Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Vorrede


Vorliegende Schrift wurde durch die Diskussionen veranlaßt, welche sich tun das auf dem Frankfurter Parteitag der Deutschen Sozialdemokratie angeregte und auf dem Breslauer Parteitag abgelehnte Agrarprogramm entsponnen hatten. Wie immer man über diese Diskussionen denken mag, eines zeigten sie deutlich, daß in der deutschen wie in der internationalen Sozialdemokratie die Anschauungen über die Tendenzen der modernen landwirthschaftlichen Entwicklung weit auseinander gehen, so daß eine unbestrittene Grundlage für eine entschiedene Agrarpolitik der Sozialdemokratie noch nicht gewonnen ist.

Einstimung wurde daher in Breslau erklärt, eine eingehendere theoretische Erforschung der agrarischen Verhältnisse sei nothwendig und möglichst zu fördern.

Es hätte freilich nicht dieses Anlasses bedurft, um mir Interesse für die Landfrage einzuflößen. Schon in den Anfängen meiner Parteithätigkeit hatte sie mich lebhaft beschäftigt. 1878, als ich noch unter dem Pseudonym „Symmachos“ schrieb, veröffentlichte ich bereits im Wiener Sozialist eine Artikelserie Die Bauern und der Sozialismus, deren Separatabdruck dann als Agitationsbroschüre erscheinen sollte, die aber durch Konfiskation der ganzen Auflage aus dem Wege geräumt wurde. 1879 beendigte ich meine Schrift über den Einfluß der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft, in der die Frage der Lebensmittelproduktion eine große Rolle spielt, 1880 brachte das Richtersche Jahrbuch meinen Artikel über die Agitation unter den Bauern, 1881 erörterte ich in den Staatswirthschaftlichen Abhandlungen die Frage der überseeischen Lebensmittelkonkurrenz. Außerdem verfaßte ich damals eine Reihe von Bauernflugblättern, Der Onkel aus Amerika und andere.

Als daher in der Mitte dieses Jahrzehnts die Agrarfrage in den Vordergrund der Diskussionen der sozialistischen Parteien Europas trat, hatte ich blos eine alte Bekanntschaft zu erneuern – eine Bekanntschaft, die ich nie aus den Augen gelassen. Durch das Alter hatte sie an Interesse nur gewonnen, sowohl praktisch wie theoretisch. Das Wachstum unserer Partei wie die Agrarkrisis hatten sie zu einer der wichtigsten unter den praktischen Fragen erhoben, mit denen sich die Sozialdemokratie zu befassen hat. Inzwischen war auch der Marxismus allenthalben die Grundlage der sozialistischen Bewegung geworden, war der dritte Band des Kapital mit seinen glänzenden Untersuchungen über die Grundrente erschienen, hatte aber gerade die Entwicklung der Landwirthschaft Erscheinungen gezeitigt, die unvereinbar mit den Marxistischen Theorien erschienen. So gerieth die Agrarfrage auch in den Vordergrund des theoretischen Interesses.

Bei der Behandlung des mir von früher her bekannten Themas erwartete ich keine besonderen Schwierigkeiten zu finden, und ich mußte um so mehr wünschen, mit meiner Arbeit bald vor das Publikum zu treten, als es sich bei ihr nicht um akademische, sondern um praktische Fragen von größter Aktualität handelt. Trotzdem hat es drei Jahre gedauert, bis sie in die Oeffentlichkeit gelangen konnte. Dies ist theils zahlreichen Unterbrechungen zuzuschreiben, die hervorgerufen wurden durch meine Berufsstellung, die Beschäftigung mit Tagesfragen, sowie den mir seit Engels Tode zugefallenen Antheil an der Herausgabe des Marxschen Nachlasses, theils dem Umstand, daß ich meine Untersuchungen vornehmlich auf die Ergebnisse der jüngsten landwirthschaftsstatistischen Aufnahmen begründen wollte, auf die der Enquete der parlamentarischen Agrarkommission in England, des die Agrikultur behandelnden dritten Bandes des amerikanischen Zensus von 1890, der französischen Agrarenquete von 1892 und der deutschen landwirthschaftlichen Betriebs- und Berufsstatistik von 1895 – alles Publikationen, die erst 1897 oder gar 1898 erschienen sind.

Ueberdies aber stellte sich im Fortgang der Arbeit heraus, daß es Unmöglich war, das, was sie leisten sollte, im Rahmen einer Broschüre zu leisten, wie ich geplant hatte.

