K. Kautsky

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich


6. Die Verfassung der dritten Republik


Nach der blutigen Maiwoche schien es, als sollten die Dinge wieder denselben Lauf nehmen, den sie nach dem 9. Thermidor 1795 und nach der Junischlacht 1848 genommen. Nach der Niedermetzlung der Proletarier war die Bahn wieder frei geworden für die Monarchie.

Wenn es diesmal nicht abermals zu ihrer Aufrichtung kam, lag die Schuld vor allem an den Prätendenten. Wenn sich zwei Prätendenten um einen Thron streiten, so leidet darunter ganz gewaltig der monarchische Gedanke. Das hat uns selbst der Kampf um die Regentschaft auf dem Lippeschen Thrönchen in der so fürstenfrommen Kinderstube Deutschland gezeigt. Wie ganz anders mußte die Katzbalgerei dreier Prätendenten um den Thron auf eine an Respektlosigkeit vor Monarchen so gewöhnte Nation wie die französische wirken. Als aber endlich die Orleans und die Bourbonen sich wenigstens vorübergehend geeinigt und die ersteren auf ihre Anwartschaft zugunsten des Grafen von Chambord verzichtet hatten, da stellte sich’s heraus, daß dieser ein impotenter Idiot war. Darf aber ein im Purpur geborener Fürst alle nur möglichen geistigen und physischen Gebrechen besitzen, ohne zum Tragen der Krone untauglich zu werden, so muß einer, der die Krone erobern will, mindestens soviel Grütze und Keckheit haben, wie ein glücklicher Abenteurer braucht, sonst wird er auch von dem monarchischsten Parlament einem Lande nicht aufgedrängt werden können.

So mußte die Nationalversammlung in Ermanglung eines allen monarchistischen Elementen genehmen, einigermaßen reputierlichen Prätendenten auf den Genuß der Monarchie verzichten. Aber konnte sie dieses köstliche Gut nicht echt produzieren, so setzte sie dafür an seine Stelle ein Surrogat, das dem unverfälschten Vorbild wenig nachgab. 1848 verhöhnte man die deutschen Kleinstaatler, daß sie die Republik mit dem Großherzog an der Spitze wollten. Die Krautjunker der „unauffindbaren Kammer“ schufen das Kaiserreich mit einem Präsidenten der Republik an der Spitze.

Die erste Republik hatte sich gehütet, einen Einzelnen an die Spitze des Staates zu setzen. Auch die zweite hatte erst nach der Junischlacht das Bedürfnis empfunden, die ganze Exekutivgewalt in einer einzigen Hand zu vereinigen. Die Nationalversammlung der dritten Republik dagegen glaubte von vornherein nicht auskommen zu können ohne eine „einheitlich zusammengefaßte und zu energischem Handeln geeignete Exekutivgewalt“, wie sich S. Brie ausdrückt (Die gegenwärtige Verfassung Frankreichs, S. 23), offenbar zur kräftigeren Niederhaltung des Proletariats. Sie erwählte sogleich nach ihrem Zusammentritt im Februar 1871 Thiers zum „Oberhaupt der vollziehende Gewalt“. Die Verfassung von 1875 machte dann die Einrichtung der Präsidentschaft nicht bloß zu einer dauernden, sondern ging bei der Festsetzung der Befugnisse des Präsidenten noch über die von der reaktionären Kammer von 1848 akzeptierten hinaus.

