K. Kautsky


Die Vorurtheile der Menschheit

(1880)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 143–151.
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Lazar B. Hellenbach
Die Vorurtheile der Menschheit, I. Band
Wien, Rosner, 1879

Ein gewaltiges Thema, nur zu lösen von einem Manne, der selbst ohne jedes Vorurtheil ist – eine Unmöglichkeit –, oder von einem, der so viel Selbsterkenntniss besitzt, um zuzugeben, dass er selbst voll von Vorurtheilen sei. Einem solchen könnte man Objektivität genug antrauen, dass er im Stande sei, nachdem er untersucht, was ein Vorurtheil sei, wie ein solches entstehen und an welchen Merkmalen es erkannt werden könne, die am häufigsten vorkommenden Ansichten zu prüfen, ob sie Vorurtheile seien oder nicht.

Dieser Aufgabe ist Herr Hellenbach nicht gewachsen, ja noch mehr, er hat es nicht einmal versucht, sie zu lösen. In seinem ganzen Buche findet sich nirgends auch nur die leiseste Andeutung davon, was denn eigeatlich ein Vorurtheil sei, und doch würde die Erörterung dieses Begriffes allein ein ganzes Kapitel erfordern; denn derselbe ist doch nicht so einfach, wie der eines Dreiecks oder einer Kugel, dass ich nur das Wort zu nennen brauche, um zu wissen, dass Jeder denselben Begriff damit verbindet. Ueberhaupt wird, besonders im ersten Theile des Buches, sehr wenig von Vorurtheilen gesprochen, viel mehr dagegen von anderen Dingen, wie z. B. von einer neuen, von Herrn Hellenbach erfundenen Methode, die soziale Frage an lösen. Oder gehört die auch unter die Vorurtheile? Der genannte Autor hätte besser gethan, sein Werk „harmlose sozialpolitische Plaudereien“ zu nennen, dieser Titel wäre passender gewesen, man hätte nicht so viel erwartet und wäre nicht so enttäuscht worden, als es jetzt der Fall ist, ja, die vorurtheilsvolle Welt wäre sogar stillsshweigend darüber hinweggegangen, dass der „Mann ohne Vorurtheile“ in erster Linie frei ist von dem Vorurtheile, man müsse das, worüber man schreibt, auch kennen. Obgleich über den Sozialismus fast 200 Seiten lang gehandelt wird, kennt Herr H. denselben doch nicht besser, als irgend ein Schmock eines inferioren deutschen Winkelblättchens. Marx ist ihm ganz unbekannt, von Lassalle sind ihm einige Zitate bei anderen Schriftstellern vor Augen gekommen, das ist die Grundlage, auf welche gestützt er den Sozialismus kritisirt. Hein Wunder, dass er von Strolchen spricht, „die durch Raub und Mord die Welt organisiren wollen“. (p. 6) Er unterschiebt den Sozialdemokraten die Absichten »der Expropriation und gleichen Auftheilung“, welche er durch das Märchen vom Frankfurter Rothschild „widerlegt“, der im Jahre 1848 einem kommunistischen Sprecher erklärt haben soll, er sei bereit zu theilen. Da er 40 Millionen Thaler besitze und es 40 Millionen Deutsche gebe, gehöre jedem ein Thaler, gab dem Kommunisten seinen Antheil, einen Thaler, und verschwand. „Um nur einige Gulden per Kopf zusammenzubringen,“ fährt Herr H. fort, nachdem er diese alberne Geschichte erzählt, „müssten alle Besitzer grösseren Eigenthums erschlagen (!) und die sehr wichtigen und mächitigen Faktoren, wie sie die grössere Kapitalskraft vorstellt, vernichtet werden“. (p. 80)

Das Erschlagen der „Fabriksherren und Kapitalisten“ als Programmpunkt der Sozialisten ist überhaupt ein Gespenst, das ihn unaufhörlich umschwebt. Dasselbe würde natürlich auf dem Lande die gleiche Behandlung der grösseren Grundbesitzer unabänderlich nach sich ziehen. Die Gründe derselben würden szm grössten Theile als gemeinsame Weide behandelt, die Wälder ebenfalls verwüstet werden, und das unausbleibliche Resultat wäre ein furchtbares Sinken der Produktion; denn „der Bauer wird und kann nicht so viel erzeugen, als grosse Besitzer, deren Gründe zusammengelegt sind und nicht dem Raubbau, sondern einer rationellen Kultur unterzogen werden ...“

