Leo Trotzki

 

Der junge Lenin


Unter dem Deckmantel der Reaktion

Das Regime Alexanders III. hatte seinen Höhepunkt erreicht. Das 1889 erlassene Gesetz über die Landeshauptleute stellte die administrative Macht und Gerichtsbarkeit der örtlichen Adeligen über die Bauern wieder her. So wie die Gutsherren vor der Reform erhielten die neuen Hauptleute das Recht, nach eigenem Gutdünken einen Bauern nicht nur verhaften, sondern auch auspeitschen zu lassen. Die ländliche Gegenreform des Jahres 1890 gab endgültig die örtliche Selbstverwaltung in die Hände des Adels. Gewiß, schon die Landordnung von 1864 hatte durch den Boden-Zensus hinreichend die Herrschaft der Gutsherrn über die Selbstverwaltung gesichert. Aber da der Boden den Händen des Adelsstandes entglitten war, mußte der Besitz-Zensus durch einen Standes-Zensus ergänzt werden. Die Bürokratie gewann eine Macht, wie sie sie nur beim Väterchen Nikolaj Palkin (Prügel-Nikolaj) seligen Angedenkens gehabt hatte. Die immer seltener werdende revolutionäre Propaganda wurde jetzt allerdings weniger streng bestraft als unter dem „Befreier-Zaren“, gewöhnlich mit einigen Jahren Kerker oder Verbannung; Zwangsarbeit und Galgen blieben nur den Terroristen vorbehalten. Dafür wurden für die Verbannung besonders mörderische Gegenden ausgewählt. Die bestialischen Mißhandlungen gefangener Revolutionäre bei jeder Äußerung des Protestes fanden die persönliche Billigung des Zaren. Im März 1889 wurden fünfunddreißig Verbannte, die sich in Jakutsk in einem Haus eingeschlossen hatten, mit Gewehrsalven beschossen: sechs wurden getötet, neun verwundet, drei hingerichtet, die übrigen zur Zwangsarbeit geschickt. Im November desselben Jahres wurde die Zwangsarbeiterin Sigida wegen Beleidigung des Gefängniskommandanten zu hundert Stockschlägen verurteilt und starb einen Tag später; dreißig Zwangsarbeiter nahmen aus Protest Gift; fünf starben auf der Stelle. Aber die Isolierung der revolutionären Zirkel, die in einem Meer der Gleichgültigkeit untergingen, war so groß geworden, daß die blutigen Sanktionen nicht nur auf keine aktive Abwehr stießen, sondern auch lange Zeit unbekannt blieben. So drang die Kunde von den Tragödien in Jakutsk und an der Kara wohl kaum früher als nach einem Jahr zu Wladimir Uljanow, der damals in Samara lebte.

Nach der Zerschlagung der Universitäten erreichte die Stimmung der studierenden Jugend einen Tiefpunkt. Es gab keinen einzigen Versuch, die Vergewaltigung durch die Regierung mit Terror zu beantworten. Der Fall vom 1. März 1887 blieb die letzte Konvulsion der Narodowolzen-Periode. „Der Mut von Menschen wie Uljanow und seinen Genossen“, schrieb im Ausland Plechanow, „erinnert mich an den Mut der alten Stoiker ... Ihr früher Tod war nur geeignet, die Kraftlosigkeit und Morschheit der sie umgebenden Gesellschaft ins rechte Licht zu rücken ... Ihr Mut ist der Mut der Verzweiflung.“ 1888 war das schwärzeste Jahr dieser düsteren Periode. „Der Anschlag von 1887“, schreibt der Petersburger Student Brussnjow, „löschte alle Funken des studentischen Freiheitsstrebens Sie alle fürchteten einer den anderen und jeder überhaupt alle.“ „Die gesellschaftliche Reaktion erreichte ihren Höhepunkt“, erinnerte sich der Moskauer Student Mitzkjewitsch, „weder vorher noch nachher gab es ein so finsteres Jahr ... Ich habe in Moskau überhaupt kein illegales Material gesehen.“ Verrat, Treulosigkeit, Abfall lösten einander in häßlicher Folge ab. Der Führer und Theoretiker der „Narodnaja Wolja“, Lew Tichomirow, der vor fünf Jahren die Machtergreifung für die sofortige sozialistische Revolution verkündet hatte, erklärte sich 1888 als Anhänger der Selbstherrschaft des Zaren und gab in der Emigration ein Pamphlet heraus Warum ich aufgehört habe, Revolutionär zu sein. Die Hoffnungslosigkeit trieb Hunderte und Tausende ehemahlier Ketzer zur Vereinigung – diesmal schon nicht mehr mit dem Volk sondern mit den besitzenden Klassen und der Bürokratie. Die unmittelbar vor seinem Tod geschriebene Strophe Nadsons „Nein. ich glaube nicht mehr an euer Ideal“, klang als Bekenntnis der ganzen Generation. Weniger Elastische hängten sich auf oder erschossen sich. Tschechow schrieb an den Schriftsteller Grigorowitseh über die Selbstmorde junger Menschen: „Einerseits ... der leidenschaftliche Hunger nach Leben und Wahrheit, der Traum eines Wirkens, weit wie die Steppe ...; anderseits die unermeßliche Ebene, das rauhe Klima das graue rauhe Volk mit seiner schweren kalten Geschichte, das Tatarentum, der Bürokratismus, die Armut, die Unbildung ... Das russische Leben schlägt den russischen Menschen ... wie ein tausend Pud schwerer Stein“