Nach der Verfassung vom 4. November 1848 wurde der Präsident auf vier Jahre gewählt; jetzt beträgt seine Amtsdauer sieben Jahre. 1848 war ihm der Oberbefehl des Heeres versagt; 1875 erhielt er ihn. In der zweiten Republik war der Präsident der Nationalversammlung für seine Amtsführung verantwortlich, jetzt ist er es nicht mehr; seine Minister tragen die Verantwortung für ihn. 1848 war die Kammer permanent, der Präsident konnte sie nicht vertagen oder auflösen, heute kann er ersteres ohne weiteres, letzteres mit Zustimmung des Senats tun. 1848 wurde für alle Staatsverträge die Zustimmung der Nationalversammlung verlangt; heute kann der Präsident Staatsverträge (mit bestimmten Ausnahmen, wie Tarifverträge) abschließen, von denen er der Kammer nur dann Kenntnis zu geben braucht, „wenn das Interesse und die Sicherheit des Staates es gestatten“. Er darf also Bündnisverträge abschließen, die die kriegerische Hilfe seines Landes verbürgen, ohne daß dieses etwas dreinzureden hat, ja überhaupt Genaueres darüber erfährt. Siehe die famose Allianz mit Rußland, durch die Frankreich jeden Moment in einen vernichtenden Krieg hineingehetzt werden kann, ohne daß es bei ihrem Abschluß je befragt und über ihren Inhalt unterrichtet worden wäre.

Über den Vertrag mit Spanien wegen Marokkos berichtete erst jüngst der Pariser Korrespondent der Leipziger Volkszeitung:

„Rein gar nichts hat man über das geheimnisvolle Marokko-Abkommen mit Spanien erfahren. Die bezüglichen Anfragen der oppositionellen Deputierten, Denys Cochin und Charles Benoist, hat der Minister wie zum Hohne lediglich durch die buchstäbliche Wiederholung der sibyllinischen Formel der veröffentlichten französisch-spanischen Deklaration ‚beantwortet‘. Dabei ist der Inhalt des Vertrags im reaktionären Spanien wenigstens den Parteichefs mitgeteilt worden. Noch mehr. Der Inhalt des Vertrags ist der englischen Regierung bekannt. Die französischen Volksvertreter aber dürfen darüber erst nach fünfzehn Jahren – zugleich mit der ganzen Welt – aufgeklärt werden.“

Das nennt man Volkssouveränität!

Wie ein Monarch ernennt der Präsident alle Staatsbeamten; er hat eine Zivilliste von 1.200.000 Franken, einen Palast, einen Hofstaat; endlich ist er Großmeister eines Ordens, damit auch dieses monarchistische Gewächs der Republik nicht fehle. Der Orden der Ehrenlegion, von Napoleon I. Gestiftet, damit die Eitelkeit seiner Großen zu einer Stütze seines persönlichen Regimes werde, ist in der dritten Republik zu ungeahnter Blüte gelangt, die auch unter dem sozialistischen Handelsminister gedieh, der die Verdienste besonders erfolgreicher kapitalistischer Ausbeuter um das Vaterland damit belohnen durfte, auf diese Weise langsam aber sicher den Sozialismus „vorbereitend“ und den Kapitalismus „aushöhlend“.

Dabei ist dieser Orden ein teurer Spaß, da er seinen Mitgliedern Pensionen zahlt, Er verbraucht jährlich über 16 Millionen. Ein netter republikanischer Reptilienfonds!

Endlich werden nach dem Gesetz vom 29. Juli 1881 Beleidigungen des Präsidenten strenger geahndet als die gewöhnlicher Sterblicher – er gilt also als eine über seine Mitbürger erhabene Majestät. Der gutmonarchische Professor Oncken hat ganz recht, wenn er mit Befriedigung konstatiert, daß „der Präsident der neuen Republik die ganz gesunde Stellung hatte, die der Landesfürst in jedem Verfassungsland einnimmt, nur daß er gewählt ward und nach sieben Jahren von selbst aus dem Amte schied“ (Das Zeitalter des Kaisers Wilhelm, II, S. 807)

Man sieht, die Monarchisten sind mit der monarchischen Stellung des Präsidenten der Republik ganz zufrieden. Er ist gewählt, das ist der ganze Unterschied zwischen ihm und einem konstitutionellen Monarchen, etwa dem belgischen oder italienischen.

Aber ist er nicht der Erwählte des allgemeinen Stimmrechtes? Des allgemeinen allerdings, nicht aber des gleichen und direkten.

1848 wurde der Präsident von der Bevölkerung durch das allgemeine gleiche und direkte Sti1mnrecht gewählt. Nach der Verfassung von 1875 wird er erwählt von der Nationalversammlung, die aus der Kammer der Deputierten und dem Senat besteht.

