Karl Kautsky

Karl Marx’
Oekonomische Lehren


Vorwort zur achten Auflage


Zwei Jahre nach der letzten Auflage dieses Büchleins, die ich vor der jetzigen, achten, durchgesehen, erschien der langersehnte dritte Band des Kapital, der uns so viele neue und überraschende Einsichten gewährte. In eine Darstellung der ökonomischen Lehren von Karl Marx gehörte von da an selbstverständlich auch ein Abriß des Hauptinhalts des dritten Bandes. Das ist jedoch keine einfache Sache und erfordert mehr Ruhe und Zeit, als mir seither zu Gebote stand. Gerade nach dem Erscheinen des dritten Bandes nahm die Agrarfrage meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch; und kaum hatte ich meine Studien darüber zu einem äußerlichen Abschluß gebracht, da wurde ich durch die von der revisionistischen Richtung entfesselten theoretischen Kämpfe völlig absorbiert. Jetzt scheint es, daß auch diese neueste Krise des Marxismus überwunden sei, nun habe ich aber meine ganze Kraft einer Aufgabe zuzuwenden, die mir schon 1895 zugefallen war und die ich über den beiden anderen ebenerwähnten schon zu lange vernachlässigt habe: die Herausgabe der von Marx hinterlassenen, ca. 1500 bis 1600 Druckseiten umfassenden historisch-kritischen Darstellung der Theorien vom Mehrwerth, die einen Theil des Manuskripts Zur Kritik der politischen Oekonomie ausmacht und deren Herausgabe Engels als Ersatz für den vierten Band des Kapital plante.

Eine ausgedehnte internationale Korrespondenz und die redaktionelle Thätigkeit engen meine zur Herausgabe dieses Riesenwerkes verfügbare Zeit ohnehin ein; es ist klar, daß ich wenigstens jede aufschiebbare Arbeit zurückstelle.

So komme ich auch jetzt noch nicht dazu, die nothwendige Erweiteruug der ökonomischen Lehren vorzunehmen. Ich habe mich diesmal damit begnügt, das Ganze durchzusehen, einzelne veraltete Angaben über Arbeiterschutzgesetze, statistische Zahlen und dergleichen durch neuere Daten zu ersetzen und ein Kapitel einzufügen über Mehrwerth und Profit, in dem ich wenigstens die Grundlage des dritten Bandes, das Gesetz der Durchschnittsprofitrate, kurz zur Darstellung bringe.

Im Uebrigen habe ich bei meiner Durchsicht des Ganzen nichts zu ändern gefunden. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, die auch von manchem Marxisten getheilt wird, als sei die von uns Marxisten ehedem vertretene Auffassung des ersten Bandes des Kapital durch den dritten Band völlig umgewälzt und als unhaltbar erwiesen worden. Nichts ist irriger als das. Ich habe nach dem Erscheinen des dritten Bandes das vorliegende Buch einer Revision unterzogen, und dabei in theoretischer Beziehung nicht das mindeste zu ändern gefunden. Ich durfte allerdings von vornherein erwarten, daß ich zu diesem Resultat kommen würde, denn Engels hatte das Manuskript der ersten Auflage bereits durchgesehen und es gebilligt zu einer Zeit, wo er schon den Inhalt des dritten Bandes kannte. Hätte er Auffassungen in dem Buche gefunden, die durch den dritten Band als falsch erwiesen wurden, so hätte er mich sicher darauf aufmerksam gemacht.

Für das Gebiet, das der erste Band des Kapital vornehmlich untersucht, jenes, das den Sozialisten hauptsächlich beschäftigt und das auch in der vorliegenden Schrift fast ausschließlich behandelt wird, für das Verhältniß zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse, spielt die Verwandlung des Mehrwerths in den Profit keine Rolle; hier kommt man völlig mit den Gesetzen des Werths und Mehrwerths aus. Dies war auch der Grund, warum Marx im ersten Bande vom Profit völlig absah.

Man darf sich aber nicht etwa einbilden, wie das vielfach geschieht, als hätte Marx, als er den ersten Band des Kapital schrieb, nur die Gesetze des Werths und des Mehrwerths gekannt, und seine Profitratentheorie sei später nur eine hinterdrein ersonnene Ausflucht der Verlegenheit gewesen, um seine Werththeorie mit den ihr anscheinend widersprechenden Erscheinungen der Wirklichkeit zu versöhnen. Vielmehr war, als Marx den ersten Baud schrieb, bereits die ganze Theorie, inbegriffen die Gesetze des Profits und der Grundrente, in seinem Kopfe völlig fertig, und wenn er mit ihrer Darstellung nie zu einem formellen Abschluß kam, so lag das an seiner Gewissenhaftigkeit, die ihn immer wieder zu erneutem Studium der neu auftauchenden Thatsachen trieb, und nicht etwa daran, daß er mit sich selbst nicht ins Reine kommen konnte.

Das wird unzweifelhaft klar für Jedermann werden, sobald die Darstellung der Theorien vom Mehrwerth im Drucke fertig vorliegt. In dem Manuskript, das aus den Jahren 1861-63 stammt, sind bereits sämmtliche Theorien des dritten Bandes entwickelt. Würde der dritte Band den ersten aufheben, dann hätte Marx diesen, der 1867 erschien, „überwunden“, ehe er ihn noch geschrieben!

Die Theorien vom Mehrwerth werden für das Verständniß der Marxschen Theorie vom Mehrwerth nicht minder wichtig sein wie für das Verständniß der in dem Werke selbst untersuchten und kritisirten Theorien. Ich hoffe, es wird mir gelingen, allen Störungen zum Trotz, diesen Abschluß des Marxschen Lebenswerkes bald der Oeffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Berlin-Friedenau, im Mai 1903
K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2011