Karl Kautsky

Die Sozialdemokratie
und die katholische Kirche

III. Proletariat und Kirche

Das Proletariat nimmt unter den Klassen der gegenwärtigen Gesellschaft eine ganz eigenartige Stellung ein: Es ist die unterste aller Klassen; es beherrscht keine und kann sich ökonomisch über keine der andern Klassen erheben. Wenn es die politische Gewalt erobert, kann es sie nur dazu benützen, die Klassen und sich selbst aufzuheben, nicht dazu, eine neue Klassenherrschaft an Stelle der bisherigen zu setzen. Es strebt daher die politische Macht nicht an, um die Werkzeuge der Klassenherrschaft sich dienstbar zu machen, sondern dazu, diese Werkzeuge aus dem Wege zu räumen. Insofern steht es, wie wir schon bemerkt, der Kirche, als einem Mittel der Klassenherrschaft, feindlich gegenüber.

Aber die Kirche ist nicht bloß ein Werkzeug der Klassenherrschaft, die von ihr gelehrte Religion entspricht auch heute noch starken Bedürfnissen breiter Massen. Als unterste der Klassen, als diejenige Klasse, deren Meinungs- und Gewissensfreiheit von den andern Klassen am meisten eingeschränkt wird, muss das Proletariat für unbedingte Religionsfreiheit sein, jeden nach seiner Fasson selig werden zu lassen. Es würde sich in Widerspruch mit den historischen Aufgaben setzen, die aus seiner gesellschaftlichen Stellung entspringen, wollte es die kirchlich gesinnten Massen hindern, ihre religiösen Bedürfnisse in ihrer Weise zu befriedigen. Insofern muss die Sozialdemokratie der Kirche neutral gegenüberstehen. Wie ist das aber zu vereinigen mit dem Gegensatz zu dieser als einem Mittel der Klassenherrschaft?

Dies Problem gilt nicht bloß für die Kirche. Es gibt noch andere Einrichtungen, die heute ein Mittel der Klassenherrschaft sind, die aber daneben noch andere Funktionen ausüben, wodurch sie, wenigstens für die nächste Zeit, notwendig bleiben. Da haben wir zum Beispiel die Bürokratie. Sie ist eines der vornehmsten Mittel zur Beherrschung der Massen und wird als solches von uns bekämpft. Aber es gibt heute keinen großen sozialen Organismus mehr, der dilettantisch neben der Berufsarbeit verwaltet werden könnte; er bedarf einer zu ihrem Beruf geschulten und in ihm aufgehenden Verwaltung, einer Bürokratie. Auch eine sozialistische Gesellschaft würde ihrer nicht entbehren können. Aber man muss ihr alles nehmen, was sie zu einer besonderen, über die Masse der Bevölkerung erhabenen Klasse stempelt. Man muss sie ihrer Privilegien entkleiden und in der Wirklichkeit, nicht bloß in der Phrase, zu Dienern des Volkes machen, das sie oder wenigstens ihre Leiter erwählt und absetzt, und man muss die lokale Selbstverwaltung gegenüber der von oben herab reglementierenden Zentralverwaltung mehr entwickeln. Das kann die Bourgeoisie nicht, so viel sie, oder wenigstens ihr radikaler Teil, davon reden mag. Sie bedarf des Beamten als Herrschaftsmittel, darum muss sie ihn über das Volk erheben, muss jeden Polizisten zu einem unantastbaren Halbgott machen, muss den Beamtendünkel hegen, muss der zentralisierten Bürokratie die Oberherrschaft über die lokale Selbstverwaltung, geben, so unbequem ihr das mitunter selbst werden mag. Nur ein proletarisches Regime kann heute noch eine wirkliche Demokratie schaffen.

Ebenso geht’s mit dem Militarismus. Das Proletariat muss danach trachten, das Heer als Mittel zur Niederhaltung des Volkes aufzuheben, aber es kann für absehbare Zeit leider noch nicht des Heeres als Mittel zur Verteidigung gegen auswärtige Feinde, namentlich von Osten, entraten. Auch hier wird das Problem nicht durch einfache Beseitigung der Armee gelöst, sondern durch Aufhebung der Privilegien, die sie, das heißt ihre Offiziere, in so reichlichem Maße genießen, und durch Aufhebung der Wehrlosigkeit des Volkes, das heißt durch Volksbewaffnung. Auch das kann nur ein proletarisches Regime schaffen, trotz Suttner, Novicow und Konsorten, denn die Bourgeoisie bedarf des Heeres als Herrschaftsmittel. Der jämmerliche Ausgang der Dreyfusaffäre hat gezeigt, wieviel gelegentliche Aufwallungen der Bourgeoisie gegenüber der Armee wert sind.

Nicht anders steht’s mit der Kirche. Die Sozialdemokratie denkt nicht daran und kann nicht daran denken, die Kirchen unterdrücken zu wollen. Sie hat ihnen gegenüber nur dieselbe Politik zu verfolgen, wie gegenüber der Bürokratie und der Armee. Sie muss also vor allem die Aufhebung der Privilegien fordern, die den Klerus über die übrige Menschheit erheben, Privilegien, wie sie etwa im Deutschen Strafgesetzbuch die Paragraphen 166, 167, 196 darstellen. Nicht minder ist es eine Privilegierung der Kirche, dass der Staat ihren Lehrern seine Schulen zur Verfügung stellt, damit sie die Schuljugend in den Anschauungen und Gebräuchen ihrer Religion unterrichten, ja, dass er sogar die Jugend zwingt, an diesem Unterricht teilzunehmen.

