K. K.

Gewerkvereine und Unternehmerverbände in Frankreich

(1881)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II. Jg., Zürich 1881, S. 147–153.
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W. Lexis
Gewerkvereine und Unternehmerverbände in Frankreich
Ein Beitrag zur Kenntniss der sozialen Bewegung

Leipzig, Duncker und Humblot. 1879. VIII und 280 S.

Es ist eine nüchterne, ehrliche und, soweit es der Standpunkt des Verfassers erlaubt, objektive Arbeit, die da vor uns liegt; auch ist dieser Standpunkt kein solcher, der ein Verständniss der Arbeiterbewegung unmöglich macht. Der Verfasser gehört nicht zu denen, die er auf pag. 252 seines Buches selbst sehr treffend charakterisirt, welche sich zu überreden suchen, es gebe keine soziale Frage, und es seien blos einige verkommene Arbeiter, die sich unerreichbare Bedürfnisse geschaffen und, da deren Befriedigung unmöglich sei, die Empörung gegen die Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben hätten.

Herr Lexis erkennt wenigstens den privatwirthschaftlichen Interessenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit als in den Verhältnissen begründet an, und wenn er auch am Schlüsse seines Buches einige schwache Versuche macht, uns und sich über die Nothwendigkeit desselben hinwegzutäuschen, so zeigt er doch im Uebrigen ein klares Verständniss für die Naturnothwendigkeit des Klassenkampfes, und das ist bei einem Universitätsprofessor, der nie in solche Kämpfe praktisch eingegriffen, schon ziemlich viel. Weniger erbaulich ist seine totale Unkenntniss des Sozialismus, den er mit einigen verächtlichen Beiworten, wie utopistisch etc. abthut. Gerade die Erkenntniss des theoretischen Sozialismus bietet einem Manne der Wissenschaft ungleich weniger Schwierigkeit, als das Verständniss der Arbeiterbewegung. Gibt es doch manchen verständigen und tüchtigen Sozialisten, namentlich aus den „besseren“ Ständen, dem die Nothwendigkeit des Klassencharakters der Arbeiterbewegung nicht einleuchtet, und der hofft, den intelligenten Theil der Bourgeoisie von der Gerechtigkeit der Arbeiterforderungen überzeugen zu können. Bei Leuten, welche diesem Theile der Bourgeoisie angehören, und die sich für den Sozialismus begeistern liessen, ist eine solche Illusion sehr natürlich. Sie beurtheilen die Anderen nach sich und vergessen, dass sie weisse Raben sind. Herrn Lexis ist eine solche Selbstenttäuschung fern, und er gewinnt dadurch den richtigen Blick für die Bestrebungen der Syndicalkammern.

Nach einer kurzen Einleitung über die Bedeutung und das Wesen der Syndicalkammern behandelt Herr Lexis zunächst ihre gesetzliche Unterlage, die Vereins- und Versammlungsgesetzgebung von der grossen Revolution an. Wohl nirgends tritt deren Bourgeois-Charakter schärfer hervor, als auf diesen Gebiete. Die Konkurrenz sollte eine absolut individualistische sein, daher das Verbot nicht nur der Koalition der Arbeiter, der Arbeitgeber und der Waareninhaber, sondern auch jeder Assoziation von Genossen desselben Gewerbes.

Diese letztere, in dem Gesetz vom 14. Juni 1791 enthaltene Bestimmung entzieht aber den fachgewerblichen Verbänden der Unternehmer wie der Arbeiter, welche Zwecke sie auch verfolgen mögen, die Möglichkeit einer gesetzlichen Existenz. Der Form nach wurden hier Unternehmer und Arbeiter gleichmässig behandelt, was auch unter der Herrschaft des Prinzipes der Gleichheit nicht anders möglich war, aber in Wirklichkeit hatte man nur die Unterdrückung der Arbeiterverbindungen im Auge. Dies beweist neben der administrativen Praxis bis in die neueste Zeit der Bericht Chapeliers an die Nationalversammlung. Da heisst es unter Anderem:

„Plusieurs personnes ont cherché á recréer les corporations anéanties en formant des assemblées d’art et métiers, dans lesquelles il a été nommé des présidents, des secrétaires, de syndics et autres officiers. Le but de ces assemblées qui se propagent dans le royaume et qui ont déjà établi entre elles des correspondances, est de forcer les entrepreneurs de travaux, les ci-devant maitres, à augmenter le prix de la journée de travail, d’empêcher les ouvriers et les particuliers qui les occupent dans leur ateliers, de faire entr’eux des conventions à l’amiable etc.“

Noch heute sind einige Artikel dieses Gesetzes gültig. Unter dem Direktorium, Konsulat und ersten Kaiserreich wurden die Koalitionsverbote noch bedeutend verschärft, nach dem Code pénal von 1810 werden sogar die „Führer und Anstifter“ von Arbeiterverbindungen mit zwei bis fünf Jahren Gefängniss und ausserdem nach Umständen zwei bis fünf Jahren Polizeiaufsicht bestraft!

Die Revolution von 1848 brachte keine weitere Aenderung dieser drakonischen Bestimmung hervor, als das die gesetzgebende Nationalversammlung durch das Gesetz vom 27. November 1849 auch die Unternehmer, wenn sie als „Führer oder Anstifter“ auftraten, mit derselben Strafe – auf dem Papiere – bedrohte. Fünfzehn Jahre lang blieb dieses republikanische Gesetz in Gültigkeit, bis unter dem Kaiserreich durch das Gesetz vom 25. Mai 1864 das Verbot der Koalition aufgehoben und mit Gefängnissstrafe von sechs Tagen bis zu drei Jahren und Geldstrafe von 16 bis 3.000 Fr. blos die bedroht wurden, welche durch Gewaltsamkeiten, Drohungen oder betrügerische Vorstellungen eine Arbeitseinstellung herbeiführten oder aufrecht hielten.

Diese Konzession war nur eine scheinbare, da nach dem Gesetz vom 10. April 1834 jede dauernde Vereinigung zu einem bestimmten Zwecke der Genehmigung der Regierung bedurfte und die Polizeibehörden auf Grund des Gesetzes vom 16. August 1790 das Recht in Anspruch nahmen, Versammlungen zu verbieten. Die Arbeiter konnten sich also nur mit Genehmigung der Regierung versammeln, die Strikes, wie Levasseur sagte, nur mit obrigkeitlicher Bewilligung zu Stande kommen.

Das Gesetz vom 8. Juni 1868 setzte endlich an die Stelle der Autorisation der Versammlungen durch die Polizeibehörde blos deren Beaufsichtigung, soweit es sich nicht um politische oder religiöse Fragen handelte. Dieses Gesetz ist auch in der Republik noch in Kraft geblieben, freilich mit dem Unterschiede, dass die republikanischen Polizeibehörden sich als viel unduldsamer erwiesen, als die kaiserlichen. Auch in der Vereins-Gesetzgebung hat sich die Republik reaktionärer gezeigt, als das Kaiserreich, indem sie durch das Gesetz vom 14. März 1872 jede internationale Vereinigung von Arbeitern schon dann als verboten erklärt, wenn sie den Zweck hat, Arbeitseinstellungen zu veranlassen.

Schon aus diesen Andeutungen geht hervor, wie miserabel die französische Vereins- und Koalitionsgesetzgebung ist, die Ausführungen des Herrn Lexis, welche mit lobenswerthem Eifer die Versuche der Arbeiterknebelung geisseln, thun dies noch eingehender und klarer dar.