Ganz zu Beginn dieses in Nebel der Reaktion gehüllten Jahrzehnts vollzog sich jedoch ein gewaltiges politisches Ereignis: die russische Sozialdemokratie wurde geboren. In den ersten Jahren vegetierte sie allerdings fast ausschließlich in Genf und Zürich und schien eine entwurzelte Sekte zu sein, deren Anhänger man an den Fingern beider Hände zählen konnte. Die Bekanntschaft mit ihrem Stammbaum wird uns jedoch zeigen, daß die Sozialdemokratie ein organisches Entwicklungsprodukt in Rußland war und daß Wladimir Uljanow nicht zufällig Anfang der neunziger Jahre sein Leben mit dem Leben dieser Partei verband.

Von Hippolyt Myschkin, dem Hauptangeklagten im „Prozeß der 193“, haben wir gehört, daß die revolutionären Aktionen der Intelligenz Ausdruck – richtiger wäre zu sagen: indirekte Widerspiegelung – der Unruhen der Bauernschaft waren. Tatsächlich – hätte es im alten Rußland keine revolutionären Probleme der Bauern gegeben, die periodisch bald zu Hungersnot und Epidemien, bald zu spontanen Meutereien führten – hätte auch keine revolutionäre Intelligenz mit ihrem Heroismus und ihren utopischen Programmen existiert. Das Land der Zaren ging mit der Revolution schwanger, deren soziale Basis der Widerspruch zwischen den Überresten des Feudalismus und den Erfordernissen der kapitalistischen Entwicklung war; die Verschwörungen und Attentate der Intelligenz waren nur die ersten Geburtswehen der bürgerlichen Revolution. Doch wenn die Befreiung der Bauernschaft ihre nächste Aufgabe war, dann sollte das Proletariat ihre entscheidende Kraft werden. Und schon bei den ersten Schritten der revolutionären Geschichte Rußlands kann man die unmittelbare und offenkundige Abhängigkeit der revolutionären Aktionen der Intelligenz von den Bewegungen der Industriearbeiter feststellen.

Die durch die Bauernreform des Jahres 1861 im Lande hervorgerufene allgemeine Erregung äußerte sich in den Städten in Arbeiterstreiks, die die Unzufriedenheit des „Volkes“ bestätigten und den ersten revolutionären Zirkeln Mut machten. Das Geburtsjahr Lenins zeichnete sich durch die ersten großen Streiks in Petersburg aus. Wir wollen diese Koinzidenz nicht als mystisches Vorzeichen betrachten. Aber welch eigenartigen Akzent erhalten in diesem Zusammenhang die Worte Marxens im Aufruf an die Mitglieder der russischen Sektion der Ersten Internationale im selben Jahr 1870: „Euer Land beginnt ebenfalls teilzunehmen an der allgemeinen Bewegung unseres Jahrhunderts!“ In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nahmen schon Hunderte Arbeiter an der revolutionären Bewegung teil. Freilich suchten sie sich, entsprechend der herrschenden Theorie, selbst als zeitweilig von der Scholle gerissene Angehörige der Dorfgemeinschaft zu betrachten. Aber die fortschrittlichen Arbeiter, die auf die bauernfreundliche Propaganda, für die die Bauern selbst taub blieben, aktiv reagierten, gaben ihr eine Auslegung, die ihrer eigenen sozialen Lage entsprach und nicht selten die Vormünder aus den Reihen der Intelligenz erschreckte. Die verlorenen Söhne der Volkstümlerbewegung gründeten in den Städten, im Norden und im Süden, die ersten proletarischen Organisationen, erhoben die Forderung nach Streik-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit und Einberufung einer Volksvertretung und gaben den spontanen Unruhen der Industriearbeiter den Stempel ihres Einflusses.

Die Petersburger Streiks der Jahre 1878/79, die nach dem Zeugnis Plechanows, der Augenzeuge dieser Ereignisse und an ihnen beteiligt war, „zum Ereignis des Tages wurden – für sie interessierte sich so gut wie die ganze Intelligenz und das denkende Petersburg“, erhitzten sehr die Gemüter der revolutionären Kreise und gingen unmittelbar dem Übergang der Narodniki zum terroristischen Kampf voraus. Die Narodwolzen ihrerseits beschäftigten sich inzwischen auf der Suche nach Kampfreserven mit der Propaganda unter den Arbeitern. Wenn sich die revolutionären Bewegungen auf den beiden sozialen Ebenen – Intelligenz und Proletariat – auch in engem Zusammenhang entwickelten, so hatte doch jede von ihnen ihre eigene besondere Logik. Als die „Narodnaja Wolja“ selbst schon vollständig zerschlagen war, bestanden die von ihren Mitgliedern gegründeten Arbeiterzirkel weiter, vor allem in der Provinz. Aber die Volkstümlerideen, wenn auch von den Arbeitern auf ihre Weise modifiziert, hinderten diese noch lange daran, den richtigen Weg zu beschreiten.