In Frankreich findet diese letztere Privilegierung der Kirche allerdings nicht statt, aber auch dort nimmt die Weltgeistlichkeit eine ausnahmsweise Stellung dadurch ein, dass sie vom Staate besoldet wird, trotzdem sie keine staatlichen Funktionen mehr ausübt. Dagegen hat merkwürdigerweise die liberale Bourgeoisie gar nichts einzuwenden. Dieselben bürgerlichen Redner in der Kammer, die die Verderblichkeit der Kongregationen nicht schwarz genug malen konnten, lobten die Weltgeistlichkeit, die doch die gleichen Anschauungen vertritt und in der Bevölkerung verbreitet, und dieselbe Kammer, die der Regierung das Recht gab, die nicht autorisierten Kongregationen aufzulösen, bewilligte ruhig das Budget von 40 Millionen „Francs für den katholischen Weltklerus und die Fortdauer der Gesandtschaft beim Papst. Der freidenkerische französische Staat erhebt von seinen Mitgliedern; wie freidenkerisch diese auch sein mögen, Steuern, um Pfarrer und Bischöfe zu besolden, und dem Papst fürstliche Ehren zu erweisen!

Was die liberale Bourgeoisie anstrebt, die Verwandlung der Kirche in eine bloße Staatsanstalt, des Geistlichen in einen Staatsbeamten, gerade das bekämpft die Sozialdemokratie. Sie fordert die Verwandlung des Geistlichen in einen Privatmann, die der Kirche in einen gewöhnlichen Verein. Jene will die Kirche dem Staate einverleiben, diese die Kirche vom Staate trennen.

Mit Unrecht weist man auf Belgien als warnendes Beispiel eines jener Gemeinwesen hin, in denen die Kirche vom Staate getrennt sei. In Belgien ist wohl die Kirche vom Staate frei, aber nicht der Staat von der Kirche; der Staat hat dort nichts in die Kirche dreinzureden, aber die Kirche sehr viel in den Staat. Den Klerus ist auch dort eine staatlich privilegierte und erhaltene Einrichtung, die dem Staat jährlich 6 Millionen Francs kostet. Nicht in Belgien, sondern in den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat am meisten zur Wahrheit geworden, zum Nachteil weder jener noch dieses.

Indessen ist diese Trennung selbst dort nicht völlig durchgeführt.

„Doch können nach der zur Zeit noch in Kraft bestehenden Verfassung des Staates New Hampshire von 1788 nur Protestanten höhere Ämter bekleiden. In Maryland haben nur Christen und Juden, in Pennsylvanien, Nord-Carolina, Mississippi und Tennessee nur diejenigen, welche an Gott und an die Unsterblichkeit glauben, Zutritt zu den Staatsämtern ... Die Verbote der Störung gottesdienstlicher Versammlungen und der Sonntagsfeier, sowie die Bestrafung der Blasphemie können nicht als solche, sondern als ein berechtigter Schutz des religiösen Gefühls und der Landessitte betrachtet werden. Doch haben die diesfälligen Gesetze teilweise das richtige Maß der Repression weit überschritten.“, (Rüttiman, Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht, II, Seite 269, 270)

Also selbst in den Vereinigten Staaten erfreut sich die Kirche noch mancher Privilegien, die allerdings verschwindend sind gegenüber jenen, die sie in Europa genießt.

Mit dieser Kirchenpolitik, soweit sie die Weltgeistlichkeit betrifft, ist wohl die gesamte internationale Sozialdemokratie einverstanden. Dagegen sind Meinungsverschiedenheiten vorhanden über die Politik gegenüber den Kongregationen. Sollen wir die Vereinsfreiheit, die wir fordern, auch auf die geistlichen Orden erstrecken? Oder sollen wir für diese eine Ausnahmegesetzgebung anstreben?

Man kann den proletarischen Standpunkt in der Weise betätigen, dass man die bürgerliche Art des Kampfes gegen die Kongregationen akzeptiert, aber auch seine konsequente und rücksichtslose Durchführung fordert. Darin besteht überhaupt die historische Rolle des Proletariats, solange es keine eigene Klassenpolitik hat, dass es als unterste der Klassen, die durch keinerlei gesellschaftliche Rücksichten gehemmt wird, als Teil der Demokratie den Liberalismus stets beim Worte nimmt und immer weiter vorwärts treibt, seine eigenen Prinzipien bis zu ihren äußersten Konsequenzen durchzuführen. Unbewusst .spielte das Proletariat diese Rolle in der großen Revolution, und bewusst wies sie ihm Marx noch 1848 in Deutschland zu. Es macht einen eigentümlichen Eindruck, wenn heute der Sozialismus über Marx hinaus auf eine höhere Stufe gehoben werden soll durch die Rückkehr zu dieser Taktik, die dem Zeitalter der Unmündigkeit des Proletariats entspricht und deren weitere Unmöglichkeit in Deutschland Lassalle schon anfangs der sechziger Jahre klar erkannte. In Frankreich, wo die Traditionen der französischen Revolution so mächtig fortwirken und die Kongregationen zu so prononcierten Kampfesorganisationen der Reaktion geworden sind, liegt es allerdings auch für die Sozialisten nahe, den Liberalismus nicht in der Art, sondern nur in der Kraft des Kampfes gegen die Kongregationen zu übertreffen, deren Auflösung und die Konfiskation ihrer Güter zu verlangen.

