Karl Kautsky

Das Erfurter Programm
und die Landagitation [1]

(1895)


Text aus: Neue Zeit 1894/95, Bd. 1, S. 278–281.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 1, Frankfurt/M, 1978, S. 210–6.
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Herr Ledebour hat in der bekannten Versammlung vom 14. November im zweiten Berliner Wahlkreis „konstatiert, daß das, was Schönlank und Vollmar in der Agrardebatte gesagt haben, auch Kautsky bereits in seinen Erklärungen zum Erfurter Programm ausgeführt habe, nämlich, daß in der sozialistischen Gesellschaft der kleinbäuerliche Besitz erhalten bleiben solle“! Ich habe sofort eine Richtigstellung dieser „Konstatierung“ an unser Zentralorgan geschickt. Inzwischen aber hat die Fränkische Tagespost Ledebour noch übertrumpft, indem sie in ihrer drastischen Manier erklärt, ich stände „hundert Meilen weiter rechts“, als Vollmar und Schönlank.

Auch einige andere Freunde einer neuen praktischen Bauernagitation berufen sich in letzter Zeit gern auf meine Schrift über Das Erfurter Programm. Um die Legende, die so um diese Schrift gewoben wird, zu zerstreuen, scheint mir die Richtigstellung im Vorwärts nicht zu genügen, es sei mir daher gestattet, an dieser Stelle einen kurzen Kommentar zu meinem Kommentar zu geben nur insoweit, als es nötig ist, um Mißverständnissen zu begegnen Über die Agrarfrage selbst wird ja demnächst ein Berufenerer als ich das Wort in dieser Zeitschrift ergreifen.

Daß einige Genossen übereinstimmend mich mißverstanden haben, beruht wohl darauf, daß ihnen die materialistische Auffassung noch nicht geläufig ist, welche ich in der genannten Schrift der juristischen Auffassung, die wir vom Liberalismus ererbt haben, gegenüberstellte. Ich wies darauf hin, daß die Frage des Sozialismus in letzter Linie nicht eine Frage des Eigentums, sondern eine Frage der Produktionsweise sei, daß jeder besonderen Produktionsweise eine bestimmte Eigentumsform entspreche und daß die Umwälzung des Eigentums durch die Umwälzung der Produktion bedingt werde. Die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel sei also nicht unter allen Umständen möglich und notwendig, sondern nur dort, wo der kapitalistische Großbetrieb bereits eine gewisse Höhe der Entwicklung erreicht habe. Die sozialistische Produktionsweise sei unmöglich dort durchzuführen, wo die kleinbäuerliche Wirtschaft ökonomisch noch nicht überwunden sei.

„Es ist der Großbetrieb“, sage ich in meinem Erfurter Programm, S. 150, „der die sozialistische Gesellschaft notwendig macht. Die genossenschaftliche Produktion erfordert auch das genossenschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Aber so wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Widerspruch steht zu der genossenschaftlichen Arbeit im Großbetrieb, so ist das genossenschaftliche oder gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln im Widerspruch zum Kleinbetrieb.

Dieser erfordert, wie wir gesehen haben, das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die Aufhebung desselben für die Kleinbetriebe wäre um so zweckloser, da ja die Tendenz des Sozialismus dahin geht, die Arbeiter in den Besitz der nötigen Produktionsmittel zu setzen. Für die Kleinbetriebe liefe also die Expropriation der Produktionsmittel darauf hinaus, daß man sie ihren bisherigen Besitzern nähme, um sie ihnen wieder zu geben, ein sinnloses Vorgehen.“

Diese Stelle ist es, auf die sich die Freunde der neuen Taktik mit Vorliebe berufen. Aber nur, wer zwischen einer bestimmten Eigentumsform und einer bestimmten Produktionsweise nicht zu unterscheiden versteht und wer diese Stelle aus dem Zusammenhang reißt, kann daraus schließen, ich sei für die Erhaltung des Kleinbetriebs in der sozialistischen Gesellschaft eingetreten, weil ich erkläre, die gewaltsame Aufhebung des Kleinbesitzes sei nicht unbedingt notwendig.

