Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Die nationale Autonomie

Nach der Meinung vieler Genossen ist die nationale Autonomie berufen, dem Nationalitätenstreit ein Ende zu machen und den Völkerfrieden herbeizuführen. Diese Auffassung ist aber ebenso falsch wie der Glaube an die Allmacht des Parlamentarismus, an die Möglichkeit der Durchsetzung unserer letzten Forderungen in den bürgerlichen Parlamenten. Warum also verlangen wir die nationale Autonomie?

Eine Vorfrage: Was ist nationale Autonomie? Wenn die Separatisten dieses Wort gebrauchen, so meinen sie die völlige Souveränität der tschechoslawischen „Sozialdemokratie“. Das ist aber ein Doppelmißverständnis, denn es gibt außer den Separatisten auch noch einige andere Tschechen und Souveränität ist nicht dasselbe wie Autonomie. Die Souveränität, die Selbstherrlichkeit, die die Separatisten für sich verlangen, ist mit dem Sozialismus überhaupt nicht vereinbar. Der Sozialist kennt nur eine Souveränität: die der Gesamtheit. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß die sozialistische Gesellschaft in souveräne nationale Gruppen zerfallen wird, dagegen haben wir die triftigsten Gründe zu der Annahme, daß in der sozialistischen Gesellschaft, auch solange sie aus verschiedenen Völkern bestehen wird, nicht die Nation, sondern der Bund der Nationen die höchste Instanz sein wird: nicht alle Teile der Erde sind von derselben Beschaffenheit, wir haben nicht überall dieselben Tiere, dieselben Pflanzen, dieselben Kohlen- und Erzlager usw., und schon das drängt zur Schaffung eines einzigen großen Wirtschaftsgebietes. Wir wollen aber zugeben, daß es sich da um eine Frage handelt, die wir uns noch reiflich überlegen können. Keine Frage aber ist es, daß wir heute in der sozialdemokratischen Partei keiner Gruppe eine Autonomie nach dem Geschmack der Separatisten, d.h. die völlige Selbständigkeit gewähren können, wenn wir nicht einen Selbstmord begehen wollen. Gegenüber dem Kapitalismus haben alle Arbeiter dasselbe Interesse, und darum müssen alle proletarischen Kräfte zu einer einheitlichen Aktion zusammengefaßt werden. Das ist aber nur möglich in einer einheitlichen Partei, und die nationale Autonomie, die der Separatismus meint, ist darum ein Unding. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß wir jede Autonomie in der Partei verwerfen. Wie jede Organisation, jeder einzelne Vertrauensmann einer gewissen Selbständigkeit bedarf, so kann auch den nationalen Gruppen der Partei eine gewisse Autonomie, d.h. die Selbstverwaltung innerhalb der durch die Gesamtpartei im Interesse der Gesamtpartei gezogenen Grenzen nötig sein. Wie weit diese Autonomie gehen darf, darüber später. Vorher ein paar Worte über die nationale Autonomie im Staate. Warum verlangen wir sie, da sie doch nichts spezifisch Sozialistisches ist und auch, wie gesagt, keineswegs die Lösung der nationalen Frage bedeutet?

Wir müssen wiederholen: Der Sozialismus an der Macht ist etwas anderes als der Sozialismus in der Opposition, die sich selbst regierende kollektivistische Gesellschaft etwas anderes als das in der bürgerlichen Gesellschaft um die Macht ringende Proletariat. Wenn wir von dieser bürgerlichen Gesellschaft die nationale Autonomie fordern, so bedeutet das noch nicht, daß wir in der sozialistischen Gesellschaft den Nationen Autonomie gewähren werden. Wir verlangen vom heutigen Staat sehr viele Dinge, für die wir uns nach der Sozialisierung der Produktionsmittel sehr energisch bedanken würden. Z.B.: Wir verlangen heute die Einführung der obligatorischen Zivilehe, damit ist aber über die Frage, ob wir in der sozialistischen Gesellschaft auf dem Standesamt heiraten werden, noch gar nichts gesagt. Oder: Wir verlangen, daß der Unternehmer ins Loch wandert, wenn er ein Arbeiterschutzgesetz gröblich verletzt hat. Darf man daraus folgern, daß es in der sozialistischen Gesellschaft Zuchthäuser geben wird? Und solcher Beispiele ließen sich hundert und aberhundert anführen. Die Forderungen, die wir an die heutige Gesellschaft richten, sind nicht sozialistisch in dem Sinne, daß ihre Erfüllung uns schon ans Ziel führt, sondern nur in dem Sinne, daß sie die gesellschaftliche Entwicklung auf dem Wege zu unserem Ziel vorwärts treibt. Und auch nur in diesem Sinne ist die Forderung nach der nationalen Autonomie sozialistisch. Aber wieso? Kann uns die nationale Autonomie, wenn sie uns schon selbst kein Ziel ist, doch unseren Zielen näherbringen?