Anders als in Frankreich ist die Situation in Deutschland. Dementsprechend ist auch dort das Verhalten der Sozialdemokratie zu den Kongregationen ein anderes. Sie hat sich gegen jede Einschränkung der Vereinsfreiheit, auch der kirchlichen, ausgesprochen. Uns erscheint das auch prinzipiell richtiger und der Klassenstellung des Proletariats entsprechender zu sein. Denn jede Maßregel gegen die Vereinsfreiheit muss schließlich doch, direkt oder indirekt, eher das Proletariat treffen als die Kongregationen. Wie groß auch mitunter die Gegensätze zwischen diesen und andern Teilen der herrschenden Klassen, namentlich der liberalen Bourgeoisie, werden können, sie gehören immerhin zu den besitzenden Klassen, und der Gegensatz zwischen ihnen und ihren Klassengenossen kann nie ein so gewaltiger werden, wie der zwischen diesen und dem Proletariat. Der Kampf gegen das letztere wird immer mehr zu der die ganze bürgerliche Politik beherrschenden Tendenz, die trotz aller gelegentlichen Zwistigkeiten innerhalb der besitzenden Klassen immer wieder zum Durchbruch kommt. Wer der Staatsgewalt Waffen in die Hand gibt, um die Freiheit einer besitzenden Schicht einzuschränken, muss also darauf gefasst sein, dass dieselben Waffen morgen, und mit weit mehr Wucht, gegen das Proletariat gewendet werden. Das mag der liberalen Bourgeoisie gleichgültig sein, die Sozialdemokratie muss sich zweimal bedenken, ehe sie die Staatsgewalt so bewaffnet.

Derartige Erwägungen fallen uns oft in den Arm, wo es den Kampf gegen Vereinigungen unserer wütendsten Gegner gilt, zum Beispiel gegen die Kartelle und Trusts. Man kann diese kaum wirksam einschränken oder der Kontrolle der Staatsgewalt unterwerfen, ohne auch die Gewerkschaften zu gefährden, die ja auch Vereinigungen sind, um die Preise einer bestimmten Ware — der Arbeitskraft — über das Preisniveau des offenen Marktes zu erhöhen: Und ein Gesetz, das die Unternehmerverbände wie die Arbeiterverbände trifft, wird gegen diese noch schonungsloser angewendet werden, als gegen jene, die sich ihm auch leichter entziehen können. Dasselbe gilt vom Kampf gegen die Kongregationen. Entweder man macht ein Ausnahmegesetz gegen sie, erkennt das Mittel der Ausnahmegesetzgebung gegen unbequeme politische Gegner als berechtigt an, dann bereitet man damit den Weg für Ausnahmegesetze, morgen etwa gegen Anarchisten und übermorgen gegen, Sozialdemokraten. Dem Ausnahmegesetz gegen die deutsche Sozialdemokratie von 1878 gingen auch die Ausnahmegesetze des Kulturkampfes voraus.

Oder man sucht die Kongregationen durch das gemeine Recht zu packen, dann engt man das Vereinsrecht in einer Weise ein, dass auch andere Vereinigungen getroffen werden können.

Und wozu begibt man sich auf diese gefährliche Bahn?

Man hält uns die großen Gefahren der Kongregationen vor. Sicher, ihr Reichtum ist in manchen Staaten absolut gewaltig. Aber in kapitalistischen Staaten ist er doch relativ gering gegenüber dem der Kapitalistenklasse. Die Kongregationen können ökonomisch verderblich werden in kapitalarmen und rückständigen Ländern, deren industriellen Aufschwung sie hemmen, wie in Spanien. Dort kann die alte Methode der Auflösung der Orden und der Konfiskation ihrer Güter höchst wohltätig, ja notwendig werden. In einem Lande entwickelter kapitalistischer Produktion treten dagegen die Kongregationen an ökonomischem Einfluss weit zurück hinter den großen Monopolisten der Kapitalistenklasse. Die Monopolisten der französischen Eisenbahnen zum Beispiel beherrschen das ökonomische Leben Frankreichs ganz anders, als die Kongregationen, und die Verstaatlichung seiner Eisenbahnen wäre ökonomisch eine weit wichtigere Maßregel, als selbst die Konfiskation der gesamten Ordensgüter. Der Wert der Güter der Kongregationen in Frankreich wird auf eine Milliarde Francs veranschlagt, das Anlagekapital der französischen Eisenbahnen dagegen auf 15,5 Milliarden.

Selbstverständlich will die Sozialdemokratie bei ihrem Streben nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht vor dem Ordenseigentum Halt machen. Aber wir bemessen die Reife eines bestimmten Eigentums für die Vergesellschaftung nach seinen Funktionen im Produktionsprozess und nicht nach der Art seiner Eigentümer. Wir denken selbstverständlich nicht daran, die gesamten Produktionsmittel mit einem Schlage zu verstaatlichen. Aber den Anfang dürften wir mit den großen Monopolen machen, Eisenbahnen, Bergwerke, Großgrundbesitz, kartellierte Großindustrien, ohne Unterschied des Besitzers. Dagegen wäre es absurd, den Übergang zu sozialistischer, Produktion dadurch herbeiführen zu wollen, dass man eine Eigentümerkategorie nach der andern ohne Rücksicht auf die Art ihres Besitzes expropriiert, etwa heute die Kongregationen und morgen die Juden.

Aber die wenigsten richten heute ihre Feindschaft gegen die Kongregationen wegen ihrer Rolle im Produktionsprozess. Gefährlich werden sie vielmehr durch die Art und Weise, wie sie den Ertrag ihres Reichtums verwenden durch den moralischen Einfluss, den sie auf weite Kreise der Bevölkerung durch, ihre Unterrichts- und Wohltätigkeitsanstalten üben.