Der marxistische Kampf mit diesen eigenartigen Anschauungen wurde vor allem dadurch erschwert, daß die Narodniki selbst Marx durchaus nicht feindlich gegenüberstanden. Infolge eines großen theoretischen Mißverständnisses, das seine historischen Wurzeln hatte, betrachteten sie ihn aufrichtig als einen ihrer Lehrer. Die von Bakunin begonnene und von Narodnik Danielson fortgesetzte russische Übersetzung des Kapital erschien 1872, wurde von den radikalen Kreisen mit Begeisterung begrüßt und sofort in 3.000 Exemplaren verbreitet. Eine zweite Auflage wurde von der Zensur nicht zugelassen. Der äußere Erfolg des Buches beruhte jedoch auf einem inneren Mißerfolg der Doktrin. Die wissenschaftliche Analyse des kapitalistischen Systems wurde von der Intelligenz – von den Bakunisten ebenso wie von den Lawristen –, als Entlarvung der Sünden Westeuropas und als Warnung vor einem falschen Weg aufgefaßt. Das Exekutivkomitee der „Narodnaja Wolja“ schrieb 1880 an Marx: „Bürger! Die intelligente und fortschrittliche Klasse in Rußland ... hat das Erscheinen Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten mit Begeisterung aufgenommen. In ihnen werden kraft der Wissenschaft die besten Prinzipien des russischen Lebens anerkannt.“ Marx fiel es nicht schwer, das Quiproquo zu erraten: die russischen Revolutionäre betrachteten das Kapital nicht als das, was es war, nämlich als wissenschaftliche Analyse des kapitalistischen Systems, sondern als moralische Verurteilung der Ausbeutung und damit als wissenschaftliche Sanktionierung der „besten Prinzipien des russischen Lebens“: der Dorfgemeinschaften und Genossenschaften. Marx selbst betrachtete die Bodengemeinschaft nicht als sozialistisches „Prinzip“, sondern als historisches System der feudalen Unterjochung der Bauern und als materielle Grundlage des Zarismus. Er sparte nicht an Sarkasmen gegen Herzen, dem, ebenso wie vielen anderen, ein gewisser preußischer Reisender, der konservative Baron Haxthausen, die Augen für den „russischen Kommunismus“ geöffnet hatte. Dessen Buch erschien in russischer Sprache zwei Jahre vor dem Kapital, und die „intelligente und fortschrittliche Klasse in Rußland“ versuchte hartnäckig, Marx mit Haxthausen unter einen Hut zu bringen. Kein Wunder: Verbindung des sozialistischen Zieles mit der Idealisierung der Grundlagen der Leibeigenschaft war ja auch das theoretische der Narodniki-Bewegung.

1879 zerfiel „Semlja i Wolja“, wie wir uns erinnern, in zwei Organisationen: die „Narodnaja Wolja“, die Ausdruck der demokratisch-politischen Tendenz war und die kämpferischen Elemente der vorhergehenden Bewegung erfaßte, und den „Tschorny Peredjel“, der bestrebt war, die rein volkstümlerischen Prinzipien des bäuerlich sozialistischen Umsturzes zu bewahren. Da er sich dem politischen Kampf widersetzte, der sich durch den ganzen Verlauf der Bewegung aufdrängte, verlor der „Tschorny Peredjel“ jede Anziehungskraft. „Die Organisation hatte schon von den ersten Tagen ihrer Entstehung an kein Glück“, beklagte sich Deutsch, einer ihrer Gründer, in seinen Erinnerungen. Die besten Arbeiter, wie Chalturin, gingen zu den Narodowolzen. Dorthin tendierte auch die studierende Jugend. Noch schlechter stand es bei der Bauernschaft: „Dort hatten wir einfach nichts.“ Der „Tschorny Peredjel“ spielte keine revolutionäre Rolle. Dafür war es ihm beschieden, zur Brücke zwischen der Volkstümlerbewegung und der Sozialdemokratie zu werden.

Die Führer der Organisation – Plechanow, Sassulitsch, Deutsch, Axelrod – waren in den Jahren 1880/81 nacheinander genötigt, ins Ausland zu emigrieren. Gerade diese verbissensten Narodniki, die nicht aufgeben wollten im Kampf um eine liberale Verfassung, mußten mit besonderer Intensität jenen Teil des Volkes suchen, an den man sich halten konnte. Ihre eigene Erfahrung zeigte ihnen, ihren Absichten zum Trotz, mit einer Klarheit, die keinen Zweifel zuließ, daß nur die Industriearbeiter für die Propaganda des Sozialismus empfänglich waren. Gleichzeitig gelang es der schönen und auch der wissenschaftlichen Literatur der Narodniki selbst, entgegen der eigenen Tendenz, die aprioristischen Vorstellungen über eine harmonische „Volks-Produktion“, die sich bei näherem Zusehen als ein barbarisches Stadium des Kapitalismus erwies, gründlich zu erschüttern. Es mußten „nur noch“ die richtigen Schlußfolgerungen gezogen werden. Aber diese Arbeit bedeutete eine ganze ideologische Revolution. Die Ehre, die traditionellen Anschauungen revidiert und den neuen Weg gewiesen zu haben, gebührt unstreitig dem Führer der Tschornoperedjelzen, Georgij Walentinowitsch Plechanow. Wir werden noch oft mit ihm zusammentreffen, als Lehrer, dann als älterer Mitarbeiter und schließlich als unversöhnlicher Gegner Lenins.