Ich muß mir hier eine kleine Abschweifung von unserem Thema erlauben. Wie stellen wir uns zu Religion und Kirche? Wie uns unsere Gegner des Verrats an unserer Nation bezichtigen, so machen sie uns auch den Vorwurf, daß wir die Religion „abschaffen“ wollen. Das ist natürlich Unsinn. Aber nicht, weil es absolut falsch wäre, sondern weil es einen geschichtlichen Vorgang, der aus der bürgerlichen Welt hinausführt und darum über den bürgerlichen Horizont geht, in die Enge der bürgerlichen Weltanschauung zwängen will. In einer sozialistischen Gesellschaft ist, wenn Marx recht hat, für Religion und Kirche kein Platz; es fehlten dort die Voraussetzungen für die Erhaltung der alten und für die Entstehung neuer Religionen und Kirchen. Gerade aber weil wir wissen, daß Religion und Kirche soziale Ursachen haben, können wir, solange diese Ursachen noch wirken, die Religion unmöglich abschaffen wollen. Dennoch bereiten wir ihren Untergang vor, weil wir ihr – selbstverständlich nicht als werktätige Atheisten, sondern als Sozialisten – den Boden abgraben (und abgraben müssen), auf dem allein sie gedeihen kann. Es nützt der Religion nichts, daß wir nicht daran denken, sie abzuschaffen – ihr Untergang würde sich auch als ungewollte und unvorhergesehene Folge der Sozialisierung der Produktionsmittel und der damit verbundenen Aufhebung aller Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen einstellen. Andererseits würde es sie nicht schädigen, wenn wir sie mit den Freidenkern (die zur Religion ein rationalistisches, also unrationelles Verhältnis haben wie Hartmann zur Nation) abschaffen wollten, denn sie kann nicht um einen Tag früher verschwinden als ihre sozialen Voraussetzungen. Die Einsicht in diesen Sachverhalt kommt in unserem Programm klar zum Ausdruck. Wir fordern vom Staat die Erklärung der Religion zur Privatsache, das heißt: das Proletariat, das berufen ist, eine gesellschaftliche Umwälzung zu vollziehen, die der Religion den Nährboden nehmen muß, fordert die vollkommenste Religionsfreiheit, die religiöse Autonomie. Ist das nicht ein schreiender Widerspruch? Einen solchen muß jeder annehmen, der in der bürgerlichen Denkweise befangen ist; auch der Sozialist, der nicht dialektisch denkt, wird unsere Stellung zur Religion mißverstehen. Beweis dessen die wunderlichen Auslegungen, die sich der Satz: Erklärung der Religion zur Privatsache, schon hat gefallen lassen müssen. Der Schein des Widerspruchs muß für jeden entstehen, der rationalistisch denkt, der also die Menschen für logische Automaten hält und darum nicht weiß, daß ein Ding noch lange nicht abgetan ist, wenn er beweisen kann oder beweisen zu können glaubt, daß es „unvernünftig“ ist, das heißt, wenn es sein allerhöchstes Mißfallen erregt; daß wir die Dinge nicht willkürlich machen können, weil jedes Ding das Resultat eines Prozesses ist, und das Resultat ohne den Prozeß, die Wirkung ohne die Ursachen, nicht zu haben ist.