Die Stärkung der Reaktion dadurch ist sicher keine sehr geringe, aber es fragt, sich, ob Gewaltmaßregeln der richtige Weg sind, sie zu beseitigen oder auch nur zu mindern. Wenn die Kongregationen großen und steigenden Einfluss in dieser Weise erwerben, so ist das eine Anklage viel weniger gegen die Kongregationen, als gegen den bürgerlichen Staat, denn sie konnten diesen Einfluss nur erlangen, weil er seine Pflichten gröblich vernachlässigte. Sind nur die Kongregationen daran schuld, wenn heute noch fast zwei Millionen Kinder, fast ein Drittel aller Schulkinder, in Frankreich von Kongreganisten unterrichtet werden? Es ist richtig, Frankreich hat seit dem Kriege von 1870 eine Reihe vortrefflicher Anläufe zu einer Reform seines Volksschulwesens gemacht und dieses in mancher Beziehung weit über das viel gerühmte preußische erhoben. Aber der bürgerliche Staat kann einmal auf keinem Gebiet mehr etwas Durchgreifendes leisten. Man übernehme die Schullasten von den Gemeinden auf den Staat, man stelle die strengsten Anforderungen an alle Lehrer, mögen sie in privaten oder öffentlichen Schulen lehren, man gebe in den letzteren den Kindern, die nötigen Unterrichtsmittel sowie die Mahlzeiten, und man wird dem Einfluss der Kirche auf die Schule und auf die Bevölkerung mehr Abbruch tun, als wenn man einige Schulschwestern aus den Schulen vertreibt.

Sicher haben wir für die Kongregationen nichts übrig, und wenn man alle privaten Schulen und Erziehungsinstitute schließt, die nicht den strengsten pädagogischen Anforderungen entsprechen, welche in den Staatsschulen durchgeführt werden, namentlich aber solche Institute, in denen die Erziehung nur Vorwand, um Kinderausbeutung zu betreiben, so werden wir nicht deswegen dagegen sein, weil durch ein derartiges Vorgehen vornehmlich die kongreganistischen Schulen und klösterlichen Erziehungsinstitute getroffen werden. Im Gegenteil, jeder Sozialdemokrat muss den weitestgehenden Schutz der Kinder vor allen pädagogisch schädlichen Einflüssen billigen und fördern.

Aber etwas anderes ist es, bestimmte Arten von Vereinen auspolitischen Gründen zu verbieten und sie und ihre Mitglieder deshalb aus den Schulen auszuschließen. Dasselbe Regime, das manche Arten von Kongregationen aus der Schule entfernt, weil sie ihm politisch unbequem sind, hat sozialistische Lehrer gemaßregelt, weil sie, außerhalb ihrer Lehrtätigkeit, die Armee kritisierten und für den Sozialismus propagandistisch wirkten. Hüten wir uns, den Lehrer zum willenlosen Sklaven der Regierung zu machen. Nur seine pädagogische Eignung, nicht seine politische Anschauung soll bei der Gewährung der Lehrberechtigung in Frage kommen. Der Bourgeoisstaat betrachtet die Volksschule vornehmlich als Herrschaftsmittel, der kongreganistische Lehrer ist ihm zuwider, nicht weil er das Volk verdummt, sondern weil er von der Staatsgewalt unabhängig ist. Er maßregelt den sozialdemokratischen Lehrer noch unerbittlicher als den unbotmäßigen kongreganistischen, er bezahlt noch den Pfarrer dafür, dass dieser den Kindern in der Kirche dieselben Anschauungen beibringt, die der Kongreganist ihnen in der Schule beibrachte. Und der bürgerliche Staat hat gar nicht die Absicht, den klerikalen Einfluss auf die Bevölkerung dadurch zu brechen, dass er die weltliche Schule vervollkommnet und ihre Lasten der Gemeinde abnimmt. Denn eine derartige Schulpolitik kostet Geld, und das nötige Kleingeld kann ein Bourgeoisstaat nicht aufbringen, der an dem Kultus des Militarismus festhält und jeder energischen Besteuerung der besitzenden Klassen widerstrebt. Eine Regierung, die einen Andree und einen Rouvier zu ihren Mitgliedern zählt, kann ihre Fortschrittsfreundlichkeit in der Schule nicht viel anders bekunden, als durch eine Katzbalgerei mit ein paar widerhaarigen Schulschwestern.

Wie mit der Schule steht’s mit den Wohltätigkeitsanstalten. Ja, hier ist die Lücke, die der bürgerliche Staat gelassen hat, so offenkundig, und seine Unlust, sie zu schließen, so groß, dass er hier nicht einmal den Anschein zu erwecken sucht, als wolle er auf diesem Gebiet die Kongregationen durch seine weltlichen Einrichtungen überflüssig machen. Allerdings, eine ausreichende öffentliche Versicherung der Arbeiter gegen die Folgen von Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit, eine ausgiebige Ausdehnung des öffentlichen Heilwesens unter reichlicher Besoldung des darin beschäftigten Personals würde die Tätigkeit der Kongregationen völlig lahm legen und ihren Einfluss auf die Bevölkerung erheblich einschränken. Aber auch hier wieder hat der bürgerliche Staat kein Geld, und ehe sie für die Armen und Kranken des Proletariats zahlen, ziehen es die Freidenker und Freimaurer des republikanischen Frankreich vor, sie den Kongregationen zu überlassen.

Wir begreifen es aus historischen Gründen, warum die französischen Sozialisten in ihrer Mehrzahl den Kampf gegen die Kongregationen durch ihre zwangsweise Vernichtung führen wollen. Aber die deutsche Sozialdemokratie hat ihre guten Gründe, warum sie eine andere Politik den katholischen Orden gegenüber befolgt; und stets alle Ausnahmebestimmungen gegen diese abgelehnt hat. Sie weiß sehr wohl, dass der bürgerliche Staat bei aller Gewaltanwendung mit ihnen nicht mehr fertig werden kann und nicht mehr fertig werden will, dass jede dieser Gewaltanwendungen nur dahin führt, die ohnehin schon zu gewaltigen Waffen der Staatsgewalt gegen ihre Gegner, also auch gegen das aufstrebende Proletariat, zu vermehren, ohne die Macht der Kirche .irgendwie zu verringern.

