Karl Kautsky

William Morris

(Geboren 1834, gestorben den 3. Oktober 1896)


Aus: Zweite Beilage zum Wahren Jacob, Nr. 268, 27 Oktober, 1896.
HTML-Markierung: Graham Seaman, für das Marxists’ Internet Archive.


Vor wenigen Tagen haben die englischen Sozialisten einen ihrer besten und bedeutendsten Genossen zu Grabe getragen, einen Mann, einzig in seiner Art, den Dichter William Morris. Nach keiner Richtung hin Schablonenmensch, in jeder Beziehung eigenartig und seine Eigenart mit Entschiedenheit verteidigend, erschien er doch nie abstossend, sondern stets ungemein liebenswürdig und völlig harmonisch. Sozialist durch und durch, war er doch vor allem Künstler. Als Künstler lernte er die gesamte Bourgeoiszivilisation hassen, auch jene ihrer Seiten, durch die sie die Vorbedingungen für ein höheres Dasein der Menschheit schafft. Sein Ideal war die Handarbeit des freien Künstlers. Nicht nur die kapitalistische Anwendung der Maschine, nein, auch diese selbst war ihm ein Gräuel.

Und ebenso war ihm ein Gräuel die Fachborniertheit, die einseitige Arbeitsteilung. Er selbst gehörte zu den vielseitigsten Menschen. Morris war nicht bloss Dichter. Gleich den Geisteshelden der italienischen Renaissance arbeitete er auf den verschiedensten Gebieten mit Erfolg. Nichts weniger als ein weltfremder Träumer, erwies er sich als ein sehr kluger Organisator und Verwalter, als leidenschaftlicher Agitator, als scharfblickender Kulturhistoriker und als ein höchst feinsinniger bildender Künstler.

Aus der vorkapitalistischen Zeit holte sich seine dichterische Phantasie am liebsten ihre Anregungen, aus der Antike, namentlich aber aus der germanischen Vorzeit, der Edda und isländischen Sagenkreisen.

Seine Dichtungen stellten ihn in die erste Reihe der englischen Dichter seiner Zeit. Wäre er nicht Sozialist gewesen, dann hätte man ihn nach Tennysons Tod zu den Kandidaten für den erledigten Posten des Poeta laureatus, des Dichterkönigs zählen dürfen, welche Würde in England abgeschmackter Weise immer noch, und zwar als Hofamt verliehen wird. Aber auch bevor er Sozialist wurde – und Morris war früher ein berühmter Dichter, ehe er Sozialist war – hätte er zu dem Amt nicht getaugt. In seiner schlichten Geradheit und Rücksichtslosigkeit, in seiner Liebe für die Unterdrückten und seinem Hass gegen jede Unterdrückung war er stets das Gegenteil eines Höflings.

Als bildender Künstler entsprach seine Individualität am meisten die Kunst des ausgehenden Mittelalters. In Gemeinschaft mit gleichgesinnten Künstlern unternahm er es, den englischen Geschmack, den die Alleinherrschaft des Kapitals ganz heruntergedrückt, wieder zu heben, und zwar im Sinne der Wiederbelebung des Mittelalters und der Frührenaissance. Mit seinen Genossen gründete er 1861 eine Werkstatt, aus der später eine große Fabrik wurde, zur Innendekoration von Wohnräumen, zur Herstellung von Tapeten, Möbeln, Teppichen und dergleichen.

Das Unternehmen hatte künstlerisch wie geschäftlich großen Erfolg; es machte Morris zum reichen Mann und trug viel zur Verbesserung des architektonischen Geschmacks in England bei. Morris dachte jedoch nicht besser von der Bourgeoisie, weil ihre Mode zeitweise seinen Geschmack angenommen hatte. Es war eben nur die Mode und kein tieferes künstlerisches Empfinden dabei im Spiel. Er pflegte gern darüber zu scherzen: „Es gibt keine größeren Narren als die Leute, die meine Tapeten kaufen – ausgenommen die Leute, die sie nicht kaufen“.