Unser Verhältnis zur Nation ist dem zu Religion und Kirche in gewisser Beziehung analog. Es ist zunächst gleichgültig, ob wir die Nation wegen ihrer Vorzüge lieben oder ob sie uns vielleicht wegen ihrer Beschränktheiten zuwider ist. Es gilt nicht, der Nation eine Zensur zu erteilen, auf daß sie sich bessere, wir müssen ihr Entwicklungsgesetz suchen. Haben wir dieses gefunden, so wissen wir, daß die Nationen, wie die Religionen und Kirchen, gesellschaftliche Erscheinungen sind, daß sie in der bürgerlichen Gesellschaft verschiedene Wandlungen durchgemacht haben und den Kapitalismus in ihrer heutigen Gestalt nicht überdauern werden. Die Nation muß sich weiterentwickeln. Man mag sich nun diese Entwicklung vorstellen wie Otto Bauer, der glaubt, daß sich die Nationen in der sozialistischen Gesellschaft erst recht differenzieren werden, oder mit anderen Sozialisten annehmen, daß der Kollektivismus uns die Einheitssprache bringen wird; in jedem Fall nehmen wir an, daß die sozialistische Produktionsweise die Nationen verändern wird, daß sich die künftige Menschheit auch national von der heutigen ebensosehr unterscheiden wird wie der Kollektivismus vom Kapitalismus. Und wir arbeiten, wie gesagt, bewußt und mit Absicht an der Veränderung der Nation. Wir wollen aus den Deutschen etwas Undeutsches oder meinetwegen Überdeutsches machen. Wen Wortspielereien zu ergötzen vermögen, der mag mit Nietzsche sagen: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ Wer sich aber nicht in dieser Lage befindet, für den hat das Wort: „Wir sind gute Deutsche“ jeden Sinn verloren. Vielleicht wird jemand einwenden wollen: Just weil wir die nationale Autonomie fordern, sind wir gute Deutsche, gute Tschechen usw., denn kann man als Sozialist für die Nation noch mehr verlangen als die Autonomie? Worauf zu erwidern wäre: Wir verlangen auch die religiöse Autonomie, sind wir deswegen gute Katholiken, Lutheraner oder Juden? Die Forderung nach der religiösen Autonomie bedeutet keine Konzession an die religiös Gesinnten, nicht einmal die Toleranz gegen Andersdenkende oder religiösen Indifferentismus; sie bedeutet natürlich noch weniger, daß wir die Religionen erhalten oder gar ihre Macht befestigen wollen. Die religiöse Autonomie gibt der Religion nur, was sie kraft ihrer Tatsächlichkeit beanspruchen kann, sie ist nur die Anerkennung dieser Tatsächlichkeit. Sie gibt den Kirchen die Möglichkeit der Selbstbestimmung, aber sie nimmt ihnen zugleich die Möglichkeit, als Kirche zu herrschen. Genauso verhält es sich mit der nationalen Autonomie. Sie bedeutet nicht nur das Recht der nationalen Selbstbestimmung, sondern auch und vor allem die Aufhebung aller Herrschaft, die sich auf einen nationalen Titel stützt. Die Autonomie läßt den Kirchen und Nationen nur den Platz, der ihnen vermöge ihrer Realität eingeräumt werden muß, wenn sie nicht im gesellschaftlichen Leben die schwersten Störungen hervorrufen, insbesondere auf das im Klassenkampf stehende Proletariat hemmend und verwirrend einwirken sollen – den Platz, den sie brauchen, nicht um sich zu erhalten, sondern um sich auszuleben. Wenn die vorstehenden Ausführungen richtig sind, so ist ohne weiteres klar, daß der Versuch, die nationale „Gliederung“ unserer Organisationen als eine selbstverständliche Konsequenz des Prinzips der nationalen Autonomie hinzustellen, auf einem grotesken Mißverständnis beruht. In den Gewerkschaften gibt es auch, abgesehen von den Separatisten, keinen Menschen, der das bestreiten würde. Die nationale Autonomie in der politischen Organisation dagegen verteidigen auch Genossen, die des Separatismus gänzlich unverdächtig sind. Sie erklären: „Wir müssen innerhalb der Partei nationale Autonomie gewähren, weil wir sie im Staate verlangen“. Aber wir verlangen vom Staate auch die religiöse Autonomie, dennoch ist es uns darum noch nie eingefallen, uns in der Partei nach Religionsbekenntnissen zu sondern. Also ist auch unsere Forderung nach nationaler Autonomie im Staate kein Grund, die nationale Autonomie in der Partei zu verwirklichen.