Die deutsche Sozialdemokratie ist stets dem Standpunkt treu geblieben, den sie zur Zeit des Kulturkampfes einnahm und der ihrem Programm entspricht, das da fordert:

„Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen frei ordnen.“

Gerade jetzt, wo der Kampf gegen das Zentrum bei uns in den Vordergrund tritt, wird es notwendig werden, den katholischen Arbeitern unsere Haltung während des Kulturkampfes auseinanderzusetzen. Leider ist aus dem Schippeischen Reichstagshandbuch darüber kaum etwas zu entnehmen. Bei dem Punkt „Jesuitengesetz“ wird allerdings die Tätigkeit des Zentrums dagegen auseinandergesetzt, von der sozialdemokratischen Fraktion aber nur bemerkt, sie „habe auch hier, wie immer, jede Ausnahmegesetzgebung abgelehnt“. Und beim Kanzelparagraphen ist von der Sozialdemokratie überhaupt nicht die Rede.

Und doch bietet gerade der Kulturkampf eine glänzende Illustration der Richtigkeit der Politik der deutschen Sozialdemokratie, die durch die Ereignisse in jeder Weise gerechtfertigt worden ist.

Bebel schrieb damals in einer Broschüre über Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen Reichstags und der Landtage (Leipzig 1873) über den Kulturkampf unter anderem folgendes:

„Ist also nach alledem der Kampf zwischen Staatsgewalt und Klerus kein ernster, und zwar, weil es in beiderseitigem Interesse liegt, ihn nicht über gewisse Grenzen auszudehnen, so sind doch die Mittel, womit man den Klerus zu bekämpfen sucht, entschieden zu verwerfen ... Es bleibt für die Bourgeoisie wie für die „Regierung, da keine von beiden den einzig wirksamen und radikalen Weg gegen kirchliche Umtriebe — Trennung der Schule von der Kirche und der Kirche vom Staat und Hebung des Volksunterrichts auf die höchste Stufe der Vollkommenheit — ergreifen kann, nichts anders übrig, als der brutale Gewaltweg gegen unbequeme kirchliche Opposition.

Daher der Eifer, womit Liberale und Regierungsmänner zu Ausnahmegesetzen greifen und, wie stets bei allen Gewaltmaßregeln geschehen, diese im Namen der Freiheit, der Ordnung und des öffentlichen Wohles anwenden. Die Ausnahmegesetze gegen den Klerus, Strafparagraph, und Jesuitenausweisungsgesetz, sind denn auch unter dem hellen Jubel aller Liberalen, ausgenommen einige wenige, die noch eines idealen Gedankens fähig waren, im Reichstag angenommen worden. Die Folge wird sein, dass der Ultramontanismus, der jetzt schon einige sechzig Sitze im Reichstag einnimmt, im nächsten um vierzig bis fünfzig Sitze stärker vertreten sein wird.“ (Seite 47 bis 50)

Diese Prophezeiung ist bekanntlich fast buchstäblich in Erfüllung gegangen, ebenso wie jene in derselben Schrift, der Bismarcksche Kulturkampf werde ein klägliches Ende nehmen und zu Bismarcks Sturz beitragen. Denjenigen, die eifrig unerfüllten Bebelschen Prophezeiungen nachspüren, seien auch diese beiden zur Beachtung empfohlen.

Die Haltung der deutschen Sozialdemokratie im Kulturkampf hat bereits reiche Früchte getragen und wird noch reiche Früchte tragen bei unserer Propaganda unter den katholischen Arbeitern. Diese Propaganda aber ist unsere Hauptaufgabe im Kampf gegen den Klerikalismus.

Wenn dieser heute im Vordringen ist, so darf man das nicht besonderen teuflischen Künsten der Kongreganisten zuschreiben, denen gegenüber wir ohnmächtig wären, sondern der Entwicklung der sozialen Verhältnisse, die sie begünstigt. Aber nicht sie allein, sondern auch den Sozialismus. Nur dem bürgerlichen Liberalismus wirken sie entgegen. Keine Polizeimaßregeln der Welt sind imstande, diesen Prozeß aufzuhalten.

Auf der einen Seite ist es der Niedergang der Mittelschichten (Kleinbürgertum und Bauernschaft), der die Macht der Kirche begünstigt. Seit zwei Jahrhunderten schon waren diese Schichten im Niedergang begriffen. Aber unter dem Absolutismus schrieben sie ihre missliche Lage — und zum großen Teil mit Recht — der Ausbeutung, durch Hof, Bürokratie, Adel und Klerus zu, waren sie vielfach liberal, erhofften sie alles vom Siege der Demokratie. Aber der Liberalismus entfesselte nur den Kapitalismus und brachte dem Kleinbürgertum und auch der Bauernschaft nach einem kurzen Übergangsstadium neues Elend. Er war nicht der Erlöser, für den er sich ausgegeben, angstvoll und haltlos suchen sie nach einem neuen Erlöser, eine geistige Verfassung, wie sie in der römischen Kaiserzeit die ganze Gesellschaft beherrscht hatte, erfasst sie und drängt sie der Kirche zu. Namentlich gilt das für das städtische Kleinbürgertum. Die Bauernschaft hat sich ja meist noch gar nicht vom kirchlichen Gängelband losgerissen.