Der Senat, das ist die zweite antidemokratische Einrichtung, mit der die Verfassung von 1875 die Republik bereicherte. So reaktionär sie war, wagte die Nationalversammlung doch nicht, das allgemeine und gleiche Stimmrecht zur Deputiertenkammer anzutasten, das in den zwei Jahrzehnten des Kaiserreichs sich doch schon zu tief eingelebt hatte. Hinter das Kaiserreich konnte die Republik nicht sehr zurückgehen, um so weniger, als zu gleicher Zeit das neue deutsche Kaisertum das allgemeine Stimmrecht zur Basis des Reiches machte.

Aber wie das deutsche Kaisertum dem Reichstag des allgemeinen gleichen und direkten Stimmrechtes gegenüber die Landtage des vielfach allgemeinen, aber ungleichen und indirekten Wahlrechtes als Rückendeckung erhielt, so schuf die Verfassung von 1875 zu demselben Zwecke den Senat, eine Einrichtung, die weder die erste noch die zweite Republik gekannt hatte, die der Monarchie entlehnt war. Er beruht ebenso wie die Kammer der Deputierten auf dem allgemeinen Stimmrecht, aber er wird nicht direkt von den Wählern gewählt, sondern von Wahlkollegien. Jedes Departement erwählt eine gewisse Anzahl Senatoren – auch das kleinste mindestens 2, das Norddepartement 8, das der Seine 10. Schon diese Verteilung bewirkt eine Beeinträchtigung der industriellen, revolutionären Departements zugunsten der agrarischen, reaktionären. So zählte das Departement Hautes Alpes 1901 109.510 Einwohner. Hier kam auf 54.755 ein Senator. Im Norddepartement dagegen zählte man 1.866.994 Einwohner, also auf 238.374 einen Senator. Das Seinedepartement endlich mit 3.669.930 Einwohnern hat gar nur auf je 366.998 Köpfe einen Vertreter im Senat. Die Pariser haben also dadurch schon nur ein Sechstel des Wahlrechtes der Hautes Alpes.

Das ist freilich eine Schönheit der Wahlkreiseinteilung, die auch das Wahlrecht zum deutschen Reichstag ziert.

Dazu kommt aber nun die Zusammensetzung des Wahlkollegiums eines jeden Departements, das die Senatoren wählt. Es setzt sich zusammen aus den Abgeordneten des Departements, seinen Generalräten und Arrondissementsräten, sowie endlich aus den Delegierten der Gemeinderäte. Bemerkenswert sind hier die letzteren. Nach der Verfassung von 1875 hatte jede Gemeinde, wie klein oder groß sie sein mochte, das Recht, einen Delegierten in das Wahlkollegium zu entsenden. Das Gesetz vom 9. Dezember 1884 stufte die Anzahl der Delegierten etwas nach der Größe der Gemeinden ab, aber immerhin noch in ganz ungenügendem Maße. Die kleinen, meist reaktionären Dorfgemeinden bleiben auch jetzt noch zu ungunsten der großen Städte enorm bevorzugt, wie folgende Tabelle zeigt. Es beträgt die Anzahl der Delegierten, die jede Gemeinde als Senatswähler in das Wahlkollegium des Departements entsendet:

Gemeindebevölkerung

Anzahl der delegierten
Senatswähler

 

Bis zu 500

Einwohnern

  1

Von

501

bis

1.500

 

  2

 

1.501

 

2.500

  3

2.501

3.500

  6

3.501

10.000

  9

10.001

30.000

12

30.001

40.000

15

40.001

50.000

18

50.001

60.000

21

 