Rußland hat schon den Weg zum Kapitalismus beschritten, und die Intelligenz kann es von diesem Weg nicht abbringen. Die bürgerlichen Beziehungen werden in immer größeren Widerspruch zur Selbstherrschaft geraten und gleichzeitig neue Kräfte wecken, die den Kampf mit ihr aufnehmen. Die Eroberung der politischen Freiheit ist die notwendige Voraussetzung des weiteren Kampfes des Proletariats für den Sozialismus. Die russischen Arbeiter müssen die liberale Gesellschaft und die Intelligenz bei ihren Bemühungen um die Verfassung, und die Bauernschaft bei ihren Aufständen gegen die Überreste der Leibeigenschaft unterstützen. Die revolutionäre Intelligenz hingegen muß, wenn sie einen machtvollen Verbündeten gewinnen will, sich theoretisch auf den Boden des Marxismus stellen und ihre Kräfte der Propaganda unter den Arbeitern widmen.

Das war in den wichtigsten Zügen die neue revolutionäre Konzeption. Heute scheint sie eine Kette von Gemeinplätzen zu sein. 1883 klang sie als kühne Herausforderung der heiligsten Vorurteile. Die Lage wurde für die Neuerer dadurch aufs äußerste kompliziert, daß sie, die als theoretische Verkünder des Proletariats auftraten, in der ersten Zeit genötigt waren, sich unmittelbar an jene soziale Schicht zu wenden, der sie selbst angehörten. Zwischen den Pionieren des Marxismus und den erwachenden Arbeitern stand die traditionelle Scheidewand der Intelligenz. Die alten Anschauungen waren bei ihr so fest verankert, daß Plechanow und seine Genossen beschlossen, selbst die Bezeichnung „Sozialdemokratie“ zu vermeiden und sich „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ zu nennen.

So entstand in der kleinen Schweiz die Keimzelle einer künftigen großen Partei, der russischen Sozialdemokratie, aus deren Mitte in der Folge der Bolschewismus hervorging, der Begründer der Räterepublik. Die Welt ist mit so wenig Voraussicht begabt, daß bei der Geburt großer historischer Ereignisse keine Herolde die Posaunen blasen und die Himmelsleuchten keine wunderbaren Zeichen senden.. Die Entstehung des russischen Marxismus erschien in den ersten acht bis zehn Jahren als eine wenig bemerkenswerte Episode.

Da sie befürchtete, die wenig zahlreiche linke Intelligenz abzustoßen, rührte die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ einige Jahre lang nicht an das Dogma des Terrors. Den Fehler der Narodowolzen erblickte sie nur darin, daß ihre terroristische Tätigkeit nicht ergänzt wurde durch die „Schaffung von Elementen für die künftige sozialistische Arbeiterpartei Rußlands“. Plechanow bemühte sich nicht ohne Grund, die Terroristen als Politiker der klassischen Volkstümlerbewegung gegenüberzustellen, die den politischen Kampf ablehnte. „Die „Narodnaja Wolja““, so schrieb er 1883, „kann für sich keine andere Rechtfertigung finden, und darf sie auch nicht suchen, als den modernen wissenschaftlichen Sozialismus.“ Aber die Zugeständnisse an den Terror blieben wirkungslos, und die theoretischen Mahnungen verklangen ungehört.

Der Niedergang der revolutionären Bewegung in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre betraf alle Tendenzen, führte zu geistiger Stagnation und verhinderte dadurch jede einigermaßen nennenswerte Verbreitung der marxistischen Ideen. Je mehr die Intelligenz als Ganzes das Schlachtfeld verließ, desto verbissener hielten sich die einzelnen, die der Revolution die Treue bewahrten, an die durch die Vergangenheit geheiligten heroischen Traditionen. Ein revolutionärer Kampf des europäischen Proletariats hätte die Aufnahme der marxistischen Ideen erleichtern können. Aber die achtziger Jahre waren auch im Westen Jahre der Reaktion. In Frankreich waren die Wunden der Kommune noch nicht verheilt. Die deutschen Arbeiter hatte Bismarck in die Illegalität getrieben. Der britische Trade-Unionismus war ganz durchtränkt von konservativer Selbstzufriedenheit. Unter dem Einfluß zeitweiliger Ursachen, über die wir später noch sprechen werden, war die Streikbewegung in Rußland selbst abgeflaut. Kein Wunder, wenn die Gruppe Plechanows vollständig isoliert war. Man beschuldigte sie der künstlichen Aufputschung des Klassenhaders an Stelle des notwendigen Bündnisses aller „lebendigen Kräfte“ gegen den Absolutismus.

Das von Alexander Uljanow in aller Eile zwischen der Erzeugung von Salpetersäure und der Präparierung von Kugeln mit Strychnin verfaßte Programm der Terroristischen Fraktion erklärte zwar, daß die Meinungsverschiedenheiten mit den Sozialdemokraten „sehr unwesentlich seien“, aber nur, um sofort seine Hoffnung auf einen „unmittelbaren Übergang der Volkswirtschaft zu einer höheren Form“, unter Vermeidung des kapitalistischen Stadiums der Entwicklung, zum Ausdruck zu bringen und die „große selbständige Bedeutung der Intelligenz“, ihre Fähigkeit zur „sofortigen Führung des politischen Kampfes gegen die Regierung“ anzuerkennen. Praktisch stand die Gruppe Alexander Uljanows den Arbeitern ferner als die Terroristen der vorhergehenden Generation.