Was ich sage, ist folgendes: Die juristische Revolution ist zwecklos ohne die ökonomische Revolution. Wenn das Proletariat die politische Macht erobert, wird es neben den Großbetrieben, die es sofort expropriiert, noch die Reste der bäuerlichen und handwerksmäßigen Produktionsform vorfinden. Wie wird es sich ihnen gegenüber verhalten? Das läßt sich, erkläre ich S. 147, 148, mit Bestimmtheit nicht vorhersagen. Aber vom ökonomischen Standpunkt aus wäre es zwecklos, den Kleinbesitz aufzuheben, solange der Kleinbetrieb fortbesteht. Dessen Reste dürften aber – nicht in der sozialistischen Gesellschaft, sondern wie ich ausdrücklich hervorhebe, während des Übergangsstadiums dazu – einige Zeit lang fortbestehen. – Allerdings nicht allzulange Zeit, denn „der Kleinbetrieb ist dem Untergang unrettbar verfallen“ (S. 152), und er wird in der sozialistischen Gesellschaft noch schneller verschwinden müssen als heutzutage.

Wir brauchen die Bauern aber nicht gewaltsam zu enteignen, um zum Großbetrieb zu gelangen.

„Sobald die Angst verschwindet, durch das Aufgeben eines selbständigen Betriebs in das Proletariat geschleudert zu werden, sobald die Vorteile des gesellschaftlichen Großbetriebs für alle daran Beteiligten auf den verschiedensten Gebieten sich geltend machen, sobald jedem die Möglichkeit geboten ist, diese Vorteile mit zu genießen, werden nur noch Narren bestrebt sein, veraltete Betriebsformen zu erhalten.

Was der kapitalistischen Großindustrie binnen einem Jahrhundert nicht gelungen, wird der sozialistische Großbetrieb binnen kurzem erreichen: die Aufsaugung der rückständigen Kleinbetriebe. Er wird es erreichen ohne Expropriation, durch die Anziehungskraft des vorteilhaften Betriebs“ (S. 152, 153).

Daraus spricht für jeden, der unbefangen lesen kann, nicht die Erwartung eines Fortlebens des Kleinbetriebs in der sozialistischen Gesellschaft, sondern nur die Zuversicht, daß der sozialistische Großbetrieb ihm rascher ein Ende machen wird, als der kapitalistische Großbetrieb bisher vermochte.

Wie immer man über diesen Gedankengang denken mag, es ist mir unerfindlich, wie man daraus eine Unterstützung der neuen, uns empfohlenen Taktik konstruieren kann. Noch unerfindlicher aber erscheint mir die Berufung von Anhängern dieser Taktik nicht bloß auf die eine, aus dem Zusammenhang gerissene Stelle, die ich oben zitiert, sondern auf die Schrift überhaupt, der das Zitat entnommen ist.

Der unvermeidliche Untergang des Kleinbetriebs, das ist der rote Faden, der sich durch meine Schrift zieht und an vielen Stellen den unzweideutigsten Ausdruck findet. Die kleinbäuerliche Wirtschaft, sage ich, ist ökonomisch bereits überwunden. Sie behauptet sich nur noch durch Überarbeit und Hungerkonkurrenz. „Die Weiterführung der Existenz des Kleinbetriebs führt zu solcher Verkommenheit, zu solchem Elend, daß man sich fragen könnte, ob man überhaupt das Recht hätte, den Untergang des Kleinbetriebs aufzuhalten, wenn er wirklich aufzuhalten wäre.“ (Erfurter Programm, S. 29; vgl. Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie, S. 9)

Ich habe darauf hingewiesen, daß der „Bauernschutz“, der den Bauern als Produzenten helfen solle, eine Utopie, und keine ersehnenswerte, sei: „Den Handwerkern und Bauern Maßregeln in Aussicht stellen, durch welche ihre Kleinbetriebe lebensfähig gemacht werden, heißt keineswegs ihre Interessen vertreten, es heißt vielmehr Illusionen in ihnen wecken, die sich nie verwirklichen können und die sie vom rechten Weg zur besten Vertretung ihrer Interessen ablenken.“ (Erfurter Programm, S. 254)

Ich habe ferner erklärt, daß nicht die gesamte Bauernschaft für den Sozialismus zu gewinnen sei, sondern nur jener Teil derselben, der sich bereits als Proletarier fühle, wobei ich teils jene Schichten im Auge habe, welche tatsächlich nur noch Lohnarbeiter (Hausindustrielle, Fabrikarbeiter, Taglöhner) mit etwas Land sind, teils jene, die daran verzweifeln, als Bauer noch einmal auf einen grünen Zweig zu kommen. Die Bauern, die sich nicht als Proletarier, sondern als echte Bauern fühlen, sind für uns nicht nur nicht zu gewinnen, sie gehören zu unseren gefährlichsten Gegnern.