Über 60.000

24

Man sieht, wie benachteiligt die großen Städte über 60.000 Einwohner sind, besonders aber Paris. 1901 zählte man 137 Gemeinden mit weniger als 50, 10.567 mit 50 bis 800 Einwohnern. Jede von ihnen entsendet einen Senatswähler, zusammen 10.704. Paris dagegen mit seinen 2.700.000 Einwohnern entsendet 30, also auf 90.000 Einwohner einen Senatswähler. Zu der sechsfachen Verkürzung von Paris gegenüber den kleinsten Departements gesellt sich hier die 300- bis 1.800fache gegenüber den kleinsten Gemeinden, die ein Drittel aller ausmachen. Und das erstere wie das letztere Unrecht wächst in dem Maße, in dem Paris und die industriellen Zentren zunehmen, indes das flache Land entvölkert. Von 1881 bis 1901 ist die Zahl der Gemeinden mit weniger als 50 Einwohnern von 67 auf 137 gestiegen, die der Gemeinden zwischen 50 und 300 Einwohnern von 8.771 auf 10.567. Gleichzeitig wuchs Paris von 2.239.928 Einwohnern auf 2.714.068.

Diese Zahlen zeigen schon an, was es mit der Redensart von der Herrschaft des allgemeinen gleichen Stimmrechtes in der französischen Republik auf sich hat. Der Präsident ist der Erwählte nicht nur der Kammer, sondern auch des Senats, die ihn in gemeinsamer Sitzung, als Nationalversammlung vereinigt, erwählen. Der Präsident, der Erwählte des ungleichen Stimmrechtes, ernennt aber die Minister, und diese sind vom Senat ebenso abhängig wie von der Kammer.

Ein sozialistischer Minister in Frankreich ist heute ein Minister von des Senats Gnaden, einer Körperschaft, die zu den konservativsten der Welt gehört und sich rühmen darf, eine der wenigen nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Körperschaften in Europa zu sein, die ebenso frei von Sozialdemokraten ist, wie der preußische und sächsische Landtag.

Wie in der Frage des gesetzgebenden Körpers entfernte sich die Verfassung von 1875 auch in der der Organisation der Staatsverwaltung ganz gewaltig von dem Beispiel der ersten Republik und der Pariser Kommune, um völlig im Geleise des Kaiserreichs zu bleiben. An der Herrschaft der zentralistischen Bureaukratie wurde so gut wie nichts geändert. Der Präfekt bleibt der Herrgott im Departement, ohne dessen Zutun die Gemeinde nichts Wichtiges unternehmen darf und dessen untergebene die Bürgermeister sind.

„Alle Ministerien und alle großen Verwaltungszweige sind am Departementshauptort vertreten: der Krieg durch den General, der Kultus durch den Bischof, die Finanzen durch den Generalstaatskassier und durch verschiedene andere Beamte (Hypothekenbewahrer, Direktor des Enregistrements, der Zölle und der indirekten Steuern usw.), die öffentlichen Arbeiten durch den Chefingenieur, der öffentliche Unterricht durch verschiedene Inspektoren ... Und alle diese Dienstvorstände stehen in fortwährenden Beziehungen zum Präfekten, der den meisten derselben gegenüber Vorgesetzter ist, diese verschiedenen Verwaltungen gleichsam in einem Bündel vereinigt, damit sie sich gegenseitig kennen, verständigen und unterstützen, und der endlich neben beinahe allen diesen Beamten selbst in ihrem Amtskreis mittätig ist.

„In der Tat hat der Präfekt, welcher das unmittelbare Organ des Ministers des Innern ist, wenn er auch das Armeekorps nicht kommandiert, doch die ganzen Rekrutierungsangelegenheiten unmittelbar unter sich; er wirkt, wenn er auch keine Steuern einnimmt, doch bei der Verwaltung der Departements- und Gemeindeeinkünfte mit. Ar ist zwar nicht mit der Justiz befaßt, aber die Sträflinge sind in seine Hand gegeben, und die Gefängnisse unterstehen ihm ausschließlich. Er ernennt und entläßt die Lehrer und belegt sie mit Disziplinarstrafen; ... ebenso übt er auch seinen Einfluß auf den Chefingenieur des Departements in allem, was die Departementsstraßen und Vizinalwege betrifft; endlich verwaltet er das Departements vermögen unter der Oberaufsicht des Generalrats.“ (Josat bei Lebon, Das Staatsrecht der französischen Republik, 1892, S. 102)

Josat hätte zu den Obliegenheiten des Präfekten noch die hinzufügen können, alle Welt auf ihre politische Zuverlässigkeit zu bespitzeln und bei den Wahlen die der Regierung genehmen Kandidaten mit aller Energie und allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln – und das sind nicht wenige – zu unterstützen.