In seinem Buche über die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie hat Genosse Otto Bauer die Notwendigkeit der nationalen Gliederung unserer politischen Organisationen mit einigen anderen Argumenten zu beweisen versucht. Vor allem verweist er auf die Bedürfnisse der Agitation: die Partei „muß zu den Arbeitern jeder Nation in der Versammlung, in der Presse, in der Organisation in ihrer Sprache sprechen. So braucht sie für die Arbeiter jedes Volkes besondere Redner, besondere Agitatoren, besondere Schriftsteller. Dadurch gliedert sich der Körper der Partei naturgemäß in sprachliche, also national differenzierte Gruppen“. Wort für Wort dasselbe könnte aber auch von den Gewerkschaften behauptet werden. Entweder müßte also auch die Gewerkschaftsorganisation in nationale Gruppen zerrissen werden, oder die sprachliche Verschiedenheit ist auch in der Partei kein Grund zu nationaler „Differenzierung“, zur Zertrümmerung der einheitlichen Organisation.

Genosse Bauer fährt fort: „Wenn auch die gesamte Arbeiterklasse mit gleichen Mitteln zu gleichem Ziele strebt, so stehen doch die Arbeiter der verschiedenen Nationen verschiedenen Parteien gegenüber. Dadurch sind den Arbeitern der verschiedenen Nationen auch verschiedene Kampfaufgaben gestellt“. Wenn das ein Grund zur Zerstörung der einheitlichen internationalen politischen Organisation ist, so dürfen auch die Arbeiter einer Nation nicht in einer Partei vereinigt sein. Die deutschen Arbeiter haben im Sudetengebiet andere Gegner zu bekämpfen als in den Alpenländern. Hat es jemals auf die Kämpfe, die sie zu führen hatten, nachteilig eingewirkt, daß sie derselben Partei angehören?

Am wichtigsten aber erscheint dem Genossen Bauer folgender Grund für die nationale Gliederung der Partei: „Der Sozialismus tritt bei jeder Nation, von der er aufgenommen wird, zu den überlieferten Ideologien der Nation in Gegensatz und wird gerade durch den Kampf mit ihnen zur ganzen Geschichte der Nation in Beziehung gesetzt. Daher ist die sozialistische Gedankenwelt der Deutschen bei aller Übereinstimmung doch im Einzelnen verschieden von der Gedankenwelt der polnischen oder der italienischen Genossen“. Das ist richtig, aber auch die Gedankenwelt des deutschen Holzhauers und des deutschen Bauernknechts ist eine ganz andere als die des deutschen Fabrikarbeiters, ja man darf wohl behaupten, daß sich das geistige Leben des deutschen Industrieproletariers von dem des deutschen Landarbeiters in vielen Beziehungen stärker unterscheidet als von dem des tschechischen Industrieproletariers. Noch mehr. „Ihren Gedanken, ihren Stimmungen, ihrem Temperament nach“ sind die deutschen Schmiede den deutschen Webern, die deutschen Maurer den deutschen Mechanikern weniger ähnlich als ihren tschechischen Berufsgenossen. Nichtsdestoweniger haben alle deutschen Arbeiter in einer Partei Platz, warum sollen gerade die nationalen Unterschiede die Arbeiterpartei in mehrere Parteien zerreißen dürfen?

In dem einen Punkt haben die Separatisten recht: Wenn die Zerreißung der österreichischen Sozialdemokratie in mehrere nationale Parteien ein Fortschritt war, dann ist nicht einzusehen, warum nicht neben der Wiener Gewerkschaftskommission die Prager Kommission als vollkommen ebenbürtige Körperschaft stehen soll. Der gewerkschaftliche Separatismus ist nur eine Konsequenz des politischen, logisch und auch historisch. Denn es ist nicht richtig, daß der Separatismus seinen Reformeifer ursprünglich auf die Gewerkschaften beschränkt und erst später die politische Organisation in den Bereich seiner segensreichen Tätigkeit gezogen hat. Die Dinge liegen gerade umgekehrt. Seinen ersten Triumph hat der Separatismus auf dem Wimberger Parteitag 1897 gefeiert, die Gliederung der österreichischen Sozialdemokratie in nationale Gruppen war seine erste Großtat.