Weniger interessant für die Leser des Jahrbuches dürfte der umfangreiche Abschnitt über die Verbände der Unternehmer sein, da denselben nur geringe Bedeutung für die soziale Entwicklung innewohnt. Sie vertreten blos praktische Geschäftsinteressen alltäglicher Art, dienen ihren Mitgliedern durch Agenturen etc. Im sozial-politischen Leben haben sie nur insoferne einige Bedeutung erlangt, als sie sich durch Arbeitseinstellungen hie und da gezwungen sahen, gegenüber den vereinigten Arbeitern als Koalitionen des Kapitals aufzutreten. Diese Rolle ist jedoch durchaus nicht ihr Zweck, sie haben sie höchst widerwillig übernommen und sich durch dieselbe in ihrem privatwirthschaftlichen Charakter nicht beeinflussen lassen.

Die Arbeiterverbände sind dagegen von vornherein nur zu sozial-politischen Zwecken gegründet worden; der Klassenkampf ist ihre vornehmste Aufgabe. Ganz richtig hat Herr Lexis den Unterschied zwischen den Vereinigungen der Arbeiter und der Unternehmer erfasst:

„Man hat keinen Grund zu der Annahme, dass der Durchschnittsgrad des volkswirthschaftlichen Egoismus bei dem Unternehmer grösser sei als bei dem Arbeiter, aber die Wirkung dieses individuellen Egoismus kann in einer Gruppe von Unternehmern gerade entgegengesetzter Art sein, wie in einer Arbeiterverbindung; sie kann in der ersteren eine zersprengende, in der letztere eine einigende sein. Hier kommt eben der oben erwähnte Unterschied in der Ausbildung der wirthschaftlichen Individualität bei Unternehmer und Arbeiter in Betracht. In normalen Zuständen ist nichts schwerer aufrecht zu erhalten als eine Vereinbarung selbstständiger Unternehmer über ein gemeinschaftliches Verfahren in privatgeschäftlichen Angelegenheiten. Bei jedem wird sich eine zentrifugale Tendenz bilden, die proportional ist der Masse seines Kapitals. Bei den Arbeitern von ungewöhnlicher Begabung wird in der Regel ebenfalls die individualistische Tendenz die Oberhand gewinnen. Der Durchschnittsschlag dagegen, der die grosse Masse bildet, hat eine natürliche Neigung zur Verschmelzung der individuellen Interessen zur Herstellung einer Klassensolidarität, weil die Betheiligten instinktiv, oder mit Bewusstsein, erkennen, dass auch die Einzelinteressen in dieser Verschmelzung besser gewahrt sind, als in der Isolirung. Dieses natürliche Solidaritätsgefühl in der Arbeiterklasse ist ebensowohl eine wirthschaftliche Potenz, wie der individualistische Egoismus. Die Geschichte weist ihre bisherigen Wirkungen nach, aber wahrscheinlich wird sie erst in der Zukunft die Machtentwicklung erlangen, die der kapitalistischen Produktionsweise und den herrschenden Kulturbedingungen entspricht. Gerade die gesteigerte Ausbildung der ausserwirthschaftlichen, namentlich der politischen Individualität der Arbeiter, führt sie in wirthschaftlicher Beziehung immer mehr zur Klassensolidarität. Beruhte die letztere blos auf dem moralischen Brüderlichkeitsgefühl, so würde man volkswirthschaftlich nicht wohl mit diesem Faktor rechnen können; aber diese Solidarität erzeugt sich, von jener moralischen Seite ganz abgesehen, fast mit der Sicherheit eines Naturprozesses aus wesentlich wirthschaftlichen Motiven, und desshalb darf sie bei sozialökonomischen Schlüssen nie ausser Acht gelassen werden.“

Der Gegensatz zwischen Bourgeois und Arbeiter ist hier ganz richtig erfasst. Es ist der Gegensatz von Egoismus und Solidarität, von Individualismus und Kommunismus. Der Klassenkampf züchtet in der Arbeiterklasse die kommunistischen Instinkte; im Fortgange des Kampfes wächst mit der numerischen Stärke des Arbeiterstandes auch sein Gefühl der Solidarität, welche schliesslich, wenn er stark genug ist, um die Obmacht über das Kapital davonzutragen, auch in seiner Brust die Obergewalt über den Egoismus erlangt haben wird, so dass er reif ist zur Gesellschaftsordnung der Solidarität, des Kommunismus.