Die Verbindungen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ mit Rußland waren zufällig und unverläßlich. „Über die Gründung der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ durch Plechanow im Jahre 1883“, erinnert sich Mitzkjewitsch, „drangen nur dunkle Gerüchte zu uns.“ In den feindlichen Kreisen der Emigration erzählte man mit Vergnügen, wie in Odessa eine Gruppe von Radikalen Unsere Meinungsverschiedenheiten von Plechanow feierlich verbrannte; und diese Gerüchte fanden Glauben, da sie gut der Stimmung, wenn nicht sogar den Tatsachen entsprachen. Die wenig zahlreichen Anhänger der Gruppe unter der russischen Jugend im Ausland hatten einen weit engeren Horizont und weit weniger persönlichen Mut als die Revolutionäre des vorhergehenden Jahrzehnts; manche nannten sich Marxisten, weil sie hofften, daß sie das der revolutionären Pflichten enthebe. Plechanow, der niemanden mit einer bissigen Bemerkung verschonte, nannte diese zweifelhaften Gesinnungsgenossen „Invaliden, die noch nie auf einem Schlachtfeld waren“. Anfang der neunziger Jahre war es so, daß die Führer der Gruppe endgültig an ihren Hoffnungen auf die Eroberung der Intelligenz verzweifelten. Axelrod erklärte ihre fehlende Aufnahmefähigkeit für die Ideen des Marxismus mit ihrer bürgerlichen Entartung. Diese im allgemeinen historisch richtige und durch den weiteren Verlauf der Ereignisse bestätigte Erklärung eilte diesen zu weit voraus: die russische Intelligenz sollte noch eine Periode allgemeiner Begeisterung für den Marxismus durchschreiten, und diese Zeit war schon ganz nahe.

Ohne seine theoretische Anerkennung abzuwarten, vollzog indessen der Kapitalismus unter dem Deckmantel der Reaktion seine revolutionierende Arbeit. Die Folgen der feudalistischen und der kapitalistischen Maßnahmen der Regierung wollten sich auf keine Weise in ein harmonisches System bringen lassen. Trotz freigiebiger finanzieller Unterstützung durch die Regierung kam der Landadel rasch herunter. In den drei Jahrzehnten nach der Reform gab der herrschende Stand mehr als 35 Prozent seines Bodens aus der Hand, wobei gerade die Regierungszeit Alexanders III., die Epoche der Adelsrestauration, zur wichtigsten Epoche des Adelsruins wurde. Vor allem war es natürlich der kleine und mittlere Adel, der den Boden verlor. Was die Industrie betrifft, deren Gewinne dank den hohen Schutzzöllen 6o Prozent erreichten, so ging es mit ihr ununterbrochen aufwärts, besonders zu Ende des Jahrzehnts. So vollzog sich trotz der adligen Gegenreformen die kapitalistische Umgestaltung der Volkswirtschaft. Während die Regierungspolitik die Knoten des Mittelalters, besonders im Dorf, immer fester und fester knüpfte, begünstigte sie anderseits das Anwachsen jener Kräfte der Stadt, die berufen waren, diese Knoten zu zerhauen. Die reaktionäre Regierung Alexanders III. wurde zum Treibhaus der russischen Revolution.

An dem allgemeinen Bild der achtziger Jahre, das wir in einem der vorhergehenden Kapitel entworfen haben, müssen wir jetzt eine sehr wesentliche Korrektur vornehmen.: die verschiedenen Schichten der gebildeten Gesellschaft – die liberalen Semstwo-Leute, die radikale Intelligenz, die revolutionären Zirkel – verfielen in Apathie; aber gleichzeitig vollzog sich unter dem Deckmantel der Reaktion in den Tiefen der Nation das Erwachen der Industriearbeiter, kam es zu stürmischen Streiks, manchmal zur Zerstörung von Fabriken und Werken und Zusammenstößen mit der Polizei, noch ohne klar revolutionäre Intentionen, aber schon mit revolutionären Opfern. Gleichzeitig mit den Ansprüchen und Forderungen entflammte die Solidarität, in der Masse erwachte die Persönlichkeit, da und dort traten örtliche Führer hervor. In der Geschichte des russischen Proletariats sind die achtziger Jahre verzeichnet als Beginn des Aufstiegs.

Die Streikbewegung, die schon in den letzten Jahren der Regierung Alexanders II. begonnen hatte, aber in den Jahren 1884 bis 1886 ihren Höhepunkt erreichte, nötigte die Presse der verschiedenen Schattierungen, alarmiert festzustellen, daß in Rußland eine besondere „Arbeiterfrage“ entstanden war. Die zaristische Verwaltung man muß ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen – begriff beträchtlich früher als die linke Intelligenz die revolutionäre Bedeutung des Proletariats. Schon Ende der sechziger Jahre beginnen die Geheimdokumente die Industriearbeiter als höchst unzuverlässige Klasse zu klassifizieren, während die Publizistik der Volkstümler nach wie vor fortfährt, das Proletariat als Teil der Bauernschaft zu betrachten.

