K. Kautsky

Der Neo-Malthusianismus

(1881)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II. Jg., Zürich 1881, S. 115–117.
Transkription: Archive.org.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


G. Stille
Der Neo-Malthusianismus, das Heilmittel des Pauperismus
Berlin, Luckhardt. 1880. VI und 82 S.

Herr Dr. Stille ist für die Leser des Jahrbuches kein Fremdling mehr; bereits in der ersten Hälfte des ersten Jahrganges wurde ein Buch von ihm, Die Bevölkerungsfrage in ihrer Beziehung zu den sozialen Verhältnissen, besprochen. Eine willkommene Ergänzung desselben bietet vorliegende Broschüre. Es ist weniger eine Darlegung des Einflusses des Bevölkerungsgesetzes auf die sozialen Verhältnisse, wie seine erste Schrift. Unser Hauptinteresse nehmen vielmehr die historischen und physiologischen Exkurse in Anspruch: der Abriss von Malthus Leben, die Entwicklung der Bevölkerungstheorie und die Entstehung und Thätigkeit der „Malthusian league“, in London einerseits, andererseits der Bericht über den internationalen medizinischen Kongress in Amsterdam. Nur die Kapitels 5, 6 und 7 sind ausschliesslich sozialökonomischen Inhalts. Das zweite derselben führt den bezeichnenden Titel: Malthus’ Lehre als Erretterin des Bauernstandes; in dem letzteren ist dieselbe als Erretterin des Arbeiterstandes angeführt. Der Standpunkt, den Herr Stille in diesen Kapiteln einnimmt, ist unserer Ansicht nach ein wenig zu einseitig prononzirt, wenn er behauptet, dass die zu grosse Volksvermehrung die eigentliche Ursache des Pauperismus sei, und dass die Verminderung des Angebotes von Arbeit die Grundbedingung der Lösung der sozialen Frage sei.

Es ist vollständig richtig, wenn Herr Stille anführt, dass die fortgesetzten Abfindungen von Miterben einen Hauptfaktor der zunehmenden Verschuldung des Bauern ausmachen. Aber doch nicht den einzigen; es gibt manche, ebenso stark, ja noch stärker wirkende. Da ist z. B. das amerikanische Getreide. Vor dessen Konkurrenz kann man sich nicht schützen, ausser wenn man die Industrie ruinirt. Bisher steigerte jedes Missjahr die Getreidepreise und entschädigte so den Bauer für den Ausfall in der Quantität seiner Ernte. Heutzutage dagegen bewirkt eine Missernte blos vermehrten Absatz ausländischen Getreides, also den Ruin des Bauern. Noch mehrere Missernten und der Bauernstand ist vernichtet, wenn er nicht früher aus Verzweiflung sich erhebt, um die gegenwärtige Gesellschaftsordnung umzuwerfen. Ausser dem amerikanischen Getreide gibt es noch viele andere Ursachen der Verarmung des Bauern, welche zum Mindesten ebenso stark wirken, als seine zu rasche Vermehrung. Wir können auf dieselben hier allerdings nicht näher eingehen; wir wollten blos konstatiren, dass es ausser der raschen Volksvermehrung noch andere mächtige Ursachen der Armuth gebe.

Auch der Ansicht des Herrn Stille können wir nicht beipflichten, dass „kluge Gewohnheiten in der Ehe“ den Arbeitslohn heben müssten. Der Arbeitslohn kann nur ein gewisses Maximum erreichen. Sobald er darüber hinausgeht, wird es profitabel, den Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen, oder, soweit das nicht geht, durch anspruchslosere Arbeitskräfte, Weiber, Kinder, Ausländer. Italien und die slavischen Länder bergen eine Fülle billiger Arbeitskräfte, die sich augenblicklich nach dem Westen respektive Norden wenden werden, sobald sie Aussicht auf bessere Entlohnung, als zu Hause erhalten. Auch die Irländer sind stete Konkurrenten der englischen Arbeiter, welche eine Erhöhung: des Standard of life derselben gar sehr hindern, dazu kommt noch die Reserve aussereuropäischer Arbeitskräfte, Kulis etc. Schliesslich möge man auch nicht vergessen, dass eine Erhöhung der Arbeitslöhne denn doch noch nicht die Lösung der sozialen Frage wäre. Die Ueberproduktion wUrde eher zu-, statt abnehmen, wenn die Zahl der Konsumenten sich sehr verringerte.