„Jeder Versuch, dieses Treiben durch die in den Händen der Arbeiter befindliche Regierung zu hindern, würde ein klägliches Ende nehmen. Denn wollte man eine Theilung vornehmen, so würde dem Bauer weniger bleiben, als er früher hatte.“ (p. 76)

Als Erschlagen der Reichen, und Auftheilung ihres Vemögens spiegelt sich also in diesem „vorurtheilslosen“ Kopfe die Sozialdemokratie.

Diese „Forderungen“ zu widerlegen, ist freilich nicht schwer, und daraus die Folgerung zu ziehen:

„Die Doktrinen, wie sie Marx und seine Gesinnungsgenossen lehren, sind nur geeignet, Greuelszenen hervorzurufen, können aber nie ein praktisches Resultat haben ... Marx kennt die agrarischen Verhältnisse nicht.“ (p. 137)

Dass Marx diejenigen agrarischen Verhältnisse, welche er behandelt hat, nämlich die englischen, sehr gut kennt, brauche ich den Lesern dieses Jahrbuches nicht auseinanderzusetzen. Marx ist nicht so unverfroren, wie Herr H., über Dinge zu schreiben, die er nicht kennt.

Indess, ganz unbekannt mit dem Sozialismus ist Herr H. doch nicht, er hat sogar etwas davon läuten gehört, dass Lassalle einmal von einem ehernen Lohngesetze, das er frischweg zu einem „eisernen“ macht, und von Produktivgenossenschaften gesprochen habe. Zu seinem Unglück hat er sich beides nicht näher angesehen und daher beides missverstanden. Die Nothwendigkeit, dass der Arbeitslohn im Durchschnitt stets auf der Linie des zur Erhaltung Nöthigen bleiben müsse, fasst er nicht als unter der modernen Produktionsweise unabänderliche Thatsache, sondern als ein Bedürfniss der Gesellschaft auf, und indem er damit übereinstimmt, gelangt er zu dem Schlüsse, die Lage des Arbeiters dürfe nur dadurch gebessert werden, dass man „die normale Lebenshaltung sämmtlicher Arbeiter“ erhöhe (p. 35), wobei er der Ansicht ist, diese „normale Lebenshaltung“ sei etwas, nach Belieben zu Regulirendes. Auf diesem Schlüsse aus dem ehernen Lohngesetze, welcher nur durch ein vollständiges Verkennen desselben möglich ist, baut er seinen später zu kritisirenden Plan zur Lösung der sozialen Frage auf. Eine solide Grundlage das! Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, dass Herr H. zugleich mit dem Ricardo-Lassalle’schen Lohngesetz das demselben gerade entgegengesetzte Carey-Bastiat’ache als richtig anerkennt, dass mit der Akkumulation des Kapitals der relative Antheil des Kapitalisten am Ertrage der Produktion falle, sein absoluter steige, indess der des Arbeiters in beiden Beziehungen zunehme.

Ein noch plumperes Missverständniss, so plump, dass man es nur schwer für ein unbeabsichtigtes halten kann, passirt Herrn H. mit Lassalle’s Produktivassoziationen, gegen deren Prinzip „sich allerdings nichts einwenden lässt; deren Vorzüge sind in die Augen springend.“ (p. 62) Aber, sagt er dagegen, wenn Jemand den Kredit in Anspruch nimmt, zu dem Zwecke, Investitionen damit herzustellen, so ist er verloren, wenn seine Unternehmungen nicht reussiren.