Es ist richtig, dass dieser ein anderes Geschlecht fordert als das jetzige: der Klassenkampf züchtet dies Geschlecht.

Die Konsequenz aus seinen Prämissen zu ziehen, hat Herr Lexis leider unterlassen.

Seine Geschichte der französischen Gewerkvereine beginnt er mit der Kompagnonage. Die Gesellenverbände der Zunftzeit waren wohl hauptsächlich Hilfsgesellschaften, namentlich zum Zwecke der Wanderunterstützung, aber doch spielte bereits der Kampf gegen das Kapital, namentlich in der Form von Arbeitseinstellungen und der „damnations“, dem Verrufen einzelner Meister wie sogar ganzer Städte, eine grosse Rolle bei ihnen. Es ist bemerkenswerth, dass sie entstanden, nachdem im 14. Jahrhundert die Bildung des Lohnproletariats begonnen hatte, der Klasse von Arbeitern, welche keine Aussicht hat, selbständig zu werden. Diese Hoffnungslosigkeit ist es, welche den Klassenhass und Klassenkampf erzeugt.

Während der französischen Revolution wurde die Kompagnonage natürlich ebenso wie alle anderen Vereinigungen von Arbeitern verboten, gleichwohl bestand sie fort, erlangte schliesslich auch die Duldung der Behörden und scheint heute noch zu vegetiren. Wenigstens betheiligte sie sich noch an der Versöhnungsdemonstration eines Theiles der Freimaurer auf den Wällen von Paris während der Kommune, und 1876 war auf dem Pariser Arbeiterkongress der Compagnonageverband der Férandiniers in Lyon durch zwei Delegirte vertreten.

Neben der Kompagnonage entstanden allmählig Gesellschaften, die zwar zum Theile noch deren mystische Zunftgebräuche beibehielten oder nachahmten, aber doch schon mehr den Forderungen der Neuzeit entsprachen. So bildeten die Façonmeister Lyons – die sich zu den Arbeitern, nicht Bourgeois zählen – 1828 eine Gesellschaft, die sich „le Mutuellisme“ nannte. Obgleich sie nach dem Beispiele der Kompagnonage eine blosse Hilfsgesellschaft sein sollte, wurde sie doch bald auf die Bahn der Strikes gedrängt, ja, Massregelungen durch die Behörden trieben sie sogar zweimal auf die Barrikaden, im November 1831 und April 1834. Die blutige Niederwerfung des letzteren Aufstandes gab der Gesellschaft den Todesstoss.

Neben ihr aber hatten sich seit 1830 verschiedene Verbände gebildet, ebenfalls der Kompagnonage ähnlich, aber den Zeitverhältnissen gemäss reformirt, welche sich schliesslich, namentlich in Folge der Anregung der Halbsozialistin Flora Tristan 1846 unter dem Namen der „Union“ vereinigten. Diese Verbindung besteht noch, beschränkt sich aber lediglich auf die Krankenunterstützung, Alters- und Invalidenversorgung ihrer Mitglieder. Die weiteren Hilfsgesellschaften sind zu unbedeutend, um erwähnt zu werden.

Neben ihnen bildeten sich auf Buchez’, der schon 1831 mit seinen Plänen hervortrat, des französischen Schultze-Delitzsch, Anregung eine Anzahl Produktivgenossenschaften, namentlich nach dem Juniaufstande von 1848, von denen aber nur zwanzig die Republik überlebten. Gewerkschaften, in denen sich die Arbeiter lediglich zum Kampfe gegen das Kapital organisirt hatten, gab es damals noch nicht.