Es ist richtig, die Führer der reaktionären Demokratie sind vor eine unmögliche Aufgabe gestellt, sie können nicht halten, was sie versprechen und entpuppen sich daher früher oder später als Narren oder Schwindler. Aber wer glaubt, dass die Reaktion unter den kleinbürgerlichen Massen deshalb rasch abwirtschaften müsse, der irrt sich. Es sind nur die weltlichen, namentlich die noch an die freidenkerischen. Traditionen der Revolutionszeit haftenden Elemente der demokratischen Reaktion, die sich dadurch abnützen, um dem klerikalen Regime entweder den Platz zu räumen oder sich ihm zu unterwerfen. Die Kirche mit ihrer jahrtausendjährigen Erfahrung und ihrem gewaltigen, den Verstand unterjochenden Mechanismus, mit ihrem Hinweis auf das Jenseits, wenn das Diesseits versagt, ist ja gerade geschaffen, hoffnungslosem, ökonomischem und moralischem Elend einen Halt zu geben. Die weltlichen Führer des Antisemitismus und des Nationalismus mögen sich rasch verbrauchen, diese Bewegungen brauchen darob nicht zurückzugehen, wohl aber müssen sie immer mehr die Charakterzüge der liberalen Demokratie verlieren, die sie von dieser übernommen haben, und immer mehr rein klerikale Bewegungen werden.

Aber auch in den verschiedenen Schichten, der Bourgeoisie selbst gewinnt der Klerikalismus an Boden. Hier ist es nicht der ökonomische Rückgang der eigenen Klasse, sondern der politische Fortschritt des Proletariats, der in der Bourgeoisie die Religion wieder zu Ehren bringt. Bei den einen als bewusst angewandtes Mittel, die Massen im Zaum zu halten. Das sind die ordinären Elemente der Bourgeoisie. Bei ihren feiner organisierten Naturen aber erweckt, wie schon Genossin Roland-Holst treffend ausführte, das unaufhaltsame Vordringen des Sozialismus eine Anlage, ja vielfach einen Drang zum Mystizismus, der noch verstärkt wird durch den Niedergang der der eigenen Klassenlage angepassten liberalen Weltanschauung, vielfach auch durch Blasiertheit, die alle Sinnenreize frühzeitig ausgekostet hat und nach neuen Sensationen verlangt. Diesem Bedürfnis nach Mystizismus kommt keine Einrichtung besser entgegen als die katholische Kirche. Sie weiß es ganz anders zu befriedigen als der Protestantismus, in dem das aufstrebende Bürgertum des Nordens seine derbe Sinnlichkeit verkörperte. Wohl war auch das Zeitalter der Reformation dem Mystizismus förderlich gewesen, Teufel und Hexen hatten damals die Menschen genugsam geängstigt und gepeinigt, aber dieser Spuk war doch zu naiv und zu grob, als dass er moderne Menschen fesseln könnte. Ganz anders der katholische Mystizismus, dessen Wurzeln bis in die so verfeinerte und raffinierte römische Kaiserzeit zurück reichen.

Die Anziehungskraft der katholischen Mystik wird noch gehoben durch den Prunk des katholischen Ritus. Wir haben schon gesehen, dass er seine Wurzeln in den ökonomischen Bedingungen der Feudalzeit hat, dass er von selbst entstand und nicht von gleisnerischen Priestern absichtlich erfunden wurde, die Menschen zu betören und anzulocken; in dieser naiven Weise entstehen nicht große, jahrtausendelang dauernde, soziale Erscheinungen. Aber allerdings, wo er einmal besteht, da wirkt der, kirchliche Prunk betörend und anlockend, da kommt er dem Bedürfnis der Massen nach sinnlicher Schönheit und sinnlicher Erregung entgegen, unter Umständen auch der Freude an sinnloser Verschwendung, die ausbeutenden Klassen eigen, wenn der Grad der Ausbeutung einen gewissen Höhegrad überschreitet.

Diesen Höhegrad hat seit einiger Zeit die kapitalistische Ausbeutung erreicht. Die Kapitalistenklasse, die noch vor wenigen Jahrzehnten wähnte, Kapital werde durch Sparen und Entsagen geschaffen, und die darin die wirtschaftlichen Tugenden erblickte, weiß heute nicht mehr, was sie mit der Unmasse von Reichtum beginnen soll, die das herrschende Ausbeutungssystem ihr in den Schoß wirft. Verschwendung in schreiendem Prunke wird nun ihre Parole; das gilt nicht etwa bloß vom Zickzackkurs in Deutschland, der allein in der Liebe zum Prunke nicht im Zickzack wandelt, sondern stetig denselben Weg verfolgt; darin liegt nicht irgendeine persönliche Laune; nein, wir finden dieselbe verschwenderische Prunksucht in England, wie erst der Krönungsrummel deutlich bewies, wir finden sie auch bei den Milliardären Amerikas. Die zügellose Verschwendungssucht des kaiserlichen Rom und des ancien regime beginnt sich jetzt in der Kapitalistenklasse geltend zu machen, allerdings mit dem Unterschied, dass ihr die Grazie ihrer Vorgänger fehlt. Die Kapitalisten verstehen es wohl, protzenhaft Geld hinauszuwerfen, anmutig zu genießen vermögen sie nicht.

Dem Drange nach pomphafter Verschwendung kommt der Katholizismus weit mehr entgegen als der Protestantismus, dessen kahle Nüchternheit der Zeit entstammt, in der die Bourgeoisie in der feudalen Genusssucht noch eine sündhafte Vergeudung von Kapitalien sah, die nutzbringend anzulegen wären, wo Gott nach ihrer Anschauung nur an puritanischer Einfachheit ein Wohlgefallen fand. Es ist wohl kein Zufall, dass, als die kapitalistische Ausbeutung in England ein gewisses Maß überschritten hatte, in der anglikanischen Kirche auch das Bestreben erstand, es an prunkhaftem Ritus der katholischen gleich zu tun (in der Bewegung des Ritualismus, seit den vierziger Jahren), so dass sie sich vielfach von dieser nur dadurch unterscheidet, dass sie als obersten Herrn nicht den Papst, sondern den König von England anerkennt.