Was uns am meisten noth thut, ist meines Erachtens nicht eine Vermehrung der bereits so zahllosen landwirthschaftlichen Monographien und Enqueten um eine neue. So dankenswerth diese auch sein mögen, an Aufschlüssen über die Verhältnisse der Landwirthschaft fehlt es gerade nicht; die Regierungen, die Wissenschaft und Publizistik der herrschenden Klassen werfen eine geradezu erdrückende Fülle davon jahraus jahrein in die Oeffentlichkeit; was man braucht, das ist die Bloßlegung des rothen Fadens, der sich durch dies Gewirr der mannigfaltigsten Thatsachen hindurchzieht, daß ist die Erforschung der Grundtendenzen, die unter der Oberfläche der Erscheinungen wirksam sind und diese bestimmen. Es handelt sich darum, die verschiedenen Einzelfragen der Agrarfrage, das Verhältniß zwischen Groß- und Kleinbetrieb, Verschuldung, Erbrecht, Arbeitermangel, überseeische Konkurrenz &c., die heute in der Regel jede für sich allein als gesonderte Erscheinung untersucht werden, als Theilerscheinungen eines Gesammtprozesses zu betrachten.

Die Aufgabe ist eine schwierige, das Thema ein gewaltiges und ausreichendes Vorarbeiten vom modernen sozialistischen Standpunkt aus mir nicht bekannt. Die Theoretiker der Sozialdemokratie haben sich naturgemäß hauptsächlich der Erforschung der industriellen Entwicklung gewidmet. Wohl haben Engels und namentlich Marx auch Bedeutendes über agrarische Verhältnisse gesagt, aber in der Regel nur in gelegentlichen Bemerkungen oder kurzen Artikeln. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt über die Grundrente im dritten Bande des Kapital, dieser ist jedoch nicht vollständig zum Abschlusse gelangt. Marx starb, ohne sein Lebenswerk vollendet zu haben. Aber auch wenn er es vollendet hätte, fänden wir darin nicht alle jene Aufschlüsse, die wir jetzt suchen. Denn dem Plane seiner Arbeit entsprechend behandelt er darin nur die kapitalistische Landwirthschaft, was uns heute am meisten beschäftigt, ist aber gerade die Rolle der vorkapitalistischen und nichtkapitalistischen Formen der Landwirthschaft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft.

Trotzdem ist das Kapital unschätzbar für unsere Erkenntniß der landwirthschaftlichen Zustände, unschätzbar nicht blos durch seine Resultate, sondern, und mehr noch, durch seine Methode, die es uns ermöglicht, auch über seinen Bereich hinaus fruchtbringend weiter zu arbeiten. Sollte es mir gelungen sein, in vorliegender Schrift neue, fruchtbare Gedanken zu entwickeln, so bin ich dafür vor Allem meinen beiden großen Meistern zu Dank verpflichtet, und ich betone das hier um so lieber, als seit einiger Zeit selbst in sozialistischen Kreisen, sich Stimmen erheben, die den Standpunkt von Marx und Engels für veraltet erklären; sie hätten zu ihrer Zeit ganz Anerkennenswerthes geleistet und böten noch heute reiche Anregungen, aber wer nicht in Dogmatismus verknöchern wolle, müsse sie überwinden, um über sie hinweg zu höheren Anschauungen zu gelangen. Dies sei schon vom Standpunkt der Marxistischen Dialektik selbst geboten, der zu Folge es ewige Wahrheiten nicht giebt und jede Entwicklung aus der Negation des Bestehenden entsprießt.

Das sieht sehr philosophisch aus, führt uns aber zu dem famosen Schluß, daß Marx schon deshalb Unrecht habe, weil er Recht habe, daß die Dialektik schon deswegen falsch sein müsse, weil sie richtig sei, einem Schluß, an dem allerdings das Eine unleugbar ist: die Falschheit der Dialektik – aber nicht der Marxistischen.

Engels hat schon in seinen, Antidühring (2. Aufl., S. 133) darauf hingewiesen, wie albern es sei, eine Negation, die vernichtet, als ein Glied des dialektischen Prozesses anzusehen. Die Entwicklung durch die Negation besagt keineswegs die Negation al les Bestehenden; sie setzt vielmehr den Fortbestand. des zu Entwickelnden voraus. Die Negation der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus bedeutet nicht die Aufhebung der menschlichen Gesellschaft, sondern nur die Aufhebung bestimmter Seiten einer ihrer Entwicklungsphasen. Aber sie bedeutet auch keineswegs die Aufhebung aller jener Seiten, welche die kapitalistische Gesellschaft von der ihr vorhergehenden Gesellschaftsform unterscheiden. Ist das kapitalistische Eigenthum Negation des individuellen, so ist der Sozialismus „Negation der Negation. Diese stellt das individuelle Eigenthum wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Aera“ (Marx, Kapital, 2. Aufl., S. 793).