In seinem mit Vorliebe für die Vergangenheit gemischten Hass gegen die Bourgeoiszivilisation hatte er vieles mit Tolstoi gemein, den er auch bis zum Erscheinen der Kreutzersonate sehr verehrte. Diese aber zeigte ihm, welch großer Gegensatz zwischen ihnen beiden bestehe. In seinem Hass gegen die Gegenwart, in seiner Idealisierung der Vergangenheit steckte bei Morris keine Spur der Abwendung vom Leben. Lebenslust und Lebenskraft pulsierten mächtig in ihm und drängten ihn auf den Markt des Lebens und zur Teilnahme an den Kämpfen des Tages, zur Teilnahme an dem Ringen der Gegenwart für eine bessere Zukunft. Und so wurde Morris trotz seiner mittelalterlichen Neigungen nicht Asketiker und Mystiker wie Tolstoi, sondern Sozialist.

England, das Mutterland der kapitalistischen Produktionsweise, hat auch die erste mächtige sozialistische Arbeiterbewegung gesehen, die Chartisten. Die Niederlagen des Jahres 1848 machten dieser Bewegung ebenso wie den demokratischen Bewegungen des übrigen Europa vorläufig ein Ende. Als aber Anfang der sechziger Jahre der Sozialismus überall wieder sein Haupt erhob, entsprach dem nicht ein ähnliches Wiederaufleben in England. Die Ursachen davon auseinanderzusetzen, würde zu weit führen. Es genüge, darauf hinzuweisen, dass diese Erscheinung teils mit dem Welthandelsmonopol Englands, teils mit den Erfolgen der Gewerkschaftsbewegung und der Erteilung des Stimmrechts an einen Teil der Arbeiterschaft zusammenhängt, wodurch die Arbeiterschaft in zwei Teile, einen privilegierten und einen anscheinend hoffnungslos verelendeten, gespalten wurde.

Dank dieser Einflüsse kam es, dass der moderne Sozialismus in England zwei Jahrzehnte später als auf dem Kontinent zur Entfaltung gelangte. Die Krise, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wütete und die dem goldenen Zeitalter der englischen Industrie ein- für allemal ein Ende machte; das Unvermögen der Gewerkschaften, allen Notständen zu begegnen, welche diese Krise auch über die besser gestellten Arbeiterschichten verhängte, und endlich das politische und soziale Erwachen auch der tiefer gelegenen Arbeiterschichten, alles das bewirkte, dass zu Beginn der achtziger Jahre die überkommene Manchesterweisheit in weiten kreisen Bankrott machte und der Sozialismus anfing, auch in England Anhänger zu finden.

Einer der ersten, die sich der neuen Lehre anschlossen, war William Morris; einer der ersten und einer der eifrigsten. Obwohl bereits ein Fünfziger, warf er sich mit dem Feuereifer eines Jünglings in die Bewegung, der er sein Geld, seine Feder, seine ganze Person zur Verfügung stellte.

Alles das brauchte man so notwendig! Wie immer, so erkannten auch diesmal Bourgeoisie und die Regierung (namentlich die Tories, die eine rein kapitalistische Partei geworden waren) früh, welch gefährlicher Feind der Sozialismus sei, als das Proletariat einsah, welch treuen Freund es in ihm habe. An Verfolgungen war kein Mangel, dagegen fehlte es den Sozialisten gar sehr an Kräften und Mitteln. Die kleine Schar von Enthusiasten hatte alle ihre Kräfte anzustrengen, um ihre propagandistische Arbeit erfolgreich vollbringen zu können. Angesichts der Schwierigkeiten, einer eigenen Presse weitere Verbreitung zu verschaffen und Versammlungslokale aufzutreiben – das eine wie das andere erfordert in England große Mittel – war für die Sozialisten die Propaganda unter freiem Himmel von besonderer Wichtigkeit. Und hier setzte auch vor allem die Gegnerschaft von Regierung und Polizei ein. Die ganzen achtziger Jahre hindurch dauerten ununterbrochen die Kämpfe zwischen den Sozialisten und der Polizei um das Recht, auf jedem freien Platz, an jeder Straßenecke, wo der Verkehr es erlaubte, eine Versammlung abhalten zu dürfen. Dieses Recht musste der Polizei durch unermüdliches Widerstreben gegen ihre Anordnungen für jede Lokalität besonders abgerungen werden. Es war eine willkommene Hilfe, dass an diesen Kämpfen nicht nur unbekannte Proletarier, um die sich niemand kümmerte, sondern auch Leute wie Morris teilnahmen, die selbst beim Philister hochangesehen waren. Die Polizisten freilich behandelten ihn ebenso unsanft wie seine Genossen, aber das große Publikum stellte sich eher auf die Seite des Dichters.