Gleichzeitig mit den grausamen Repressalien gegen die Streikenden beginnt sich seit 1882 rasch die Fabrikgesetzgebung zu entwickeln: Verbot der Kinderarbeit, Schaffung der Fabrikinspektion, Ansätze zur Regelung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen. Das Gesetz vom 3: Juni 1886, das unmittelbar nach großen Streiks der Textilarbeiter erlassen wurde, legte die Verpflichtung der Fabrikanten fest, zu bestimmten Fristen bar zu bezahlen, und schlug überhaupt die erste Bresche in die Mauer der patriarchalischen Willkür. So war die Regierung des Zaren, die selbstzufrieden die Kapitulation aller oppositionellen Gruppierungen der gebildeten Gesellschaft registrierte, genötigt, selbst vor der erwachenden Arbeiterklasse die erste Kapitulation zu vollziehen. Ohne richtige Wertung dieser Tatsachen kann man die ganze weitere Geschichte Rußlands einschließlich der Oktoberrevolution nicht verstehen.

Trotz Fortdauer und sogar Verschärfung der Agrarkrise weicht, allen Theorien der Narodniki zum Trotz, die industrielle Depression Ende der achtziger Jahre einem Aufschwung. Die Zahl der Arbeiter nimmt rasch zu. Die neuen Fabrikgesetze und vor allem die niedrigen Preise für Gebrauchsgüter verbessern die Lage der Arbeiter, die an das Elend im Dorf gewöhnt sind. Die Streiks flauen vorübergehend ab. In dieser Zeitspanne erreicht die revolutionäre Bewegung den Tiefpunkt der letzten dreißig Jahre. So wird das konkrete Studium des politischen Zickzacks der russischen Intelligenz zu einem höchst lehrreichen Kapitel der Soziologie: der freie „kritische Gedanke“ erweist sich bei jedem Schritt als abhängig von materiellen Ursachen, die er nicht erkennt. Wenn eine Flaumfeder, die jeder Hauch davonträgt, Bewußtsein besäße, betrachtete sie sich als das freieste Wesen der Welt!

In der Streikbewegung anfangs der achtziger Jahre spielten die von der revolutionären Bewegung des vorhergehenden Jahrzehnts erzogenen Arbeiter die führende Rolle. Die Streiks wieder gaben den empfänglichsten Arbeitern der neuen Generation einen Anstoß. Gewiß, mystische Grübeleien drangen in diesen Tagen auch in die Arbeiterkreise. Aber wenn für die Intelligenz die Tolstojanerei Ablassen vom aktiven Kampf bedeutete, so war es für die Arbeiter nicht selten die erste, noch unklare Form des Protestes gegen die soziale Ungerechtigkeit. So erfüllen ein und dieselben Ideen nicht selten bei den verschiedenen sozialen Schichten entgegengesetzte Funktionen. Die Nachklänge des Bakunismus, die Narodowolzen-Traditionen und die ersten marxistischen Losungen verschmelzen bei den fortschrittlichen Arbeitern mit der eigenen Streikerfahrung und gewinnen unvermeidlich die Farbe des Klassenkampfes. Gerade im Jahre 1887 gab sich Lew Tolstoj bekümmerten Erwägungen über die Ergebnisse des revolutionären Kampfes in den letzten zwanzig Jahren hin. „Wieviel aufrichtig gute Bestrebungen; wieviel Opferbereitschaft hat unsere junge Intelligenz darauf verwendet, um die Wahrheit aufzurichten ... Und was ist das Ergebnis? Nichts. Schlimmer als nichts.“ Der große Künstler hat sich in der Politik auch diesmal geirrt. Die zugrundegerichteten geistigen Kräfte der Intelligenz drangen tiefer in das Erdreich, um bald als erste Keimlinge des Massenbewußtseins zu sprießen.

Die von ihren gestrigen Führern im Stich gelassenen Arbeiterzirkel setzten selbständig die Suche nach ihrem Weg fort. Sie lasen viel, stöberten in alten und neuen Zeitschriften Artikel über das Leben der westeuropäischen Arbeiter auf, wandten das Gelesene auf sich selbst an. Einer der ersten marxistischen Arbeiter, Schelgunow, erinnert sich, daß in den Jahren 1887/88, das heißt in der allerverfluchtesten Zeit, die „Arbeiterzirkel sich mehr und mehr entwickelten ... Fortschrittliche Arbeiter ... suchten bei den Trödlern Bücher aus und kauften sie“. Zu den Trödlern kamen diese Bücher zweifellos von der enttäuschten Intelligenz. Ein Band des Kapital wurde von den Altwarenhändlern auf vierzig bis fünfzig Rubel geschätzt. Dennoch gelang es den Petersburger Arbeitern, dieses geheiligte Buch zu erstehen. „Ich selbst“, schreibt Schelgunow, „mußte das Kapital kapitelweise in Stücke zerreißen, daß es gleichzeitig in vier, fünf Zirkeln gelesen werden konnte.“ Der Arbeiter Moissejenko, Organisator des größten Textilarbeiterstreiks, studierte mit seinen Genossen in der Verbannung das Kapital und die Werke von Lassalle. Der Samen ist nicht auf Stein gefallen.