Die Entwicklung ist nur dann ein Fortschritt, wenn sie nicht blos negirt, aufhebt, sondern auch erhält, wenn sie neben dem Bestehenden, das werth ist, zu Grunde zu gehen, auch Bestehendes vorfindet, das werth ist, erhalten zu werden. Der Fortschritt besteht insofern in einem Aufhäufen der Errungenschaften früherer Entwicklungsphasen. Die Entwicklung der Organismen wird bedingt nicht blos durch Anpassung, sondern auch durch Vererbung; die Klassenkämpfe, welche die menschliche Gesellschaft entwickeln, sind nicht bloß auf Zerstörung und Neubildung, sondern auch auf Eroberung, damit aber Erhaltung von Bestehendem gerichtet; der Fortschritt der Wissenschaft wäre ebenso unmöglich ohne die Ueberlieferung ihrer früheren Leistungen wie ohne deren Kritik, und der Fortschritt der Kunst entspringt nicht nur der alle Schranken des Herkömmlichen durchbrechenden Originalität des Genies, sondern auch dem Verständniß für die Meisterwerke seiner Vorgänger.

Die Erkenntniß dessen, was jeweilen hinfällig und was zu konserviren ist, kann nur aus der Erforschung der Wirklichkeit gewonnen werden; die Dialektik ist absolut ungeeignet dazu, als Schablone zu dienen, und diese Erforschung zu sparen. Sie ist nur ein Mittel, das Forschen methodisch zu gestalten, den Blick des Forschenden zu schärfen. Darin besteht ihr hoher Werth. Aber sie giebt ihm nicht ohne Weiteres fertige Resultate in die Hand.

Die Annahme, daß aus der Marxschen Lehre von vornherein die Nothwendigkeit ihrer eigenen Ueberwindung hervorgeht, beruht also auf einer ganz falschen Auffassung ihrer Dialektik. Ob und inwieweit sie ein Irrthum, inwieweit sie ein κτῆμα ἐς ἀεί, ein dauernder Gewinn der Wissenschaft, das kann nicht durch die Berufung auf die Dialektik entschieden werden, sondern nur durch die Erforschung der Thatsachen. Diese scheinen mir aber bisher keineswegs zur „Negation“ des Marxismus beizutragen. Wohl sehe ich Bedenken und Zweifel auftauchen, nirgends aber neue Wahrheiten, die bestimmt wären, den Marxismus zu überwinden. Bloße Bedenken und Zweifel bilden aber keine Negation im Sinne der Dialektik, bedeuten keine Entwicklung über die gewonnene Erkenntniß hinaus, keine Ueberwindung derselben.

Die Ursache dieser Zweifel scheint mir mehr in den Personen der Zweifler als in der angezweifelten Lehre begründet zu sein. Das schließe ich nicht nur aus den Resultaten, welche eine Prüfung solcher Bedenken ergiebt, sondern auch aus den Erfahrungen, die ich an mir selbst gemacht.

Meine Sympathien gehörten in den Anfängen meiner Beschäftigung mit dem Sozialismus durchaus nicht dem Marxismus. Ich trat ihm ebenso kritisch und zweifelnd entgegen, wie nur irgend einer derjenigen, die heute verachtungsvoll auf meinen Dogmenfanatismus herabsehen. Nur widerstrebend wurde ich Marxist. Aber damals, sowie später, so oft mir in einer grundlegenden Frage Zweifel aufstiegen, habe ich schließlich stets gefunden, daß die Schuld an mir lag und nicht an meinen Meistern, daß eine Vertiefung in den Gegenstand mich zwang, ihren Standpunkt als den berechtigten zu erkennen. So hat jede Neuprüfung, jeder Versuch einer Revision bei mir nur zu vermehrter Zuversicht, verstärkter Anerkennung der Lehre geführt, deren Verbreitung und Anwendung die Aufgabe meines Lebens geworden ist.

Die Thatsacheu der landwirthschaftlichen Entwicklung haben die stärksten Zweifel an dem „Marx’schen Dogma“ hervorgerufen. Wie weit diese berechtigt, soll vorliegende Schrift zeigen.

Berlin-Friedenau, Dezember 1898

K. Kautsky



Zuletzt aktualisiert am 27.2.2012