Neben den Präfekten stehen die Vertretungen der Departements – die Generalräte – und die Gemeinderäte. Nach der Napoleonischen Verfassung vom Jahre 1800 waren die Generalräte sowie die Maires der größeren Städte von der Regierung, die Gemeinderäte und die Maires der Gemeinden von weniger als 5.000 Einwohnern vom Präfekten ernannt worden. Die Julirevolution brachte die Wahl dieser Körperschaften nach einem Zensuswahlrecht, die Revolution, von 1848 nach allgemeinem Stimmrecht. Der einzige erhebliche Fortschritt, den die dritte Republik darüber hinaus vollzog, war die Wahl der Maires durch die Gemeinden (1882), wovon aber Paris bis heute ausgeschlossen ist. Es steht auch heute noch unter einem von der Regierung ernannten Bürgermeister, dem Seinepräfekten, dem ein Polizeipräfekt beigegeben ist. Diese Einrichtung des Gesetzes vom 28. Pluviose des Jahres VIII (1800) hat sich bis in die Republik des zwanzigsten Jahrhunderts hinein erhalten, und Herr Lepine sorgt dafür, daß sein Bestehen uns recht oft in eindringlichster Weise zum Bewußtsein gebracht wird. Selbst de Pressensé rief jüngst in der Humanité, was wohl die alten Republikaner, die das Kaiserreich bekämpften, dazu sagten, wenn sie sähen, wie dieses „preußische Paschalik unter dem Regime des Herrn Lepine mächtiger, unabhängiger, der Kontrolle der Bürger wie der Überwachung der Minister mehr entzogen sei als je!“ (Humanité, 2. Oktober) Der letztere Zusatz soll dazu dienen, die Mitschuld der Regierung, der auch Pressensé dient, an den Infamien Lepines, den sie stets deckt, zu mindern. Aber welche demokratische Ohnmacht äußert sich in diesem Schmerzensschrei eines Mitglieds der Regierungspartei!

Auch heute noch unterliegt jeder Beschluß eines Gemeinderats der Sanktion des Präfekten oder des Ministers des Innern; der Präfekt kann auch jeden Akt des Gemeindevorstehers, des Maires, annullieren, jeden von diesem ernannten Polizeidiener der Gemeinde absetzen. Der Maire ist nicht bloß Repräsentant der Gemeinde, sondern auch der Zentralbehörde, deren Weisungen er zu vollziehen hat. Und diese Befugnisse bleiben nicht auf dem Papier, auch dienen sie nicht etwa bloß dazu, Ungeschicklichkeiten oder Mißstände zu beseitigen. Nur ein Beispiel: Der Gemeinderat von Roubaix, den die „Guesdisten“ erobert hatten, beschloß unter anderem, kommunale Apotheken sowie eine unentgeltliche juristische Auskunftstelle, eine Art Arbeitersekretariat zu errichten. Der Präfekt anullierte diese Beschlüsse, und die Regierung trat auf seine Seite (1894).

Das Heer von Staatsbeamten, das die dritte Republik vorfand, wurde von ihr nicht verkleinert. Im Gegenteil, jedes Ministerium suchte seinen Einfluß dadurch zu verstärken, daß es die Zahl der Beamtenposten vermehrte, die man an Protektionskinder seiner Freunde vergeben konnte.

Nur ein Beispiel dafür, das ich gerade zur Hand habe. Am 8. Dezember 1881 erging es Gambetta, dem damaligen Ministerpräsidenten, ziemlich übel,

„als die Gehalte bewilligt werden sollten für zwei neue Ministerien (Ackerbau und schöne Künste) und zwei neue Unterstaatssekretärstellen für Krieg und Ackerbau, die Gambetta eigenmächtig errichtet hatte, um einige Freunde, die er sonst nicht verwenden konnte, zufriedenzustellen.“

Ribot benutzte diese Gelegenheit, Gambetta in der Kammer eins auszuwischen.