In einer Adresse, die dem alten Publizisten Schelgunow (man darf ihn natürlich nicht mit dem oben genannten namensgleichen Arbeiter verwechseln) kurz vor seinem Tod im Jahre 1891 überbracht wurde, dankte ihm eine Gruppe von Petersburger Arbeitern besonders dafür, daß er den russischen Arbeitern mit seinen Artikeln über den Kampf des Proletariats in Frankreich und England den richtigen Weg zeigte. Die Artikel Schelgunows waren für die Intelligenz geschrieben. In den Händen der Arbeiter dienten sie als Quelle für Schlußfolgerungen, die weiter gingen als die Absichten des Autors. Erschüttert vom Besuch der Arbeiterdelegation, nahm der alte Mann das Bild einer erwachenden Kraft mit ins Grab. Der bedeutendste Literat der Narodniki, G.I. Uspenskij, erfuhr noch, bevor er wahnsinnig wurde, daß die fortschrittlichen Arbeiter ihn schätzten und liebten, und er beglückwünschte öffentlich die russischen Schriftsteller zum „neuen Leser der Zukunft“. Die Arbeiterredner auf der heimlichen Petersburger Maifeier 1891 erinnerten dankbar an den vorhergegangenen Kampf der Intelligenz und brachten gleichzeitig unzweideutig ihre Absicht zum Ausdruck, an ihre Stelle zu treten. „Die heutige Jugend“;, sagte einer von ihnen, „denkt nicht ans Volk. Diese Jugend ist nichts anderes als ein parasitäres Element der Gesellschaft.“ Das Volk wird die Arbeiterpropagandisten besser verstehen, „denn sie stehen ihm näher als die Intelligenz.“

Jedoch an der Wende der zwei Jahrzehnte begannen sich die neuen Tendenzen auch im Kreise der Intellektuellen Bahn zu brechen, wenn auch sehr langsam. Die Studenten kamen in Berührung mit den Arbeitern und wurden von ihrer Zuversicht angesteckt. Junge Sozialdemokraten tauchten auf, bei denen gleichzeitig mit dem Stimmbruch auch die Hochachtung für die alten Autoritäten zerbrach. Einer der damaligen jungen Kasaner, Grigorjew, erinnert sich: „1888 begann sich unter der Jugend in Kasan immer nachdrücklicher das Interesse für den Namen Marx zu äußern.“ Im Mittelpunkt der ersten marxistischen Zirkel in Kasan stand der hervorragende junge Revolutionär Fedossejew. Mit dem Winter 1888/89 nahm, wie Brussnjow berichtet, in Petersburg „das Interesse für Bücher über gesellschaftliche und politische Fragen merklich zu. Es zeigte sich Nachfrage nach illegaler Literatur“. Die Zeitungen wurden auf neue Art gelesen. Die Russkije Wjedomosti (Russische Nachrichten), das Leiborgan des Semstwo-Liberalismus, brachte in diesen Jahren ausführliche Korrespondentenberichte aus Berlin mit großen Auszügen aus den Reden Bebels und anderer sozialdemokratischer Führer. Die liberale Zeitung wollte damit dem Zaren und seinen Ratgebern sagen, daß die Freiheit nicht gefährlich sei: der deutsche Kaiser sitze nach wie vor fest auf seinem Thron, Eigentum und Ordnung seien zuverlässig geschützt. Aber die revolutionären Studenten lasen aus diesen Reden etwas anderes heraus. Die Propagandisten träumten davon, aus den Reihen der Arbeiter russische Bebels zu erziehen. Die polnischen Studenten brachten neue Ideen: die Arbeiterbewegung entwickelte sich in Polen früher als in Rußland. Nach dem Bericht Brussnjows, der in den folgenden Monaten an die Spitze der sozialdemokratischen Gruppierungen in Petersburg treten sollte, überwog in den Zirkeln der Technologiestudenten schon 1889 die marxistische Richtung: den künftigen Ingenieuren, die sich für den Dienst am Kapitalismus ausbildeten, fiel es besonders schwer, den Glauben an eigenständige Wege Rußlands aufrechtzuerhalten. Die Technologen betrieben in den Arbeiterzirkeln eine höchst aktive Propaganda. Die Belebung griff gleichzeitig auf die alten, fast abgestorbenen Gruppierungen über. Die aus der Verbannung zurückgekehrten Narodowolzen versuchten, zunächst noch ergebnislos, wieder eine terroristische Partei auf die Beine zu stellen.