„So lange der Handwerker als Handwerker“, heißt es in der Schrift Das Erfurter Programm, S. 180,

„der Bauer als Bauer, der Kleinhändler als Kleinhändler sich fühlt, so lange sie ein kräftiges Klassenbewußtsein haben, müssen sie an dem Privateigentum an den Produktionsmitteln festhalten und dem Sozialismus unzugänglich sein, wie schlecht es ihnen auch gehen mag ...

Nur diejenigen unter den Kleinbauern, die an dem Fortbestand ihrer Klasse verzweifeln, die sich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß die Betriebsformen dem Untergang geweiht sind, auf denen ihre Existenz beruht, nur sie sind imstande, die Lehren des Sozialismus zu erfassen.“

Und in den Grundsätzen usw., S. 23, heißt es: „Soweit Kleinbürger und Bauern sich noch zu den Ausbeutern zählen, soweit sie glauben, durch vermehrte Ausbeutung von Lohnarbeitern sich emporarbeiten zu können, stehen sie den Arbeitern und ihrer Partei feindselig gegenüber, bleiben sie die Gefolgen der alten Parteien, bleiben sie die Stützen einer Gesellschaftsordnung, die sie ruiniert.“

Deutlicher kann man wohl in einer Schrift, die nicht speziell von der Landagitation handelt, nicht davor warnen, die gesamte Bauernschaft für die Sozialdemokratie gewinnen zu wollen.

Ich bin weit davon entfernt, mit Schönlank und Vollmar zu wünschen, daß wir „die Großbauern packen“ und unser Programm und unsere Taktik ihren Bedürfnissen anpassen.

Unsere Aufgabe ist auf dem Land zunächst dieselbe, wie in der Stadt: in den Klassenkampf der Proletarier (ob sie nun noch einen Fetzen Land besitzen oder nicht) fördernd einzutreten durch Organisation, durch Aufklärung über Mittel und Wege und über die Ziele des Kampfes. Das können wir nicht tun, ohne die Ausbeuter gegen uns aufzubringen. Wir können uns nicht Freunde auf dem Lande erwerben, ohne uns auch Feinde zu machen, um so erbittertere Feinde, je praktischer, d. h. je erfolgreicher unsere Landagitation ist.

Hier liegt die Hauptschwierigkeit der Landagitation. Nicht in Äußerlichkeiten, nicht darin, daß manche unserer Genossen es noch nicht genügend dem Bauer abgeguckt haben, wie er sich räuspert und wie er spuckt, sondern darin, daß jene Klassen auf dem Land, an die wir uns zu wenden brauchen, jene, die nichts zu verlieren haben, als ihre Ketten und denen wir daher den Sozialismus keineswegs in homöopathischen (d. h. arg verwässerten) Dosen zu reichen haben, daß jene Klassen die abhängigsten, gedrücktesten, in jeder Weise unselbständigsten Elemente der Bevölkerung sind. Dagegen gehören ihre Ausbeuter, die großen wie die kleinen, zu den trotzigsten und rücksichtslosesten Volksschichten im Land. Und so muß unsere Landagitation vielfach dahin führen, uns neben schwachen Freunden, die sich nicht hervorwagen dürfen, kraftvolle und höchst lärmende Feinde zu erwerben. An manchen Orten werden wir unsere Erfolge in der Landagitation zunächst nicht an der Zunahme unserer offenen Anhänger, sondern an der wachsenden Erbitterung der ländlichen Protzen gegen uns zu messen haben. Wer nur nach Augenblickserfolgen verlangt, mag daher die rein proletarische Art der Landagitation höchst unpraktisch finden; bequemer ist es jedenfalls, unser Programm in die Tasche zu stecken, die Lohnarbeiter der Mittel- und Großbauern ihrem Schicksal zu überlassen und für diese „als Steuerzahler, Schuldner und Landwirte“ „Bauernschutz und Staatshilfe“ zu verlangen. Und dazu bedarf es allerdings einer gründlichen Umwälzung unseres Programms und unserer Taktik. Aber blieben wir dann noch die Partei des proletarischen Klassenkampfs?