Gegen alle diese Faktoren, die der Kirche im Kleinbürgertum und der Bourgeoisie günstig sind, anzukämpfen, ist unmöglich. Die Kirche wird fortfahren, in diesen Kreisen an Macht und Ansehen zu gewinnen. Auch ein verbesserter Schulunterricht würde daran nichts ändern, wie schon der übertritt so vieler Gebildeter ins katholische Lager oder der Glaube so vieler Gelehrter an den Spiritismus beweist. Der Mystizismus sowie das Bedürfnis nach einer religiösen Autorität hängen weniger vom Stande der Erkenntnis als vom Stande der Gesellschaft ab. Wo die soziale Wirklichkeit für eine Klasse oder eine Gesellschaft eine hoffnungslose Perspektive eröffnet, da wird sich diese in ihren Gedanken immer von der Wirklichkeit abwenden und in ein besseres Jenseits flüchten, und der Grad der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt dann bloß die Form, in der das geschieht. Der menschliche Geist ist reich genug, um für jedes seiner Bedürfnisse einen triftig aussehenden Grund zu finden.

Aber der Einfluss der Kirche wächst nicht nur unter den eben bezeichneten Klassen, sondern auch in manchen Kreisen des Proletariats. Allerdings in anderer Weise als dort. Nicht dadurch, dass weite Schichten des Proletariats, die der Kirche bisher fern standen, nun in sich gehen und wieder fromm werden. Davon sind nirgends auch nur die mindesten Anzeichen bemerkbar. Der Proletarier hat keine Ursache, an der Zukunft seiner Klasse zu verzweifeln. Unaufhaltsam marschiert sie siegreich vorwärts und kein Proletarier, der einmal zur Erkenntnis seiner Klassenlage und zum Bewusstsein der historischen Aufgabe seiner Klasse gekommen, empfindet das Bedürfnis, seine Gedanken von der Erforschung und Eroberung der Wirklichkeit weg in ein Jenseits rosiger Träume zu lenken. Seine Hoffnungen und Erwartungen gehören alle dieser Welt.

Wenn trotzdem die Zahl der Proletarier zunimmt, die noch unter klerikaler Führung stehen, rührt das nicht daher, dass es dem Klerus gelänge, irgendwo Proletarier dem Sozialismus abwendig zu machen, sondern daher, dass die Masse des Proletariats rasch wächst, und dass unter den Zuzüglern noch viele der klerikalen Autorität folgen, weil sie aus Klassen oder Gegenden stammen, in denen der Klerus noch (oder wieder) alle Gemüter beherrscht. Die Entwicklung des Verkehrs ebenso wie der Niedergang der bäuerlichen Landwirtschaft tragen mächtig dazu bei, Massen von rückständigen Arbeitskräften in die Städte zu ziehen. Anderseits bewirkt das Streben, billigen Arbeitskräften oder den Rohmaterialien möglichst nahe zu sein, sowie die Ausdehnung des Bergbaus, dass die kapitalistische Industrie immer weiter in das flache Land vorschreitet, in Gegenden, die noch völlig unter klerikalem Einfluss stehen.

Diese neu geschaffenen Schichten des Proletariats für den Sozialismus zu gewinnen, ist eine schwere Aufgabe. Aber sie muss gelöst werden und sie kann gelöst werden; denn wie stark auch die Traditionen sein mögen, welche dieses neue Proletariergeschlecht an die reaktionären Klassen und die reaktionären Gedankenkreise fesseln, in denen es aufwuchs, die Interessenkämpfe der Gegenwart treiben es in das Lager des kämpfenden Proletariats, und die Wirklichkeit erweist sich schließlich stets mächtiger als die Erinnerung an die Vergangenheit. Aber um diesen Prozess zu beschleunigen und den Klassenkampf, in den die neuen Proletarierschichten hinein geraten, zu einem bewussten und einheitlichen zu machen, dazu ist es notwendig, dass sie Zutrauen zur Sozialdemokratie gewinnen, deren Aufgabe es eben ist, die instinktiven Klassenkämpfe zu bewusst geführten zu machen, und die einzelnen Bestrebungen der Proletarier nach Abwehr und Fortschritt auf den verschiedensten Gebieten und mit den verschiedensten Mitteln in eine einheitliche große Bewegung zusammenzufassen.

Dies Vertrauen gewinnen wir aber nicht, wenn wir vom Staate Zwangsmaßregeln gegen die Kirche fordern. Das Proletariat als unterste der Klassen hegt einen instinktiven Abscheu gegen jede Unterdrückung und bringt jedem Unterdrückten die wärmsten Sympathien entgegen, auch einer unterdrückten Nation oder Religionsgemeinschaft, die mit den Klasseninteressen des Proletariats nichts gemein hat. Die katholische Kirche weiß das sehr gut, sie jammert allenthalben über Unterdrückung, sogar dort, wo sie hoch privilegiert ist, und selbst jede freie Meinungsäußerung unterdrückt. Indes wirksam wird die Märtyrerpose nur dort, wo die Kirche wirklich einige, wenn auch unbedeutende Einschränkungen erfährt. Ein Kulturkampf nach dem Muster des Bismarckschen verhilft ihr in einer Weise dazu, wie sie es nicht besser wünschen kann. Er wirkt, auf die katholischen Proletariermassen ebenso propagandistisch zugunsten der Kirche, wie irgendeine diokletianische Christenverfolgung, und verringert doch, bei seiner durch die Schwächlichkeit der Bourgeoisie herbeigeführten Halbheit, die materiellen Machtmittel der Kirche nur unerheblich. Sie gewinnt dabei an moralischer Macht viel mehr, als sie an materieller verliert. Der Bismarcksche Kulturkampf war's, der die Proletariermassen der katholischen Gegenden Preußens dem Zentrum zuführte und sie lange Zeit zu einer seiner zuverlässigsten Truppen machte. Der jetzige Kulturkampf in Frankreich dürfte allerdings weniger tiefgehend wirken, aus dem einfachen Grunde, weil er, bisher wenigstens, viel unbedeutender ist, als der Bismarcksche.