Herr Stille selbst ist sich dessen wohl bewusst. Klar und deutlich hat er es in seiner Schrift über „die Bevölkerungsfrage“ ausgesprochen:

„Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass mit der Verwirklichung meiner Vorschläge nicht die gesammte soziale Frage gelöst ist; ich weiss sehr wohl, dass es noch viele und grosse Aufgaben gibt, dass namentlich eine gerechtere Vertheilung der Arbeitsmittel und der erarbeiteten Produkte unter eine auch nicht mehr zu zahlreiche Bevölkerung ein Gegenstand heftigen Streites werden kann Habe ich nun soeben bereitwillig zugegeben, dass zur völligen Lösung der sozialen Frage noch vieles Andere gehört, als allein die Beseitigung der Bevölkerungs- respektive Uebervölkerungsschwierigkeit, so steht es andererseits für mich aber auch völlig fest, dass alle anderen wirthschaftlichen Reformen, mögen sie so vortrefflich sein, wie sie wollen, nicht zum höchstmöglichen wirthschaftlichen Wohl führen können, wenn die Bevölkerungsfrage unberücksichtigt bleibt.“

Diesen Standpunkt theilen auch wir, wir finden aber, dass er in der hier besprochenen Schrift nicht ausgesprochen ist, so dass derjenige, welcher die früheren Schriften Herrn Stillens nicht kennt, versucht sein könnte, zu glauben, derselbe suche in der Beschränkung der Volksvermehrung allein schon die Lösung der sozialen Frage. Es wäre im Interesse der Sache sehr erwünscht, wenn der Verfasser bei einer etwaigen zweiten Auflage seinen Standpunkt weniger einseitig malthusianisch prononziren und die nothwendige Ergänzung desselben mehr hervortreten lassen würde. In sozialistischen Kreisen würde das Büchlein dann sicher die Anerkennung finden, die es verdient.

Am physiologischen und historischen Theile haben wir nichts auszusetzen. Besonders interessant erscheint in ersterem das auf dem internationalen medizinischen Kongresse zu Amsterdam gehaltene Referat des Dr. Petithan aus Lüttich über „die Stellung, welche die Gynäkologen zu jenen sozialen Fragen einnehmen sollten, welche sich auf die Fortpflanzung beziehen.“ Die anwesenden Pariser Aerzte, welche die grösste Erfahrung in der Sache hatten, sprachen sich einstimmig dahin aus, dass es Mittel des präventiven Verkehrs gebe, welche unschädlich seien.

In dem historischen Theile kann die Entwicklung des Malthusianismus und seine Häutung in den Neo-Malthusianismus gut verfolgt werden. Letztere ist fast ausschliesslich den Physiologen zu verdanken, die endlich begonnen haben, sich mit der so ungemein wichtigen Bevölkerungsfrage näher zu befassen. Der Neo-Malthusianismus legt denn auch dem entsprechend das Hauptgewicht auf den physiologischen Theil des Bevölkerungsproblems. Während er in sozialwissenschaftlicher Beziehung mit wenigen Ausnahmen, zu denen auch Dr. Stille gerechnet werden muss, noch auf dem überwundenen Malthus’schen Standpunkte verharrt, hat er sich in physiologischer Beziehung gänzlich von ihm losgesagt. Er erkennt wohl die fortdauernde Tendenz zur Uebervölkerung an, sucht aber die Rettung von derselben nicht in der „moralischen“ Enthaltsamkeit, wie Malthus, welche er im Gegentheil entschieden verdammt, sondern in der Anwendung des präventiven geschlechtlichen Verkehrs zur Regelung der Bevölkerungszunahme. Die Diskussion der behufs desselben anzuwendenden Mittel und die Agitation zur Anwendung derselben sind die Zwecke der „Malthusian league“. Man braucht mit ihren Gründern, den Herrn Bradlaugh etc. gerade nicht zu sympathisiren, um sie als eine für die Entwicklung der Menschheit hochwichtige Institution anzuerkennen. Herr Stille, der Vizepräsident der league, thut sein Möglichstes, um ihren Bestrebungen auch in Deutschland Eingang zu verschaffen, und ist „der Neo-Malthusianismus“ ganz diesem Zwecke gewidmet. Möge es ihm gelingen, die Vorurtheile gegen das Bevölkerungsgesetz und den präventiven Verkehr zu beseitigen.


Zuletzt aktualisiert am 27. April 2018