„Diess gilt für das Individuum, die Aktiengesellschaft und den Staat, ... beim Staate aber vermehrt jeder Fehler noch das Uebel in einer Weise, dass die Umkehrung der Verhältnisse oft unmöglich wird .... Produktiv-Assoziationen durch Staatskredit, ist eine Spekulation, wie eine andere; etwas Gefährlicheres und Gewagteres aber als Arbeitsvorschüsse in diesem Sinne und Masse, wie diess die Sozialisten träumen, giebt es gar nicht.“ (p. 63)

Unglaublich, aber wahr! Herr H. verwechselt den Kredit, den der Staat den Assoziationen gewähren soll, mit demjenigen, den er in Anspruch nimmt! Uebrigens muss ich bemerken, dass der Staat denn doch ein zäheres Leben hat, als Herr H. meint. Selbst wenn er den Kredit in Anspruh nehmen müsste, um den Produktivgenossenschaften unter die Arme zu greifen, so würde ihn deren eventuelles Misslingen noch nicht ruiniren. Bekanntlich haben sich manche Eisenbahnen, um deren Willen der Staat den Kredit in Anspruch genommen hatte, als verfehlte Spekulationen erwiesen, ohne den Staat zu Grunde zu richten. Ich halte es für überflüssig, die anderen „Einwände“ gegen die Produktivgenossenschaften zu widerlegen, es genügt, sie anzuführen: der Staat wäre gezwungen, sämmtlichen Grund und Boden, alle Kohlen- und Metallgruben zu kaufen. (p. 8) Was würde man machen, wenn z. B. 6.000 Schneider zu viel wären, oder etwa die Lyoner Schneider billiger arbeiteten als die Pariser? Und dann, „wer kann bestimmen, wie viele Ellen Tuch, wie viele Uhren, Wägen, Stiefel u. s. w. erzeugt werden dürfen? Soll sie etwa der Staat belehnen oder kaufen, und wenn, wer hindert dann erst recht die Ueberproduktion eines Artikels, und wer deckt den Verlust? Hat man doch in Frankreich erlebt, dass der Landwirth, der Bauer, seine Steuern, seine Bedürfnisse nicht decken konnte, weil die Ernte zu gut war! Auf diesem Wege ist keine Abhilfe zu erwarten.“ (p. 67) Und so geht es fort; die Produktivgenossenschaften sind gewiss nicht unanfechtbar, aber mit solchen sonderbaren Argumenten wird man sie kaum erschüttern.