Erst seit der Gründung der Internationale (25. Mai 1864) kommt Leben, Plan und Methode in den Klassenkampf, der bis dahin ganz systemlos geführt worden war. Sie trat in Beziehung zu fast allen Arbeitervereinen, von ihr ging die Anregung zur Gründung der „caisse du sou“ aus, einem gelungenen Versuche zur Vereinigung der Arbeitervereine zu gegenseitiger Unterstützung bei Arbeitseinstellungen, sie nahm die methodische Leitung solcher Strikes, welche sie für berechtigt hielt, in die Hand und entschied oft durch die blosse Thatsache, dass sie den Strikenden Hilfe versprach, den Lohnkampf. Dies wurde dadurch möglich, dass Arbeiter sowohl als Unternehmer die Macht der Internationale überschätzten, die Zahl der Mitglieder auf Hunderttausende, die Grösse ihres Vermögen auf Millionen veranschlagten.

Dem Aufblühen der Arbeiterbewegung leistete es Vorschub, dass die kaiserliche Regierung mit den Arbeitern zu kokettiren begann, um sie für sich gewinnen, ihnen Konzessionen machte und eine Art Staatssozialismus in’s Leben rufen wollte. Eine Versorgungsanstalt für Arbeiterinvaliden unter dem Schutze des Kaisers wurde projektirt, dieser schenkte auch der kooperativen Baugesellschaft 41 Häuser in der Avenue Dusmenil, gab 500,000 Fr. für die „caisse des associations cooperatives“, stellte für Bildung von Produktivgenossenschaften der Seidenweber 300,000 Fr. aus der Zivilliste zur Verfügung, gewährte einer Lyoner Webergenossenschaft ein Darlehn von 300,000 Fr. etc.; Rouher versuchte sogar die „Internationale“ für den Bonapartismus zu gewinnen. Obgleich das Kaiserreich ungleich mehr für die Arbeiter that, als z. B. das Regime Bismarcks, welches bis jetzt nur Versprechen leistete, zeigten diese doch bei jeder Gelegenheit, dass sie in politischer Beziehung auf Seiten der radikalen Republikaner stünden. Die im Jahre 1868 erlangten politischen Freiheiten benutzte man zur Gründung von Syndicalkammern, welche es nicht mehr nöthig hatten, ihre Bestimmung, im Klassenkampfe zu dienen, hinter dem Aushängeschilde von Hilfskassen und dergleichen zu verstecken. Obgleich die offizielle Organisation der Internationale im März 1868 aufgelöst wurde, übten ihre ehemaligen Mitglieder doch noch immer den früheren Einfluss auf die Gewerkschaften, und es schien der Augenblick nahe, in dem man zur Gründung einer politischen Arbeiterpartei schreiten könne, als unglückseliger Weise der Krieg mit Deutschland und in dessen Folge der Kommuneaufstand die aufblühenden Hoffnungen total vernichteten.

Mit anerkennenswerther Objektivität weist Herr Lexis den Vorwurf zurück, als hätte die Internationale den Kommuneaufstand entfesselt. Das radikale Zentralkomite der Nationalgarde gab den Anstoss zur Bewegung, der sich die Internationale natürlich anschliessen musste, was sie aber nur ungern im Bewusstsein ihrer Schwäche that.

Nach Niederschlagung der Kommune schien die Arbeiterbewegung so gut wie todt, und sie wäre es auch gewesen, wenn sie wirklich nur das Werk einiger unzufriedenen Köpfe wäre. Die Führer waren gefallen oder geflüchtet, die Mitglieder der Gewerkvereine hatte entweder dasselbe Geschick ereilt, oder sie waren so kompromittirt, dass sie es nicht wagen durften, an die Oeffentlichkeit zu treten. Der Belagerungszustand herrschte über Paris: war da noch eine Arbeiterbewegung möglich? Sie war es, weil der Klassengegensatz durch die Niederschlagung der Kommune nicht erstickt, sondern verschärft worden war. Die Republik der Bourgeoisie nimmt nicht jene Rücksicht auf die Bedürfnisse des Arbeiters, wie es das Kaiserreich that, die Klassenkämpfe begannen sogleich nach der Dämpfung des Aufstandes von Neuem.