Aber nicht minder als davor, katholische Märtyrer zu schaffen, muss sich die Sozialdemokratie davor hüten, als der Alliierte jener Mächte zu erscheinen, zu denen der Proletarier naturgemäß in Opposition steht: die staatliche Bürokratie und das Kapital. Diese Mächte treten allenthalben in Gegensatz zum aufstrebenden Proletariat. Wenn sie aber den freidenkenden Schichten der Arbeiterklasse gegenüber gern die Religion hoch halten, so erscheinen sie dagegen den rückständigen, klerikalen Arbeitern gegenüber als aufgeklärte Freidenker. Es ist vielfach, bloßer Klassenhass gegen den liberalen Bourgeois und die liberale Staatsgewalt, was bei diesen Proletarierschichten als Klerikalismus zutage tritt. Wir würden unsere Position bei ihnen unheilbar kompromittieren, wollten wir ihnen und ihrer Kirche gegenüber Arm in Arm mit den freier denkenden Beamten und Bourgeois aufmarschieren und nicht den Klassenkampf, sondern den Kulturkampf in ihre Reihen tragen. Wir müssen ihnen vielmehr zeigen, dass der Klassenkampf stärker ist als alle religiösen Verschiedenheiten, müssen ihr Interesse für kirchliche oder theologische Fragen nicht stärken, sondern es mindern, indem wir ihre Aufmerksamkeit auf die Fragen des materiellen Lebens konzentrieren. Wir müssen ihnen zeigen, dass dem freidenkenden Arbeiter der katholische oder überhaupt der christlich gesinnte Arbeiter bei aller religiösen Inbrunst weit näher steht als der freidenkende Bourgeois, und wir müssen ihm ferner zeigen, dass mit diesem der Klerus, sowohl Weltgeistlichkeit wie Kongregationen, als Mitglied der besitzenden und herrschenden Klassen im Grunde genommen viel mehr Berührungspunkte gemein hat, als mit dem Proletarier, wie fromm dieser auch sein mag.

Man sieht, vom Standpunkt der Propaganda aus kommt man zu demselben Ergebnis, wie vom Standpunkt unserer Grundsätze: Die Kirchenpolitik der Sozialdemokratie muss eine ganz andere sein als die des Liberalismus, und sie hat allen Grund, es offenkundig und unzweideutig zutage treten zu lassen, dass ihre Kirchenpolitik eine andere. Sie darf sich vor den noch christlich denkenden Proletariermassen nicht dadurch kompromittieren, dass sie den Anschein erweckt, als sei sie nur durch ihre Rücksichtslosigkeit und nicht auch dem Wesen nach vom bankrotten Liberalismus verschieden.

Der Liberalismus hat bei den unteren Volksschichten ausgespielt. Jene, die da mühselig und beladen sind, sie glaubten einmal, in einem liberalen Staat zu Freiheit und Glück zu kommen. Sie jauchzten dem Liberalismus als ihrem Befreier zu und fingen an, sich von der Kirche abzuwenden, die an der alten feudalen Ausbeutung festhielt.

Aber der Liberalismus hat nicht gehalten, was er versprochen. Er hat alte Geißeln der arbeitenden Klassen beseitigt, um neue, stärkere Geißeln für sie herbeizuschaffen, und er hat kein großes Ziel mehr für die nach Befreiung lechzenden Klassen. Er hat ihnen nichts mehr zu bieten als statistische Beweise ihres gehobenen Wohlstands. So wenden sich die Massen wieder von ihm ab und der alten kirchlichen Autorität wieder zu.

Dieser Reaktion kann nur der Sozialismus erfolgreich entgegenwirken. Er bringt in seinem Endziel den gedrückten und ausgebeuteten Massen wieder ein großes Ideal, das sie erhebt und begeistert, um so mehr, da es der Erkenntnis der Wirklichkeit entspringt, nicht der Verzweiflung an ihr, da es auf die Notwendigkeit des Sieges des Proletariats begründet ist und nicht auf die Notwendigkeit der Entsagung, da es die tatkräftige Eroberung des Diesseits predigt und nicht das duldende Harren auf das Jenseits. Ein solches Ziel ist allein imstande, die klerikale Herrschaft über weite Schichten des Proletariats zu brechen. Der Liberalismus ist dazu unfähig.

Und nicht minder als durch ihr großes Ziel unterscheidet sich die Sozialdemokratie von dem zerfahrenen, ängstlich und unsicher tastenden, in Halbheiten sich erschöpfenden Liberalismus durch ihre Geschlossenheit, ihr unerschrockenes und entschiedenes Losmarschieren auf das erkannte und zäh festgehaltene Ziel.

Sorgen wir in dieser wie in jeder andern Beziehung dafür, dass wir nicht dem Liberalismus ähnlich werden, dass man uns nicht mit ihm verwechselt. Wir würden die Wurzeln unserer Macht untergraben, würden um zweifelhafter praktischer Errungenschaften halber unsere ganze propagandistische Kraft aufs Spiel setzen.

Das gilt, wie für alle Politik, so auch für unsere Kirchenpolitik. Sie hat eine besondere, sozialistische, nicht eine mit dem Liberalismus gemeinsame zu sein.



Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012