„Er gestand, bisher habe er immer geglaubt, was eine demokratische Regierung zu ihrem Vorteil von einer monarchischen unterscheide, sei insbesondere das, daß die Gewalten sich unter eine geringere Anzahl von Köpfen verteilten und daß der ganze prunkende Hofstaat von überflüssigen Menschen verschwinde, den man zur Verzierung alter Monarchien rechne ... Er sehe mit Staunen, wie seit einigen Jahren das Personal der Ministerien beständig zunehme, statt abzunehmen. Aus einer vergleichenden Zusammenstellung der Budgets seit 1874 ergebe es sich, daß allein die Besoldungen der Beamten der Hauptverwaltungen um 1 Millionen Franken gewachsen seien usw.“ (Oncken, a. a. O., S. 826, 827).

Natürlich machte es der tugendhafte Herr Ribot als Minister nicht besser.

„In dem Maße“, sagt Paul Louis, „in dem das Kleinbürgertum zurückging, die Krisis auf dem flachen Lande wuchs, vermehrte die herrschende Klasse das Beamtenheer, um die neuen Rekruten der revolutionären Reserve zu entwaffnen und neue Kontingente an ihre Fahne zu binden: Neben ihre militärische Schutzwehr von 600.000 Mann setzte sie eine bürgerliche von 700.000 bis 800.000 Familien. Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung machte sie dadurch solidarisch mit ihrer Herrschaft, weil zum Teilhaber an ihr.“ (Histoire du Socialisme Français, 1901, S. 280)

Mit der Regierung treten jetzt auch die ministeriellen Sozialisten für das bureaukratische Parasitentum ein.

Eine der überflüssigsten Beamtenkategorien sind die Unterpräfekten. Jahraus jahrein wird der Antrag gestellt, sie zu beseitigen. Vergebens. In diesem Jahre war sogar die Budgetkommission dafür eingetreten. Ihr Antrag wurde mit 314 Stimmen gegen 193 abgelehnt. In der Majorität befanden sich die ministeriellen Sozialisten (bis auf sieben).

Wie mit dem Verwaltungsmechanismus ist es mit dem Richterstand. Auch hier hat die Republik gar nichts Erhebliches geändert. Keine Spur von einer Erwählung der Berufsrichter durch das Volk. Das ganze richterliche Rüstzeug des Kaiserreichs, inklusive die das gerichtliche Verfahren beherrschende Stellung des Staatsanwalts, hat die dritte Republik sich zu eigen gemacht. Kurt Eisner ist sehr begeistert von den französischen Richtern, denen die französische Bourgeoisie eine vorzügliche Erziehung habe angedeihen lassen. Als Beweis dafür dient ihm der „gute Richter“. Leider kann er nur mit einem solchen aufwarten – einen weißen Raben dürfte man vielleicht auch unter den deutschen Richtern auftreiben können. Will man aber wissen, wie „gut gezogen“ die französischen Richter sind, dann erinnere man sich des Prozesses gegen Zola, der diesem wegen seiner Anklagen gegen das Kriegsgericht, das Dreyfus verurteilte, ein Jahr Gefängnis einbrachte. Eine schamlosere Beugung des Rechtes und eine schuftigere Prozeßleitung wie in dieser Affäre ist nicht denkbar.

Ein Jahr für Zolas Kampf um die Wahrheit – ebensoviel, wie jüngst die Fabrikantensöhne Crettiez dafür erhielten, daß sie mit kühler Überlegung drei Arbeiter feig und hinterlistig ermordeten, die sie nicht im geringsten bedrohten.

Den Meuchelmördern halfen die Gerichtspersonen, wo sie konnten: „Die Anklagekammer hat sich direkt zum Anwalt der Mörder herabgewürdigt“, berichtete der Pariser Korrespondent des Vorwärts (29. November 1904). Die Richter ermutigen also indirekt die Fabrikanten zur Niederschießung streikender Arbeiter – das erinnert auf das lebhafteste an die Zustände in der großen, transatlantischen Republik. In der Tat, die republikanische Bourgeoisie hat ihre Richter gut gezogen, zur höchsten Milde gegen wohlhabende oder angesehene Mörder von Arbeitern und zu unerbittlicher Strenge gegen deren Ankläger oder einfache Proletarier.

