nach der Rückkehr zu einer vorkapitalistischen Produktionsweise. Es ist kleinbürgerlich, reaktionär, keineswegs sozialistisch, revolutionär. Wie sollen sich also Proletarier, Sozialdemokraten für die Erhaltung des Nationalcharakters begeistern?

Noch mehr: Wir Sozialdemokraten wollen nicht nur die heutigen Nationscharaktere nicht erhalten, wir arbeiten geradezu an ihrer Zerstörung. Und zwar nicht nur, indem wir ihre sozialen Voraussetzungen, den Kapitalismus und die Reste vorkapitalistischer Produktionsweisen, beseitigen wollen. Wir nehmen die Zerstörung des heutigen Nationscharakters nicht etwa als zwar ungewollte, aber unvermeidliche Folge unserer revolutionären Aktion mit in den Kauf. Wir arbeiten bewußt und mit Absicht an ihr. Was bedeutet denn der Satz: die Sozialdemokratie will das Proletariat erziehen? Nichts anderes als daß die Sozialdemokratie jedes Landes die spezifischen Unzulänglichkeiten und Laster ihres Proletariats bekämpft. Und da die Schwächen und Fehler des deutschen, tschechischen, italienischen Proletariats zum deutschen, tschechischen, italienischen Nationscharakter gehören, so bedeutet das Ankämpfen gegen sie das bewußte Arbeiten an der Ummodelung des deutschen, tschechischer, italienischen Nationscharakters.

Aber wir arbeiten auch noch in einer anderen Richtung an der Änderung des Nationscharakters. Nicht nur durch die Erziehung des deutschen Proletariats verändert die Sozialdemokratie den deutschen Nationscharakter, sie wirkt auch auf die anderen Klassen der deutschen Nation. Freilich nicht erzieherisch, wie auf die Arbeiterklasse, sondern auf ganz andere Art. Vor zwanzig Jahren hat man in unseren Versammlungen allerdings noch oft die Redensart gehört: Wir müssen unsere Gegner zur Vernunft und zur Anständigkeit erziehen. Dieser Satz war ein Nachhall der utopistischen Auffassung, daß die sozialistische Gesellschaft das Werk der Edlen und Einsichtigen sein werde. Viele Genossen glaubten damals noch den Sozialismus rascher durchsetzen zu können, wenn es ihnen gelänge, die Gegner „aufzuklären“ und zu „bessern“. Wir sind aber von dieser Auffassung ganz abgekommen. Heute weiß jeder Sozialdemokrat, daß keine Klasse einen Selbstmord begeht und daß es darum unmöglich ist, die an der Erhaltung der Privateigentumsgesellschaft interessierten Klassen zur „Vernunft“ und zur „Anständigkeit“ zu erziehen(7), weil eben für sie etwas anderes vernünftig und anständig ist, als für uns. Wir haben erkannt, daß wir einen ganz anderen Einfluß als einen pädagogischen auf die Gegner nehmen müssen. Wir wissen, daß im Klassenkampf, wie im Krieg, sehr viel darauf ankommt, den Feind zu demoralisieren, und wir wirken auch Tag für Tag demoralisierend auf die Feinde der Arbeiterklasse ein. Nicht in dem Sinne natürlich, daß wir sie schlecht, feig, brutal machen wollen. Wir beweisen, daß die Argumente, mit denen sie die bürgerliche Gesellschaftsordnung verteidigen, nicht stichhaltig sind. Sie müssen dazu schweigen oder mit Lügen antworten –in jedem Fall verlieren sie ihr gutes Gewissen. Wir zeigen den Widerspruch zwischen ihren Theorien und ihrer Praxis auf, und sie müssen wieder schweigen oder wieder lügen. Jede Niederlage im wirtschaftlichen Kampfe demütigt sie, jede Wahlschlacht, die sie verlieren, schwächt ihr Selbstbewußtsein. Der unaufhaltsame Aufstieg des Proletariats macht sie unsicher. Sie werden an sich irre, sie verkommen. Aus den auf ihr Recht und ihre Macht stolzen Herren werden brutale Feiglinge. Auch dadurch ändert das kämpfende Proletariat die Nationscharaktere.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Wenn wir durch die Erziehung des deutschen Proletariats und durch die Demoralisierung seiner Ausbeuter und Unterdrücker bewußt an der Änderung des deutschen Nationscharakters arbeiten, so tun wir das selbstverständlich nicht aus irgendwelchen nationalen Gründen, sondern nur aus proletarisch-sozialistischen. Die Erziehung des deutschen Proletariats durch die Sozialdemokratie hat auch nicht bloß eine nationale, sondern eine internationale Bedeutung. Nicht bloß weil unter den deutschen Arbeitern soundso viele nichtdeutsche Proletarier leben. Auch wenn im deutschen Sprachgebiet kein einziger nichtdeutscher Arbeiter wäre, würde jede Hebung des deutschen Proletarierbewußtseins eine Hebung des Proletarierbewußtseins überhaupt sein. Und natürlich ändert jeder Sieg des russischen, französischen, englischen Proletariats auch den deutschen Nationscharakter, indem er den deutschen Proletarier aufrichtet und den deutschen Spießbürger niederdrückt.

Hinter der Forderung der Nationalen nach der Erhaltung des Nationalcharakters verbirgt sich - ganz genauso, wie hinter der Forderung der Klerikalen nach der Erhaltung der christlichen Moral – nur der Wunsch der herrschenden Klassen, nach wie vor ihre „Herrentugenden “ betätigen zu können und dem Proletariat die Sklavenlaster, die Anspruchslosigkeit, die Unterwürfigkeit (die die Nationalen deutsche, die Klerikalen christliche Tugenden nennen) zu erhalten, das heißt den wirtschaftlichen und politischen Status quo, das kapitalistische Eigentum und den bürgerlichen Staat, zu konservieren.
Auch der Nationscharakter stellt keine Interessengemeinschaft zwischen Bourgeoisie und Proletariat her, auch an ihm haben diese beiden Klassen entgegengesetzte Interessen, auch er ist ein Objekt des Klassenkampfes.

Anmerkungen des Verfassers

(7) In einem sehr bescheidenen Sinne kann von einer Erziehung der Kapitalistenklasse durch die Arbeiter gesprochen werden. Die Arbeiter können es dahin bringen, daß die Unternehmer gewisse Forderungen bewilligen, ohne es auf einen Kampf ankommen zu lassen: wenn sich z.B. der Arbeiter, weil eine starke Organisation hinter ihm steht, eine unanständige Behandlung nicht gefallen lassen muß, so sieht der Fabrikant ein, daß auch der Arbeiter ein Mensch ist. Aber diese Einsicht ist Einsicht nicht in die Bedürfnisse, sondern in die Macht des Proletariats, und die Arbeiter haben sie den Kapitalisten beigebracht, nicht indem sie ihnen von der Schönheit der sozialistischen Idee vorschwärmten, sondern durch den Klassenkampf; nicht durch die Stärke ihrer Argumente, sondern durch das Argument ihrer Stärke.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008