K. Kautsky

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich


2. Die amerikanische Republik


Man kann auf zwei Arten unsere Streitfrage erörtern. Einmal in der Weise, das man abstrakt das Wesen der Republik, das der Bourgeoisie und des Proletariats und ihres Klassengegensatzes untersucht – ein sehr umständlicher Weg, um so ermüdender, als er meist durch sehr bekanntes Gebiet zu führen hätte. Für unsere praktischen Zwecke ist jedenfalls kürzer und weniger ermüdend die Untersuchung nicht einer abstrakten Republik, sondern einer konkreten, derjenigen, um die der ganze Streit sich dreht, der französischen. Nur um erkennen zu lassen, das es sich nicht um eine französische Sonderfrage, sondern um ein jeder bürgerlichen Republik eigentümliches Problem handelt, sei kurz noch der amerikanischen Republik gedacht, die einen ganz anderen Typus darstellt, als die französische. In dieser haben wir eine weitgetriebene Zentralisation der Verwaltung wie des ganzen geistigen und politischen Lebens in einer riesigen Hauptstadt, möglichste Einschränkung der Selbstverwaltung von Gemeinde und Departement, hohe Entwicklung aller Mittel der Klassenherrschaft – Armee, Polizei, Staatskirche. Alles das fehlt in den Vereinigten Staaten. Die Klassengegensätze selbst waren dort lange Zeit schwach entwickelt. Die Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung bildet die Trennung der Masse der Bevölkerung von ihren Arbeitsmitteln, vor allem dem wichtigsten, dem Grund und Boden. Von diesem gab es aber in den Vereinigten Staaten lange mehr als genug für alle, die danach verlangten. so konnte nicht bloß jeder ein selbständiger Bauer werden, auch der innere Markt wuchs rasch und ebenso die Nachfrage nach Intellektuellen – Advokaten, Verwaltungsbeamten usw. Jedem Menschen, der energisch und intelligent genug war, eröffneten sich die glänzendsten Karrieren, auch wenn er ohne Mittel begann. Die Stellung eines Lohnarbeiters schien gerade für die kampffähigsten der Proletarier nur ein Durchgangsstadium zu sein. Das hinderte die Lohnarbeiter ebenso sehr, ein proletarisches Klassenbewußtsein zu erlangen, als es die Kapitalisten davon abhielt, das Proletariat – oder wenigstens seine kampffähigen Schichten – zu bedrängen und zum Kampfe herauszufordern. Die Republik schien Klassenkampf und Sozialismus nicht aufkommen zu lassen.

Aber das hat sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig geändert, wie allgemein bekannt. „1870 waren noch Streiks und Aussperrungen in Amerika kaum bekannt; zwischen 1887 und 1894 war das Land Zeuge von vierzehntausend Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit, an denen ungefähr vier Millionen Arbeiter teilnahmen.“ (Hillquitt, History of Socialism in the United States, S. 153). Je mehr aber das amerikanische Proletariat anwächst und der Klassengegensatz zunimmt, desto eifriger ist die Bourgeoisie bemüht, alle Mittel, welche die Republik ihr bietet, zur Niederhaltung des Proletariats anzuwenden. sie betreibt den so gerühmten „Arbeiterfang“ in großartigstem Maßstab, aber nicht durch Gewährung sozialer Reformen – was davon in der letzten Zeit geschaffen worden, ist nicht der Rede wert –, sondern durch systematische Korrumpierung der Massen, durch Überschwemmung des Landes mit einer käuflichen Presse, durch Stimmenkauf bei Wahlen, durch die Gewinnung einflußreicher Arbeiterführer.

In jedem Lande versucht man heute diese Methoden, die Arbeiter zu verwirren und zu korrumpieren. selbst das absolutistische Rußland sah die Versuche des Gendarmenoffiziers Subatoff, eine polizeilich gegängelte Arbeiterbewegung zu schaffen. Aber nirgends werden diese Versuche in solchem Umfang und mit solcher Hartnäckigkeit betrieben wie in der Republik, gerade wegen der republikanischen Freiheit, wegen der Macht des Stimmzettels, der Presse, der Arbeiterkoalitionen. Aber auch nirgendwo haben diese Versuche mehr Erfolg, als gerade in der Republik. Noch leben im amerikanischen Arbeiter die Traditionen der Vorzeit, wo jeder unter ihnen den Marschallstab im Tornister trug, noch glaubt er dank seiner Demokratie besser daran zu sein als die Arbeiter der Monarchien, und des Sozialismus nicht zu bedürfen, der nur ein Produkt des europäischen Despotismus sei. Noch glaubt er, in der Demokratie gebe es keine Klassen und keine Klassenherrschaft, weil das gesamte Volk die politische Macht besitze. Die wichtigste Aufgabe unserer amerikanischen Genossen besteht heute darin, diesen republikanischen Aberglauben zu zerstören, den Arbeiter zur Einsicht zu bringen, das er nicht minder ausgebeutet und geknechtet sei, wie sein Genosse in der Monarchie, das ebenso wie diese die Demokratie ein Werkzeug der Klassenherrschaft geworden ist und das sie erst dann wieder ein Werkzeug werden kann, diese Klassenherrschaft zu brechen, wenn er seinen republikanischen Aberglauben überwunden hat.

Darin besteht heute die Agitation unserer Genossen in Amerika; und sie würden jeden mit Hohngelächter empfangen, der ihnen weismachen wollte, aus dem „Arbeiterfang“ der republikanischen Bourgeoisie entsprängen irgendwelche Vorteile für das Proletariat.

In dieser ihrer Agitation gegen den republikanischen Arbeiterfang werden die Sozialisten Amerikas sehr unterstützt dadurch, das die amerikanische Bourgeoisie bei diesem Mittel, das Proletariat niederzuhalten, nicht stehen bleibt. So gern sie es möchte, es gelingt ihr nicht, den Klassengegensatz dauernd zu „verschleiern“, dieser Schleier zerreißt immer wieder, und je eifriger die Bourgeoisie daran ist, die Arbeiterklasse durch Zuckerbrot zahm zu machen, um so wütender schwingt sie die Peitsche, wenn ihr die Zähmung nicht gelingt. Man braucht nur immer wieder an Kolorado zu erinnern, um zu zeigen, wie brutal die Bourgeoisie alle Machtmittel ausnutzt, die ihr die Republik zur Verfügung stellt, wenn es gilt, widerspenstige Arbeiter niederzuwerfen.

In Amerika findet also der republikanische Aberglaube sehr wenig Anklang in Parteikreisen.

In Frankreich allerdings liegt die Sache nicht so einfach.


Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011