Wir werden noch Gelegenheit haben, die Arbeiterfreundlichkeit der französischen Richter in einem anderen Zusammenhang kennen zu lernen.

In bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche hat die dritte Republik bisher alles so gelassen, wie sie es vorgefunden. Das 1801 zwischen Bonaparte und dem Papst Pius VII. abgeschlossene Konkordat hat sich bis in unsere Tage in voller Kraft erhalten. Selbst der sozialistische Minister hat noch mehrere Male das Kultusbudget bewilligt, und wenn es jetzt zum Bruche zwischen Staat und Kirche gekommen, ist dies einer Provokation der Kirche zuzuschreiben. Wobei noch immer daran zu zweifeln ist, daß dieser Bruch ein dauernder sein werde. Wir kommen darauf noch später zurück.

Es bleibt uns nur noch ein Herrschaftsmittel zu betrachten, allerdings das wichtigste, die Armee. Hier hat die Republik einschneidende Änderungen getroffen, aber keine anderen als zum Beispiel Österreich und Rußland auch. Wie diese übernahm es die preußische Art der Verquickung von allgemeiner Wehrpflicht mit stehendem Heer. Die große Revolution hatte jene schon durchgeführt und ein wirkliches Volk in Waffen organisiert. Napoleon I. setzte an Stelle der allgemeinen Wehrpflicht die Konskription mit der Möglichkeit für die Besitzenden, sich vom Kriegsdienst loszukaufen. Die Maires und Unterpräfekten hatten darüber zu bestimmen.

Nach dem Gesetz vom 27. Juli 1872 ist jeder kriegstaugliche Franzose zum Militärdienst verpflichtet. Aber er wird nicht ein bewaffneter und im Waffengebrauch geübter Bürger, sondern wie der alte Berufssoldat ist er in der Kaserne vom Volk abgeschlossen, untersteht er auch außerhalb seiner kriegerischen Berufstätigkeit einer besonderen Disziplin und Gerichtsbarkeit, ausgeübt von einer bevorrechteten Offizierskaste, die erhaben ist über die bürgerlichen Gesetze und innerhalb ihrer besonderen Disziplin und Gerichtsbarkeit nur abhängig von ihren Vorgesetzten, in letzter Linie dem Präsidenten, der sie ernennt.

Nicht um das Volk zu bewaffnen, sondern um die Zahl der Soldaten möglichst zu steigern, führte die dritte Republik die allgemeine Wehrpflicht ein. Gleichzeitig damit schaffte um den Rest von Volksbewaffnung ab, der sich aus der großen Revolution noch erhalten hatte, die Nationalgarde. Freilich war sie unter den monarchischen Regimes verkümmert und zu einem Privileg der Reichen, sowie zu einem bloßen Spiel mit Waffen herabgedrückt worden. Aber wie der Februar 1848 und dann 1870/71 während des Krieges und unmittelbar nach ihm die Pariser Ereignisse bewiesen, hatte sie in Zeiten der Revolution dennoch einen zu gefährlichen Ansatzpunkt für die Bewaffnung des Proletariats gegeben. 1848 bestand eines der Mittel der Revolutionäre, sich Waffen zu verschaffen, darin, sie aus den Wohnungen der wohlhabenden Nationalgardisten zu holen, die keine Miene machten, sie zu verteidigen. Die Bourgeoisie konnte also nach 1871 nur noch ruhig schlafen, wenn Waffen außerhalb der Kaserne, außerhalb des Bereichs der militärischen Disziplin, nicht mehr zu finden, alle Klassen des Volkes entwaffnet waren. So wurde 1872 die Nationalgarde aufgehoben. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ging Hand in Hand mit der völligen Entwaffnung des Volkes.