Vielleicht können wir von Herrn H. mehr lernen in Bezug auf die agrarischen Verhältnisse. Ist er doch ein Landwirth! Seine Einwürfe gegen die agrarischen Forderungen der Sozialdemokraten beschränken sich indess auf 2, gegen die Zerstückelung und Expropriation des Bodens gerichtete. Den ersteren Punkt können wir ruhig übergehen, da Herr H. dabei gegen einen Teufel ficht, den er selbst an die Wand gemalt hat, denn bekanntlich ist die überwiegende Mehrzahl der Sozialdemokraten ebenfalls entschieden gegen die Zerstückelung des Bodens. Nicht ganz abzuweisen ist sein zweiter Einwand, dass der Bauer die Expropriation des Bodens nicht ruhig hinnehmen, sondern sich mit aller Entschiedenheit gegen dieselbe wehren werde. Ganz richtig; diejenigen sozialdemokratischen Agitatoren, welche es versuchen wollten, den Bauer fttr das Gemeineigenthum zu begeistern, würden sich nur blutige Köpfe holen. Gewaltsam ihn zu expropriiren, ist aber entschieden unmöglich, abgesehen davon, dass es an die Inquisition erinnern würde, wenn die Sozialdemokraten den Bauer um jeden Preis nach ihrer Façon selig machen wollten. Zum Glück für den Fortschritt der Menschheit ist es nicht die Sozialdemokratie, die den Bauer expropriirt, damit er einer höheren Produktionsweise Platz mache: nein, die moderne Gesellschaft thut es, sie ist es, die den Bauer von Haus und Hof jagt und den kleinen Grundbesitz durch den grossen ersetzt. Wenn die Sozialdemokraten diesen grossen expropriiren, so wird es nur geschehen, um den Bauer wieder zum freien Bewirthschafter des Bodens, wenn auch in anderer Form, zu machen. Wer die Sache von diesem Standpunkte auffasst, der kann gewiss sein, Eindruck auf den Bauer zu üben, wie ich diess selbst erprobt habe. Dieser Standpunkt ist aber nicht nur agitatorisch vortheilhaft, sondern ganz richtig, was jedenfalls noch besser ist. Ich will hier nicht weiter ausführen die herkömmlichen und oft erörterten Mittels des Wuchers, der unerschwinglichen Steuern, der Militärlasten, der Konkurrenz mit dem Grossgrundbesitzer, durch welche die moderne Gesellschaft den Bauer expropriirt. Zu ihnen ist in neuester Zeit ein Faktor getreten von solcher Wichtigkeit, dass er revolntionärer zu werden verspricht, als die bisher genannten zusammengenommen: das ist das überseeisehe Getreide. Die Erzeugungskosten desselben sind so gering, die Transportkosten sind so lächerlich klein geworden, dass es die Konkurrenz dies inländischen Getreides siegreich besteht und dasselbe immer weiter zurückkdrängt. Der Grossgrundbesitzer wird sich durch Einführung von Maschinen und möglichst rationellen Betrieb, sowie durch Schaffung industrieller Etablissements auf seinen Gütern, die deren Produkte an Ort und Stelle verarbeiten und verzehren, Brennereien, Brauereien, Zuckerfabriken u. dergl, schützen können gegen diese verderbliche Konkurrenz: der Kleinbauer muss ihr und zwar rapid unterliegen. Was nützen Getreidezölle dagegen! Staaten, welche Getreide einführen müssen, wie Grossbritannien, Frankreich, Belgien, die Schweiz und die Niederlande, können das wichtigste Nahrungsmittel nicht duruh einen solchen Zoll vertheuern. Von den Getreide exportirenden Ländern sind zu nennen Russland, Oesterreich-Ungarn und die Donauländer. Von diesen trifft die überseeische Konkurrenz am härtesten, ja geradezu vernichtend Oesterreich-Ungarn. Der österreich-ungarische Bauer kann Getreide entschieden nicht so billig produziren als der amerikanische Farmer. Ein Getreidezoll mag ihn vielleicht im eigenen Lande vor demselben schützen, nicht aber auf dem fremden Markte. Er wird daher auch trotz des Getreidezolles zu Grunde gehen, weil er ohne Absatz auf ausländischen Märkten nicht existiren kann. Bleibt nur Deutschland übrig, dessen Ausfuhr die Einfuhr bei Weitem nicht erreicht. Möglich, dass hier ein Getreidezoll momentan wirkt – ich kann hier natürlich nicht weiter auf diese Frage eingehen –, um so schneller aber der Untergang, wenn die Bourgeoisie wieder die Oberhand erhält über die Grundbesitzer und die Getreidezölle aufhebt. Ist aber einmal die Mehrheit der Bauern expropriirt, dann werden sie es am allerwenigsten sein, welche sich einer eventuellen Expropriation der anderen widersetzen werden. Uebrigens ist natürlich die Frage, ob Expropriation oder nicht, weniger eine Frage des Prinzipes als der Verhältnisse. Auch dürfte man nicht doktrinär verfahren und überall expropriiren, sondern nur dort, wo das Gefüge des Bauernstandes bereits gebrochen ist. In Gegenden, wo sich der Bauer noch intakt erhalten hat, müsste man vorsichtiger vorgehen und an die in solchen Gegenden gewöhnlich noch vorhandenen Ueberbleibsel des urwüchsigen Gemeinde-Kommunismus, Gemeindeweiden, Gemeindewälder, Allmenden etc. anknüpfen, um nach und nach die kommunisischen Tendenzen zu stärken und die individualistischen zu schwächen. Nach der Schablone darf man die Bauern nicht behandeln. Auf keinen Fall ist der Bauer ein unüberwindliches Hinderniss für die Sozialdemokratie, früher oder später muss er ihr zufallen. Also auch dieser plausibelste aller Einwände des Herrn H. gegen den Sozialismus ist ein nichtiger.