Bereits im Juli 1871 versuchten die Pariser Droschkenkutscher einen Strike und konstituirten sich als Syndicat. Wie eine Lawine anschwellend hat seitdem die Arbeiterbewegung, anfangs sehr schüchtern und friedlich auftretend, eine Macht in Frankreich erlangt, wie sie diese vor der Kommune nicht besessen hat. Und nicht nur die Wucht, auch der Radikalismus der Bewegung nimmt von Jahr zu Jahr zu. Der erste Pariser Kongress verlief freilich sehr zahm, und theilweise auch der zweite, zu Lyon 1877 abgehaltene, auf dem noch die Befürwortung der Amnestie abgelehnt wurde, aber seitdem hat die sozialistische Idee in erfreulicher Weise an Boden gewonnen. Herr Lexis dürfte sich in einem schweren Irrthum befinden, wenn er sich in der Hoffnung wiegt, dass die französischen Arbeiter sich nie dem Sozialismus und Kommunismus ergeben werden. Er muss selbst zugeben, dass alle französischen Syndicalkammern, auch die friedlichsten und am meisten dem kooperatistischen Programme ergebenen, auf einem ganz anderen Boden stehen, als die englischen Gewerkvereine. Diese erkennen das Lohnsystem als zu Recht bestehend an, der Kooperatismus dagegen sucht ebenso wie der Kollektivismus das „salariat“, das Lohnsystem zu beseitigen, der erstere allerdings nur durch Reformen auf dem Boden der gegenwärtigen Wirthschaftsordnung.

„Wenn aber die Erfahrung lehrt,“ sagt Herr Lexis selbst, „dass auf diesem Wege die Emanzipation der Klasse als solcher nicht erreicht werden kann, so werden viele Enttäuschte doch nicht den Glauben an jenen idealen Gegenstand fallen lassen, und so ist denn die Bekehrung von ursprünglich gutgläubigen Kooperatisten zum Kollektivismus schon gegenwärtig nicht gerade selten.“

Diese Bekehrungen nehmen aber von Tag zu Tag zu, und so ist der Augenblick nicht mehr fem, wo auch in Frankreich an Stelle der unzähligen Sekten und Fraktionen eine einige und mächtige Arbeiterpartei treten wird.

Aus diesem Beispiele wie aus vielen anderen können wir ersehen, dass Herr Lexis die Verhältnisse ziemlich richtig beurtheilt und sein Blick sich nur dann trübt, wenn er seine Wünsche an Stelle der Erfahrung sprechen lässt. Eine solche Geschichte der Arbeiterbewegung, wie wir sie wünschen, bietet er uns freilich nicht, und kann sie nicht bieten, da diese einen Mann erfordern würde, der mitten in der Bewegung gestanden hat. Er gibt blos die Thatsachen, nicht aber ihren pragmatischen Zusammenhang, nicht ihre Beziehungen zur Entwicklung der sozialen und ökonomischen Faktoren. Das, was uns Herr Lexis gibt, ist blos das Material zur Geschichte der französischen Syndicalkammern, ein fleissig zusammengesuchtes und mit Verständniss gesichtetes Material, aber nicht mehr. Zu einem Verständniss der französischen Arbeiterbewegung kommt man durch die Lektüre seines Buches noch nicht. Doch man darf nicht zu unbescheiden in seinen Forderungen sein. Seien wir zufrieden, dass das Buch des Herrn Lexis nicht eines jener falschenden Machwerke ist, an denen unsere Literatur über die Arbeiterbewegung so reich ist, und dass er neue Bausteine zur Erkenntniss der sozialen Entwicklung beigebracht hat. Hoffentlich findet sich bald der Meister, der sie zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt.


Zuletzt aktualisiert am 21. September 2016