Das geschah unter Mitwirkung derselben bürgerlichen Republikaner, die noch im Dezember 1867 in der Kammer den Antrag auf Einführung eines Milizsystems nach schweizerischem Muster eingebracht und in ihrem Programm von 1869 die Volksbewaffnung verlangt hatten.

Durch die Entwaffnung des Volkes war der bewaffneten Revolution von unten ein starker Riegel vorgeschoben; gleichzeitig aber den Staatsstreichgelüsten der Prätorianer des Offizierskorps Tür und Tor geöffnet. Heute wird den bürgerlichen Republikanern selbst angst vor der Säbelherrschaft, die sie dadurch heraufbeschworen; durch die erbärmlichste Spitzelwirtschaft suchen sie das Offizierskorps niederzuhalten. Aber vergebens. Die Bourgeoisie ist heute so weit gekommen, daß sie sich der Säbelherrschaft nur erwehren kann durch Bewaffnung des Proletariats; die immer drohender heranrückende Herrschaft des Proletariats nur hinauszuschieben weiß durch die Herrschaft des Säbels. Beide Faktoren uneingeschränkt zu beherrschen, ist ihr nicht mehr gegeben. Aber da sie schließlich die Herrschaft der Offizierskaste doch lieber erträgt als die des Proletariats, weigert sie sich hartnäckig, das einzige Mittel zu ergreifen, das dem Säbelregime für immer ein Ende machen kann, die Volksbewaffnung.

Diese Zwickmühle ist für die Freunde der Republik nicht angenehm, aber das ist kein Grund, über die wahren Gründe der Herrschaftsstellung, die der Generalstab in der Republik erlangt hat, die Augen zu schließen und den Glauben zu nähren, das Proletariat schütze die Republik am besten dadurch, daß es von der bürgerlichen Polizeispitzelei Wunder erwarte, und nicht dadurch, daß es seine Forderung auf Volksbewaffnung immer energischer geltend mache.

In der beherrschenden Position, die allmählich dem Offizierskorps mit Naturnotwendigkeit aus dem Militarismus der dritten Republik erwuchs, tritt ihr monarchistischer Charakter am deutlichsten zutage. Mit den staatlichen Institutionen, welche die erste Republik begründete, welche die zweite Republik nach dem Willen der Sieger vom Februar 1848 ins Leben rufen sollte, welche endlich die Pariser Kommune durchzuführen suchte – mit allen diesen Einrichtungen, die unter dem Namen der Republik zusammengefaßt werden, hat die Verfassung der dritten Republik nichts gemein. Dagegen hat sie von der Monarchie alle Herrschaftsinstitutionen übernommen, welche die drei großen Revolutionen Frankreichs zu vernichten gesucht hatten.

Republikanisch ist in der dritten Republik nur noch die direkte Herrschaft der Bourgeoisie, die nicht durch einen erblichen Repräsentanten der Exekutivgewalt vermittelt wird. Dadurch kommt sie aber auch viel leichter in direkte Kollision auf der einen Seite mit dem Proletariat oder dem Kleinbürgertum, auf der anderen Seite mit ihren eigenen Herrschaftsmitteln, die danach trachten, aus Mitteln der Beherrschung der unteren Klassen zu Mitteln der Beherrschung des Staates zu werden.

In jeder Republik spitzen sich die modernen Klassengegensätze schroffer zu als in der Monarchie, da sich die Klassen in jener unvermittelter entgegentreten. Am schroffsten müssen sie sich aber in einer Republik mit monarchischen Herrschaftsmitteln äußern, da hier zur republikanischen Unvermitteltheit der Klassengegensätze noch ihre Verschärfung durch der Monarchie entsprechende politische Ungleichheiten und Unterdrückungen hinzukommt, was einen steten Drang nach politischen Umwälzungen erzeugt, der der reinen Demokratie fehlt. In ihren monarchischen, nicht in ihren republikanischen Institutionen liegen heute die Gefahren für die Republik. Diese monarchischen Einrichtungen werden aber zurzeit am eifrigsten verteidigt von den regierenden Republikanern aller Schattierungen, die ministeriellen Sozialisten eingeschlossen.


Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011