Doch er kritisirt nicht nur, was sehr leicht ist, er macht selbst Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage, deren Nothwendigkeit er empfindet und einsieht. Diese Lösung glaubt er nun zu finden darin, dass den Kinderlosen die Menschheit als Erbe substituirt wird, welche einen Pflichttheil erhalten muss (p. 91), mit anderen Worten, die Hinterlassenschaft der Kinderlosen soll mit einer ziemlich hohen Erbsteuer belegt werden, aus deren Erträgniss ein Fonds gebildet werden soll, dessen Zinsen man benutzt zur Erhaltung und Herstellnng humanitärer Anstalten, als da sind: „Spitäler, Waisenhäuser, Kinderbewahr- und Erziehungs-Anstalten, Schulen, Versorgungs- und Invalidenhäuser“ (p. 90), später, meint er, könnte man auch Arbeiterhäuser bauen. Das ist der funkelnagelneue Vorschlag, durch den die Lebenshaltung des Arbeiters gehoben, also sein Lohn erhöht werden soll. Wir sehen deutlich die Folgen der falschen Auffassung des ehernen Lohngesetzes. Wenn der Arbeiter nur 7 % statt 17 % für Wohnung, Feuer und Licht braucht, so wird dadurch die Lebenshaltung nicht eine günstigere werden (p. 162), sondern der Arbeitslohn wird sinken, der Kapitalgewinn steigen. Ebenso wird die bessere Erziehung, wenn sie allen zu Gute kommt, materiell nur dem Kapitalisten nützen, der intelligentere Arbeiter zu demselben Preise, als früher unintelligente, erhält und dadurch mit dem Auslande besser konkurriren kann. Herr H. nimmt allerdings an, das Kollektivvermögen würde immer mehr steigen und nach und nach das Privatkapital verdrängen, aber was mit demselben dann geschehen soll, das untersucht er nicht. Er erkennt nicht, dass das Kapital an und für sich unproduktiv ist, dass es erst durch Verbindung mit Arbeit Güter erzeugt, dass also der Besitzer des Kollektivvermögens, der Staat, wenn dasselbe eine gewisse Höhe erlangt hat, doch in die Produktion wird eingreifen müssen. Wie das zu geschehen habe, das ist eben die Hauptfrage des Sozialismus: die Schwierigkeit beginnt eben da, wo Herr H. aufhört. Woher der Staat das Geld bekommt zur Lösung der sozialen Frage, das ist unser geringster Kummer, das wird sich nach den Verhältnissen richten. Herr H. beschäftigt sich aber nur damit und lässt die Frage ganz ausser dem Spiele, was man mit dem Gelde anfangen solle. Er sagt blos, man baue Spitäler, Schulen, Invalidenhäuser etc. Dieses „etc.“ ist aber der Kernpunkt der sozialen Frage.

Zu erklären ist Herrn H.’s Einseitigkeit in dieser Beziehung dadurch, dass er von der ganz falschen Ansicht ausgeht, die Sozialdemokraten verlangten die Lösung der sozialen Frage durch den modernen Staat. Es ist das wieder eine jener Taschenspielerkünste des Herrn H., bei denen man nicht weiss, ob sie dem „Bewussten“ oder dem „Unbewussten“ zuzuschreiben sind. Er sagt: die Sozialisten verlangen „wirthschaftliche Experimente mit Hilfe der Staatsmittel“, ohne zu bedenken, „dass die Gesellschaft die Mittel nicht habe, um für das Minimum der Existenz und der Erziehung, geschweige denn für die zweifelhaften Experimente der Sozialisten aufzukommen“ – denn die europäischen Staaten geben flür Unterrichtsanstalten im Durchschnitte blos 2 Prozent, für humanitäre Anstalten blos 0.8 Prozent ihres Budgets aus. (p. 24) Staat und moderner Staat werden da so eilig durcheinandergeworfen, als handle es sich wirklich um Taschenspielerei.. Nun sind aber die Sozialdemokraten schon desshalb eine revolutionäre Partei, weil sie erklären, der moderne Militärstaat könne unmöglich die soziale Frage lösen. Die Beseitigung des Militärbudgets und der Staatsschulden dürfte für diese Lösung. jedenfalls mehr Vermögen flüssig machen, als die Erbsteuer des Herrn H. Geradezu naiv aber ist dessen Ansicht, der moderne Staat werde sich des Erträgnisses der Erbsteuer nicht bemächtigen, um es zu pelitischen Zwecken zu verwenden, weil die öffentliche Meinung dagegen sein werde. Ganz gesichert wäre dieser Fonds, wenn der ihn verwaltende Minister von der Solidarität mit den anderen Kabinetsmitgliedern befreit würde. Ebenso naiv ist es, zu erwarten, wenn der Staat Herrn H.’s Vorschlag nicht akzeptiren sollte, sei die Durchführung der Erbsteuer möglich durch einen Verein, etwa den deutschen oder Johanniter-Orden (p. 131), dessen Mitglieder sich verpflichteten, im Falle ihres kinderlosen Ablebens einen Theil ihres Vermögens humanitären Zwecken zu widmen.