Freilich wurde das damals nicht erkannt. Auch Genossen, die über den Verdacht nationalistischer Neigungen erhaben sind, haben die nationale Gliederung der Partei für einen Fortschritt gehalten. Wie es möglich war, daß der gewerkschaftliche Separatismus sofort als solcher erkannt und bekämpft wurde, der politische aber nicht? Dieser Unterschied erklärt sich daraus, daß die Aufgaben der politischen Organisation viel komplizierter sind als die der Gewerkschaft. Ob eine bestimmte Taktik, eine bestimmte Organisationsform zweckmäßig ist oder nicht, muß in der Gewerkschaft viel früher offenbar werden als in der politischen Organisation, denn es handelt sich in der Gewerkschaft um viel einfachere, klarere Verhältnisse. Das Übergehen der Tschechoslawen von der zentralistischen zur separatistischen Gewerkschaftsorganisation muß zur Folge haben, daß sie nicht die kleinste Lohnerhöhung, nicht die unbedeutendste Arbeitszeitverkürzung durchsetzen können, und daß infolgedessen ihre „Gewerkschaften“ die Arbeiter nicht anziehen. Das ist ein klarer Mißerfolg, und die Separatisten können das vor Leuten, deren Gehirne der Nationalismus noch nicht vollständig verwüstet hat, unmöglich in einen Erfolg umdichten. Nicht so einfach liegen die Dinge in der Politik. Da ist die Möglichkeit von Scheinerfolgen viel größer als auf wirtschaftlichem Gebiet. Zum Beispiel: Die Separatisten können behaupten, daß sie ohne die Bewegungsfreiheit, die sie der nationalen Gliederung der Partei verdanken, den großen Wahlsieg im Jahre 1907 nicht hätten erringen können. Dieses Argument der Notwendigkeit der nationalen Selbständigkeit macht gewiß einen großen Eindruck auf viele Genossen. Vor allem natürlich auf jene, die der Meinung sind, daß die Macht unserer Partei von der Anzahl ihrer Mandate abhängt, und daß es gleichgültig ist, wie man die Mandate bekommt; aber auch auf andere: ein großer Wahlsieg kann ja auch aus dem Erstarken der Organisation zu erklären sein. Freilich kann er auch andere Ursachen haben: Es ist möglich, daß viele sozialdemokratische Stimmen von Mitläufern herrühren, denen die Partei sympathisch ist, nicht weil sie sich in ihren Anschauungen dem Sozialismus nähern, sondern weil sich die Partei vom Sozialismus entfernt, indem sie z.B. dem Nationalismus Konzessionen macht. Wahlziffern lassen immer verschiedene Deutungen zu, und die richtige findet auch der gründlichste Kenner aller in Betracht kommenden Verhältnisse nicht in jedem Falle sofort. Auch er kann für einen ersten Erfolg halten, was sich nach einigen Jahren als Scheinsieg erweist. Es gibt auch in der Politik Arsenik-Esser-Erfolge. Eine Partei kann sich scheinbar kräftig entwickeln, während sie in Wirklichkeit dem Verfall zutreibt. Der Separatismus hat es uns gezeigt. Es dauert in einem solchen Falle natürlich immer ein Weilchen, bis der wahre Sachverhalt erkannt wird. In der Politik haben wir eben mit viel verwickeiteren Verhältnissen zu tun als in der Gewerkschaft.

Und so wird der Separatismus wohl noch eine geraume Zeit sein Unwesen treiben können, in der gewerkschaftlichen und erst recht in der politischen Organisation. Aber schließlich werden wir doch zu der Auffassung zurückkehren müssen, daß die nationale Autonomie in der Parteiorganisation, wie wir sie seit dem Wimberger Parteitag haben, ein Unding ist.

Damit wollen wir keineswegs sagen, daß die Umstände, auf die Bauer hinweist, um die nationale Gliederung der Partei zu rechtfertigen, gleichgültig sind. Die Partei muß ihnen vollkommen Rechnung tragen, sie muß den Genossen jeder Nation die für die Propaganda notwendige Bewegungsfreiheit gewähren. Aber das ist möglich auch innerhalb einer einheitlichen, geschlossenen Partei. Die Zerreißung der Partei in autonome nationale Gruppen hat ihr den schwersten Schaden zugefügt, und sie wird uns noch viel mehr schädigen, wenn wir nicht den Weg einschlagen, der zur Einheit der Organisation führt. Nur in einer straff zentralisierten internationalen Organisation ist auf die Dauer eine Politik des Internationalismus möglich.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008