Leonid Krassin, der um diese Zeit gemeinsam mit seinem Bruder Hermann aus dem fernen Sibirien nach Petersburg gekommen war, schilderte später nicht ohne Humor seine marxistischen Debüts. „Das mangelnde Wissen wurde ergänzt durch jugendlichen Eifer und gesunde Stimmen ... Ende 1889 konnte man die Kampffähigkeit unseres Zirkels als zuverlässig betrachten.“ Leonid war damals 19 Jahre alt! Mitzkjewitsch beobachtete einen Stimmungsumschwung unter den Moskauer Studenten: es gab nicht mehr die frühere Hoffnungslosigkeit, es entstanden mehr Selbstbildungszirkel, es wuchs das Interesse für das Studium von Marx. Im Frühling 1890 brachen nach einer Unterbrechung von drei Jahren große Studentenunruhen aus. Sie führten dazu, daß die Brüder Krassin, beide Technologiestudenten, aus Petersburg nach Nishnij-Nowgorod verbannt wurden. Aus ihrem Mund hörte Mitzkjewitsch, der ebenfalls dorthin geraten war, zum erstenmal eine lebendige Verkündigung des Marxismus und stürzte sich auf Unsere Meinungsverschiedenheiten von Plechanow. „Eine neue Welt erschloß sich mir: der Schlüssel zur umgebenden Wirklichkeit war gefunden.“ Das Manifest der Kommunistischen Partei, das er anschließend las, machte auf Mitzkjewitsch einen gewaltigen Eindruck: „Ich begriff nun die Grundlagen der großen geschichtsphilosophischen Theorie von Marx. Ich wurde Marxist, und zwar schon fürs ganze Leben.“ Inzwischen hatte Leonid Krassin das Recht erhalten, in die Hauptstadt zurückzukehren, und betrieb dort Propaganda unter den Webern. Newsorowa, die Anfang der neunziger Jahre Kursistin war, erzählt, welche Offenbarung seinerzeit die ersten Publikationen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ für die Jugend waren. „Heute noch erinnere ich mich an den erschütternden Eindruck, den das Kommunistische Manifest von Marx und Engels machte.“ Krassin, Mitzkjewitsch, Newsorowa und ihre Freunde gehörten alle zu den heranwachsenden Kadern des künftigen Bolschewismus.

Die neue Stimmung in der russischen Intelligenz wurde auch durch die Ereignisse im Westen genährt, wo die Arbeiterbewegung die Depression überwand. Der berühmte Streik der englischen Docker unter der Führung des späteren Renegaten John Burns brach einem neuen, kämpferischen Trade-Unionismus Bahn. In Frankreich erholten sich die Arbeiter von der Katastrophe, Guesde und Lafargue betrieben marxistische Propaganda. Im Herbst 1889 fand in Paris der Gründungskongreß der neuen Internationale statt. Plechanow gab auf dem Kongreß seine prophetische Erklärung ab: „Die russische Revolution wird nur als Arbeiterrevolution siegen, einen anderen Ausweg gibt es nicht und kann es nicht geben.“ Diese Worte, die im Kongreßsaal fast ungehört verklangen, fanden in Rußland Widerhall in den Herzen mehrerer Generationen von Revolutionären. Schließlich erhielt die illegale Sozialdemokratie in Deutschland 1890 bei den Wahlen fast anderthalb Millionen Stimmen: das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten, das zwölf Jahre lang bestanden hatte, brach schmählich zusammen.

Wie naiv ist der Glaube an die spontane Entstehung von Ideen! Es bedurfte einer ganzen Reihe von objektiven, materiellen Bedingungen, außerdem in einer gewissen Aufeinanderfolge, in einem bestimmten Zusammenhang, damit der Marxismus Einlaß erhielt in die Köpfe der russischen Revolutionäre. Der Kapitalismus mußte ernstliche Erfolge erzielen; die Intelligenz mußte alle anderen Wege bis zum Ende gehen – den Bakunismus, den Lawrismus, die Propaganda unter der Bauernschaft, die Ansiedlung im Dorf, den Terror, die friedliche Kulturarbeit, das Tolstojanertum; die Arbeiter mußten Streiks durchführen; die sozialdemokratische Bewegung im Westen mußte aktivere Formen annehmen; schließlich mußte die furchtbare Hungerkatastrophe des Jahres 1891 alle Geschwüre der russischen Volkswirtschaft bloßlegen -, dann, und erst dann begannen die Ideen des Marxismus, der seine theoretische Formulierung fast fünfzig Jahre früher erhalten hatte und der von Plechanow für Rußland seit 1883 verkündet wurde, endlich auf russischem Boden Anerkennung zu finden. Aber auch das ist noch nicht alles. Sie erhielten im Milieu der Intelligenz zwar Massenverbreitung, wurden aber sogleich, entsprechend der sozialen Natur dieser Schicht, deformiert. Erst mit dem Auftreten einer bewußten proletarischen Avantgarde stand der Marxismus endlich fest auf den Füßen. Heißt das, daß die Ideen unwesentlich oder machtlos sind? Nein, das heißt nur, daß die Ideen sozial bedingt sind; bevor sie Ursache von Tatsachen und Ereignissen werden, müssen sie deren Folge sein. Noch genauer: die Idee steht nicht über der Tatsache als höhere Instanz, dann die Idee selbst ist eine Tatsache, die sich als unentbehrliches Glied in die Kette der anderen Tatsachen fügt.

Die persönliche Entwicklung Wladimir Uljanows vollzog sich in engem Zusammenhang mit der Evolution der russischen Intelligenz und der Herausbildung einer dünnen Schicht von fortschrittlichen Arbeitern. Die Biographie verschmilzt hier organisch mit der Geschichte. Die subjektive Folgerichtigkeit der geistigen Entwicklung fällt zusammen mit der objektiven Folgerichtigkeit des Heranreifens der revolutionären Krise des Landes. Gleichzeitig mit dem Auftauchen der ersten marxistischen Kader und der ersten sozialdemokratischen Zirkel wächst und reift unter dem Deckmantel der Reaktion der künftige Führer des revolutionären Volkes.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008