Soweit Herr H. über die soziale Frage. Das folgende brauchen wir nur kurz zu berühren. Seinen sonderbaren Expropriationsvorschlag, wonach jeder Kapitalist das Recht haben soll, einen Grundbesitzer zu expropriiren, d. h. ihn zn zwingen, ihm sein Gut zu verkaufen, wenn er das Doppelte der Steuersumme zahlen will, welche der frühere Besitzer zahlte, will ich übergehen ...

In der Frage der Uebervölkerung ist H. Anhänger Carey’s, hält es aber für möglich, „dass die Menschheit einmal vor die Alternative gestellt werden könnte: Tod oder Verhinderung an der Geburt“. (p. 139) Allerdings nicht nur in Folge der Zunahme der Bevölkerung, sondern der Abkühung der Erde. Wenn die Uebervölkerung erst dann einträte, brauchte man sich um sie wohl nicht zu kümmern. Leider wird sie schon viel früher den Soziologen zu schaffen machen. Ob in dieser späten Periode sich nicht die Zahl der Geburten von selbst vermindern wird oder ob es nöthig sein wird, auf künstlichem Wege dies zu erreichen, lässt er unentschieden. In letzterem Falle plädirt er für die Extraktion des Fötus (p. 151), ein riskirtes und gesundheitsschädliches Verfahren, welches umsomehr zu verwerfen ist, als H.’s Einwände gegen die Präventivmittel nur für einige, nicht für alle gelten, da manche, wie von Fachmännern konstatirt wurde, denselben Zweck ohne bedeutende Unbequemlichkeit erreichen.

Um das Vorurtheil, dass der Krieg nothwendig sei, zu widerlegen, druckt Herr H. eine von ihm im Jahre 1868 herausgegebene Broschüre vollinhaltlich ab, aus der wir ersehen können, dass er den deutsch-französischen und den orientalischen Krieg geweissagt habe und dass wir noch einen Krieg haben müssen. Wieso daraus hervorgeht, dass der Krieg nicht nothwendig sei, wird nicht gesagt. Ferner schreibt der „vorurtheilslose“ Mann über den Parlamentarismus, wobei er sich als Monarchist erklärt, der für Heinrich V. von Frankreich, wie er den Froschdorfer Prätendenten nennt, schwärmt, und die modernen Parlamente verurtheilt, weil sie auf zu breiter Basis ruhen. Sodann spricht er über die nothwendige Zusammensetzung der Oberhäuser, wobei er folgenden merkwürdigen Passus von sich lässt: „Das Haupt einer historischen Familie, welche einen Grundbesitz inne hat, der an Steuern ungefähr so viel zahlt, als ein Wahlbezirk, ist ein ganz berechtigter Faktor in einer gesetzgebenden Versammlung; und wenn dieser Besitz ein der Familie gesicherter ist, so kann ein solches erbliches Mitglied niemals schaden, denn es bietet so manche Garantien für Patriotismus, Gemeinsinn und Unabhängigkeit, deren sich die meisten Abgeordneten nicht erfreuen. Ist so ein Pair auch ein unwissender Esel, so wird er für die Erziehung seines Sohnes nur um so gewissenhafter sorgen, als er selbst seine Unbehülflichkeit und Lächerlichkeit empfindet.“ (p. 245)

