K. K.


Der Staat der Zukunft

(1880)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, I. Jg, 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 200–202.
Transkription: Archive.org.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ed. Reich
Der Staat der Zukunft
Leipzig 1879

Wenn ein verbissener Sozialistentödter eine recht derbe Parodie auf den Sozialismus schreiben wollte, so müsste sie ungefähr so aussehen, wie der Staat der Zukunft des Herrn Reich. Wenn der wissenschaftliche Sozialismus wirklich irgend welche Aehnlichkeit mit diesem sozialistischen Zerrbilde hätte, dann stünde es schlimm um ihn. Zum Glück ist dies nicht der Fall. Herr Reich ist noch nicht einmal so weit, als der Sozialismus vor dreihundert Jahren war, denn des Thomas Morus Utopia ist lange nicht so utopisch, als dieser neueste Zukunftsstaat. Dass seitdem der Sozialismus gewaltige Fortschritte gemacht hat, dass er sich zu einer Wissenschaft gestaltet hat, die den klügsten Leuten harte Nüsse zn knacken giebt, genirt Herrn R. gar nicht, er scheut sich nicht, über die modernen Sozialisten zu schimpfen, ohne sie so kennen, und die soziale Frage lösen zu wollen, ohne alle Berücksichtigung fremder Meinungen. Wunderdoktoren, welche die Menschen gesund zu machen versprechen, ohne irgend eine Kenntniss des menschlichen Körpers zu besitzen, werden von Herrn R. sicher als Schwindler gebrandmarkt werden, er selbst aber rühmt seine Unwissenheit in Beziehung auf den sozialen Körper in der Vorrede zu seinem Rezepte, das die Gesellschaft kuriren soll.

Dieses wunderbar wirkende Rezept lautet einfach: Ersetzung des heute herrschenden Prinzipes des „Tantum Quantum“ durch die Sympathie. Die Sympathie heilt alle Wunden, welche das Tantum Quantum geschlagen hat. Im Reiche der Sympathie arbeitet Jeder, wann er will, was er will, wie viel er will, und hat doch stets genug. Es ist ganz einerlei, wie viel der Einzelne in das Magazin liefert: er arbeitet nach bestem Wissen und Gewissen und nach seinen KriUten und bekommt ganz einfach seinen Bedarf.“ (p. 99) Diese Lösung der sozialen Frage erscheint Herrn B. so „ganz einfach“, dass er es nicht der Mühe werth hielt, auch nur ein Wort weiter darüber zu verlieren.

Ebenso einfach erscheint ihm die Frage der besten Regierungsform des Zukunftsstaates. Die erforderlichen Beamten durften „weit besser aus Freiwilligen inneren Berufes, welche die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und sittlichen Eigenschaften haben, denn aus Wahl oder bürokratischer Bestellung sich rekrutiren“. (p. 46) Diese Sympathie ist wirklich ein wundervolles Zaubermittel, sie bewirkt nicht blos, dass bei der denkbar grössten Anarchie in der Produktionsweise doch stets alles Erforderliche in genügender Menge vorhanden ist, sie bewirkt auch, dass die Beamten stets ohne Wahl und Bestellung auf den richtigen Posten sich selbst setzen und stets das richtige Maas einhalten: nie zu viel und nie zu wenig.

Fragen wir nun neugierig, in welcher Apotheke dieser Wundertrank gebraut werde, dann erhalten wir zur Antwort: in einer „gesunden, wohl organisirten Kirche“ (p. 8), „die mit Erfüllung dieser Aufgabe die Grundsäulen der neuen, der wahrhaft gesitteten Gemeinschaft herstellt und dem Staatsprinzip der Sympathie Dauer sichert für Zeit und Ewigkeit“. (p. 33)

Welch’ wunderbare Kirche ! Her mit der neuen Religion, dass wir sie predigen können, sie wird die Menschheit erlösen.

Schade! Hier lässt uns Herr R. im Stiche. Was das für eine Religion sein soll, sagt er uns nämlich nicht. Er macht uns den Mund wässern nach seinem Wundertrank, kann uns jedoch die Apotheke nicht näher bezeichnen, aus der wir ihn beziehen können. Die einzigen näheren Kennzeichen der neuen Religion sind erstens die Forderung zweier Dogmen: des Glaubens an einen Gott und an die Unsterblichkeit der Seele (p. 32), und zweitens die der Leitung dieser Kirche durch einen Papst oder, wie Herr R. versehentlich ausdrückt, einen Patriarchen. (p. 34) Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege soll das Tantum Quantum vernichtet werden.

Da unglücklicher – oder vielleicht auch glücklicher Weise – ausser Herrn B. Niemand die Grundzüge der „gesunden wohlorganisirten Kirche“ kennt, so dürfte die einzige Möglichkeit der Erlösung der darbenden Menschheit darin bestehen, dass man Herrn B. zum Papste der neuen Religion ernennt.


Zuletzt aktualisiert am 19. September 2016