Ebenso unermüdlich, der Polizei und jedem Wetter trotzend, wie in dem Kampf um das Recht der Versammlung, nahm Morris auch an der zweiten wichtigen Tätigkeit teil, die den englischen Sozialisten in den achtziger Jahren zufiel, der Organisation von Demonstrationen der Arbeitslosen, um die öffentlichen Gewalten zu veranlassen, sie zu unterstützen. Die Arbeitslosigkeit nahm in jenen Zeiten der höchsten wirtschaftlichen Depression einen Schrecken erregenden Grad an, aber weder Regierungen noch Gemeindevertretungen rührten sich, dem Elend zu steuern. Da waren es die Sozialisten, die die Arbeitslosen versammelten und organisierten, um die Öffentlichkeit auf die furchtbaren Zustände aufmerksam zu machen.

Diese Aufgabe war weit weniger gefährlich und doch unangenehmer als der Kampf um das Versammlungsrecht.

Dem letzteren Kampf haftete stets etwas Begeisterndes, oft etwas Großartiges an, wie z. B. dem „blutigen Sonntag“ vom 13. November 1887 am Trafalgar Square, wo fast die gesamte Polizeimacht Londons sowie Militär, Infanterie und Kavallerie, aufgeboten war; es war der Kampf des politisch am höchsten stehenden Teils der Arbeiterklasse. Die meisten der Demonstrationen der Arbeitslosen wirkten dagegen niederdrückend. Das Eastend spie bei diesen Gelegenheiten seine verkommensten Lumpenproletarier aus, nicht jene Elemente, die das Proletariat zum Siege führen und befreien werden, sondern jene, die wie ein Bleigewicht an der Arbeiterklasse hängen und die das Elend schon so gebrochen hat, dass sie sich jedem um einen Schnaps verkaufen.

Die Kämpfe ums Versammlungsrecht endeten oft unglücklich aber stets würdig. Die Demonstrationen der Arbeitslosen endeten dagegen mitunter in recht wüsten Szenen, einmal mit Plünderung und Diebstahl – nicht nur von Lebensmitteln, sondern auch von Gold und Silber.

Nichtsdestoweniger zögerte Morris nicht, auch sein Teil an Verantwortung und Arbeit beizutragen, um diesen Unglücklichen Brot zu schaffen.

Alle diese Arbeiten zusammen mit den zahllosen propagandistischen Vorträgen und Diskussionen der kleinen Schar der Sozialisten der achtziger Jahre trugen gute Früchte und bahnten dem Sozialismus den Weg in die Massen des englischen Proletariats. Aber sie erzielten nicht das, was die Sozialisten erhofft hatten. Diese hatten erwartet, mit der alten Gesellschaft im Handumdrehen fertig zu werden; es war das jene Unterschätzung der Schwierigkeiten, die jeder jungen sozialistischen Bewegung eigen ist. Ein gewisser Rückschlag gegen diesen Optimismus war unvermeidlich.

Gerade um die Zeit, als die sozialistischen Ideen sich in den Massen ausbreiteten und Wurzel fassten, begann unter der Mehrzahl der englischen Sozialisten eine Art Mauserung sich zu vollziehen, und wie so oft verfiel man nun ins entgegengesetzte Extrem. War vordem die größte Sorge die gewesen, wie man den Zukunftsstaat einrichte, so machte sich nun vielfach das Bestreben geltend, gewaltsam sich jedem weiteren Blick zu verschliessen und ganz in dem Nächstliegenden aufzugehen.

Morris machte diese Mauserung nicht mit. Aber er bleib doch nicht ganz unberührt davon. Dazu mögen persönliche Erfahrungen mitgeholfen haben.