Auf die gesellschaftlichen Vorurtheile übergehend, nimmt er die Geburtsaristokratie gegen die „theoretischen“ und „abstrakten“ Demokraten in Schutz, and vom Duell sprechend meint er:

„Die Gesellschaft befindet sich da in einer üblen Lage. Hebt sie das Recht auf, eine Genugthuung zu verlangen, so werden sich Sitte und Umgangsform verschlechtern, die Anmassung vermehren (Herr H. muss in einer guten Gesellschaft leben); erkennt sie das Recht an, wie es heute besteht, so kommt sie in Konflikt mit der Vernunft und den Gesetzen. Es bleibt ihr darum nichte anderes übrig, als dieses Recht zu reguliren.“ (p. 274)

Die Staatsgewalt reicht dann nicht aus, zu Folge ihres Prinzipes: gleiches Recht für Alle, da eine Obstlerin und ein Gentleman verschiedene Ehrgefühle haben; folglich müssen Ehrengerichte eingesetzt werden, welche „den verbannen, der die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens unterwühlt“. (p. 275)

Nach so vielen – Naivetäten thut es einem wohl, endlich noch einmal eine vernünftige Ansicht zu finden, das ist die des Herrn H. über Liebe und Ehe. Er steht auf dem, meiner Ansicht nach, vollkommen richtigen Standpunkte, dass nicht das Glück der Eheleate, sondern das der Kinder es ist, welches über die jeweilig in der Gesellschaft geltende Form der Ehe entscheidet. Heutzutage muss daher die Ehe schwer löslich sein, weil nur darin die Garantie liegt dafür, dass die Kinder nicht dem Verderben preisgegeben, sondern bestmöglich erzogen werden. In einer Gesellschaftsform dagegen, in welcher das Wohl der Nachkommenschaft auch ohne Unlöslichkeit der Ehe gesichert ist, kann man dieselbe beseitigen, ohne der Moralität im Geringsten Abbruch zu thun, wie es das Beispiel der religiös-kommunistischen Gemeinde am Oneida-Creek darthut, bei denen freie Liebe herrscht, ohne dass die geringste Zuchtlosigkeit in Folge dessen eingerissen wäre. Die Ehe soll nach H. allerdings ein Vertrag bleiben, aber kein unlösnarer Vertrag, und vor Allem ein Vertrag, bei dem nicht der eine Kontrahent, wie dies heute gewöhnlich der Fall ist, das Weib, unzurechnungsfähig ist. Vor dem Alter der Volljährigkeit kann man heutzutage keinen unwiderruflichen Vertrag eingehen als den wichtigsten von Allen, die Ehe!

Ebenso anregend, als der Abschnitt „über unsere geschlechtlichen Beziehungen“, ist der über „das Recht der Lebensverneinung“, welches der eine Satz genügend charakterisirt:

„Den Thieren erweist man die Wohlthat einer schnellen Tödtung um so sicherer, je lieber man sie hat, wenn ihr Zustand ein hoffnungs- und freudeloser geworden ist; dem Menschen aber nicht!!“ (p. 358)

Rühmend werde noch hervorgehoben die gefällige, fliessende Diktion, welche zusammengehalten damit, dass der Verfasser dort entschieden glücklicher ist, wo er sich an die schönen Leserinnen, als dort, wo er sich an die hässlichen Leser wendet, erwarten lässt, er würde auf dem Gebiete des Feuilleton’s Hervorragendes leisten. Die Nationalökonomie dagegen gilt ihm mit Recht als eine „unheimliehe“ Wissenschaft. (p. 84) Auf jeden Fall hätte er das besprochene Werk nicht „die Vorurtheile der Menschheit“ nennen sollen, da dieser Titel mehr und Anderes bespricht, als der Inhalt hält, so dass eine Enttäuschung unvermeidlich ist. Möge Herr Hellenbach künftighin bescheidenere Titel wählen; es wird in seinem Interesse liegen, und er wird nicht mehr den Verdacht erwecken, dass er von sich selbst ein zu günstiges – Vorurtheil hegt.


Zuletzt aktualisiert am 19. September 2016