Aber selbst die Augenblickserfolge dieser neuen Taktik wären höchst prekärer Natur; es würde uns so gehen, wie jenem französischen Soldaten im russischen Feldzug, der ausrief: „Hurrah, ich habe einen Kosaken gefangen – auweh, er läßt mich nicht los.“

Wir würden die Gefangenen der Bauern werden, ohne festen Fuß unter ihnen zu fassen. Heute schon schielen manche unserer Genossen bei jeder Aktion nach den Bauern: Was werden die dazu sagen? Noch haben wir nicht bäuerliche Parteigenossen in erheblicher Anzahl und bereits beginnen die Bauern unsere Taktik und unser Programm zu beeinflussen. Haben unsere bayerischen Abgeordneten nicht aus Rücksicht auf die Bauern für das Budget gestimmt? Und hat dieselbe Rücksicht nicht dahin geführt, daß die Vollmar-Schönlanksche Resolution über die Agrarfrage sich so vorsichtig ausdrückt, daß sie die Forderung fallen läßt, Grund und Boden solle das Eigentum der Gesellschaft werden und nur verlangt, daß Grund und Boden „den Produzenten zurückgegeben werde, die heute als Lohnarbeiter oder Kleinbauern im Dienst des Kapitals das Land bestellen“?

Diese Forderung können auch jene radikalen bürgerlichen Demokraten unterschreiben, die fordern, der Großgrundbesitz solle parzelliert und an Landarbeiter verteilt werden. So vieldeutig jedoch jener Satz der Agrarresolution auch sein mag, eines bedeutet er sicher nicht: die Vergesellschaftung des Grund und Bodens. Denn er beschränkt den Kreis der Produzenten, denen der Grund und Boden zurückgegeben werden soll, auf die Lohnarbeiter und Kleinbauern, die das Land bestellen. Hier taucht also die alte, längst überwundene Forderung wieder auf: das Land den Landarbeitern, woran sich konsequent die Forderung schließt: Die Mine den Grubenarbeitern, die Fabrik den Fabrikarbeitern.

Für diesen argen theoretischen Rückschritt ist nur ein Grund ersichtlich: die Rücksicht auf die Bauern. Noch haben wir sie nicht gepackt, aber sie haben bereits uns!

Und warum dies alles? Haben unsere theoretischen Grundlagen, unsere Taktik sich als nicht ausreichend erwiesen?

Ich denke, sie haben sich glänzend bewährt, nie glänzender als in den letzten vier Jahren. Warum sie aufgeben, warum die alten Agitationshefte verbrennen, die so viel erreicht haben, warum in nervöser Hast nach einer neuen Taktik und nach einem neuen Programm suchen? Und gerade jetzt, angesichts der Umsturzvorlage, scheint uns der ungünstigste Zeitpunkt, uns von den alten erprobten Grundlagen abzuwenden. Im Angesicht des Feindes verändert man nicht ohne zwingenden Grund die Angriffspositionen, die man einmal eingenommen.

Die große Schwierigkeit für unsere Partei ist heute nicht die übermäßige Langsamkeit, sondern die Schnelligkeit ihres Wachstums. Seit 1890 sind uns so massenhaft neue Elemente zugeströmt, daß die alten Genossen gar nicht ausreichen, sie zu bilden und aufzuklären, um so weniger, als auch die praktischen Aufgaben enorm wachsen und die geschulten Kräfte absorbieren. Woran wir Mangel leiden, sind nicht Anhänger, sondern klare, durchgebildete Parteigenossen. Deren Zahl wird relativ immer geringer. Diesem Mangel abzuhelfen, ist heute eine unserer wichtigsten, vielleicht die wichtigste unserer nächsten Aufgaben. Ihre Lösung wird nicht gefördert durch die Anlockung von Elementen, die von unseren letzten Zielen nichts wissen wollen, und durch die Politik der homöopathischen Dosen.


Anmerkung des Verfassers

1. Vorliegende Zeilen waren schon gesetzt, als mir Herrn Ledebours Entgegnung auf meine Richtigstellung im Vorwärts zukam. Ihr wesentlichster Teil erledigt sich durch das Obige. Auf Herrn Ledebour selbst hier einzugehen habe ich keine Ursache.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012