Zuerst war er der 1881 gegründeten „Democratic Federation“ beigetreten, die 1883 den Namen „Socialdemocratic Federation“ (S.D.F.) annahm, den sie heute noch führt. 1885 vollzog sich eine Spaltung in dieser Organisation. Ein Teil ihrer Mitglieder, darunter Morris, das Ehepaar Aveling, Belfort Bax, Scheu und andere traten aus und gründeten die „Socialist League“. Die Ursachen der Spaltung waren teils persönlicher, zum Teil aber auch sachlicher Natur. Die Mehrheit der „Socialdemocratic Federation“ unter Hyndman suchte die Taktik der deutschen Sozialdemokratie ohne Weiteres nach England zu übertragen und wollte namentlich an Parlamentswahlen teilnehmen. Das war damals aus den verschiedensten Gründen ein ebenso aussichtsloses wie gefährliches Beginnen, wie sich bald nach der Trennung bei den Wahlen jenes Jahres zeigte. Die beiden Londoner Kandidaten der S.D.F. erhielten 27 und 32 Stimmen, und um dies klägliche Resultat zu erreichen hatte man sich noch prostituiert und von den Tories Geld zur Deckung der Wahlkosten genommen! Nichts konnte die Sache des Sozialismus mehr schädigen als diese Wahl.

Darin hatten Morris und seine Freunde ganz recht. Aber indem sie als unbedingte Wahrheit hinstellten, was nur eine bedingte war, verfielen sie in den entgegengesetzten Fehler; aus dieser Gegnerschaft gegen die augenblickliche Beteiligung am Wählen wurde eine Gegnerschaft gegen das Wählen und die politische Tätigkeit überhaupt. Damit war den Anarchisten der Zugang zur „Socialist League“ geöffnet. In dem Maße, in dem der anarchistische Einfluss stiegt, trennten sich Morris’ alte Freunde von ihm – politisch, denn persönlich blieben sie in herzlichstem Einvernehmen. Die Aveling, Bax, Scheu traten aus der „Socialist League“ aus und diese wurde nun ein Tummelplatz von enthusiastischen Konfusionsräten und geriebenen Gaunern, die darin wetteiferten, zur größeren Ehre des Anarchismus Morris die Tasche zu plündern.

Der Höhepunkt dieses Treibens fiel in das Ende der achtziger Jahre, als gleichzeitig teils infolge von Enttäuschungen, teils infolge der Wirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs, namentlich des Erstehens des neuen Unionismus, ein großer Teil der englischen Sozialisten sich neuen Aufgaben zuwandte. Alles das blieb auf Morris nicht ohne Einfluss. Er zog sich von der „League“ zurück, die nur von ihm und durch ihn gelebt hatte und die bald darauf einging, und beschränkte seine Tätigkeit im Wesentlichen fortan auf den sozialistischen Verein seines Wohnortes, die „Hammersmith Socialist Society“.

Aber wie wenig das ein Erkalten seines sozialistischen Enthusiasmus bedeutete, zeigen uns seine literarischen Schöpfungen. Gerade in den letzten Jahren seines Lebens hat er uns seine schönsten sozialistischen Dichtungen geschenkt, 1888 seinen Dream of John Ball, die farbenreiche Darstellung einer Episode aus dem englischen Bauernkrieg, mit Ausblicken in Gegenwart und Zukunft, und 1891 seine Utopie voll entzückten Liebreizes News from Nowhere. 1893 gab er mit Belfort Bax den Abriss einer Geschichte des Sozialismus heraus, Socialism, its growth and outcome.

Seine letzte Tätigkeit als Sozialist bestand in dem Versuch, die zersplitterten und einander feindselig gegenüberstehenden sozialistischen Fraktionen Englands zu einigen. Der Versuch war leider von vorne herein zum Scheitern verurteilt, denn die persönlichen und taktischen Gegensätze, die überwunden werden mussten, waren zu tiefgehend. Wie in Frankreich wird auch in England die Einigkeit der Sozialisten nicht das Produkt des Eingreifens wohlmeinender Vermittler, sondern nur des Zwanges der Verhältnisse sein.

Wenn aber jemand die sozialistischen Fraktionen hätte einigen können, wäre es William Morris gewesen. Er hatte manchen Gegner, aber keinen Feind. Es gab keinen in der gesamten Schar der Sozialisten Englands, der so sehr die allgemeine Achtung und Verehrung genoss wie Morris; keinen, der mit so glänzenden Leistungen nicht nur völlige Selbstlosigkeit, sondern auch völlige Anspruchslosigkeit vereinigte; keinen, bei dem so sehr mit der Charakterfestigkeit des Mannes die abgeklärte Toleranz des Greises und die feurige Hingabe des Jünglings Hand in Hand ging.

Er war geschaffen, uns die Menschen einer vollkommeneren Gesellschaft zu schildern. Er brauchte nur in die eigene Brust zu greifen.

K.


Zuletzt aktualisiert am 5. November 2020