Karl Kautsky

Die Klassengegensätze im Zeitalter
der Französischen Revolution


II. Die absolute Monarchie


Ehe wir zur Betrachtung der Klassengegensätze in der großen Revolution übergehen, erscheint es uns angezeigt, einen Blick auf das Staatswesen zu werfen, innerhalb dessen sie sich entfalten. Die Staatsform bestimmt die Art und Weise, in der die einzelnen Klassen ihre Interessen wahrzunehmen suchen, bestimmt die Formen des Klassenkampfes.

Die Form des französischen Staates war von 1614 bis 1789 die der absoluten Monarchie, also einer Staatsform, die eigentlich jeden intensiven Klassenkampf unter normalen Verhältnissen ausschließt, da sie jede politische Tätigkeit der „Untertanen“ verbietet, die also auf die Dauer unverträglich ist mit der heutigen Gesellschaft. Jeder Klassenkampf muß schließlich ein politischer Kampf werden, jede aufstrebende Klasse muß daher, wenn ihr politische Rechte fehlen, nach deren Gewährung ringen. Mit dem Gewinn dieser Rechte hören freilich die politischen Kämpfe nicht auf; im Gegenteil, von da an beginnen sie erst recht, eine Wahrnehmung, die 1789 wie später 1848 gar manche Ideologen überraschte und erschreckte.

Der Absolutismus, das heißt die Unabhängigkeit der Staatsgewalt von den herrschenden Klassen, die Form des Staates, in der die Staatsgewalt nicht direkt ein Werkzeug der Klassenherrschaft ist, sondern anscheinend ein selbständiges Dasein über den Parteien und Klassen führt, kann nur dort sich bilden, wo die einzelnen der'~im gesellschaftlichen Leben maßgebenden Klassen einander das Gleichgewicht halten, so daß keine stark genug ist, die Staatsgewalt an sich zu reißen. Diese ist unter solchen Verhältnissen imstande, jede der bestehenden Klassen durch die anderen im Schach zu halten, ihnen allen Waffenstillstand, Aufhören der politischen Kämpfe zu gebieten, sie alle sich dienstbar zu machend

Ein solcher Zustand war in Frankreich im 17. Jahrhundert eingetreten. Die feudale Produktionsweise war im Verfall begriffen, und der auf dem Grundbesitz beruhende Feudaladel wie die alte Kirche hatten die Fähigkeit verloren, ein selbständiges politisches Dasein gegenüber der Staatsverwaltung zu behaupten, hinter der die aufstrebenden Geldmächte standen. Sie wurden vielfach zu Dienern des Königtums, zu Stützen des Absolutismus. Ein immer größerer Teil des Adels begab sich in die Reihen des Hofadels, wurde eine Sorte höherer Lakaien des Königs, der es dafür übernahm, für ihr materielles Wohlergehen zu sorgen. Aus einer Schranke des Absolutismus wurde der Adel und mit ihm die höhere Geistlichkeit immer mehr eine Stütze desselben.

Die Macht des Königtums wurde um so unumschränkter, je größer die Machtmittel, die die neue Produktionsweise in seine Hände legte. In der Feudalzeit waren die einzelnen Gemeinwesen, die den Staat bildeten, ökonomisch fast völlig selbständig gewesen, da sie so ziemlich alles selbst erzeugten, dessen sie bedurften. Daraus folgte auch ihre politische Selbständigkeit. Die Warenproduktion und der Warenhandel machten dagegen die verschiedenen Gemeinwesen der Nation von einigen oder einem ökonomischen Mittelpunkt abhängig, und ließen der ökonomischen Zentralisation die politische folgen.

An Stelle der Organe der Selbstverwaltung der Provinzen und Gemeinden traten Organe der zentralisierten Staatsverwaltung, eine Bureaukratie, die täglich neue Gebiete eroberte, täglich straffer diszipliniert und von der Zentralgewalt abhängiger wurde.

Und neben der Bureaukratie erstand aus einer Reihe von Ursachen, die auch mit der Warenproduktion zusammenhängen, auf die einzugehen uns jedoch hier zu weit führen würde, ein stehendes Heer, völlig abhängig von der Staatsgewalt, zunächst zur Verteidigung des Staatswesens nach außen bestimmt, aber auch verwendbar, bewaffneten Widerstand gegen die Staatsregierung im Innern des Landes mit Gewalt niederzuschlagen.

Freilich bedurften diese neuen Einrichtungen zu ihrer Erhaltung Geld, viel Geld; die Macht der Staatsgewalt hing also in letzter Linie von den Beisteuern der Geld besitzenden oder erwerbenden Staatsbürger ab. Verweigerten diese ihre Beisteuern, oder knüpften sie daran gewisse Bedingungen, und hatten sie damit Erfolg, dann war es mit dem Absolutismus, mit der völligen Unabhängigkeit der Staatsgewalt vorbei. Solange aber die betreffenden Klassen die dazu nötige Kraft des Widerstandes nicht besaßen oder ihre Interessen diesen Widerstand nicht dringend notwendig machten, durften die Inhaber der Staatsgewalt sich wirklich einbilden, daß das Staatswesen nur ihren persönlichen Interessen dienstbar sei.

Der Staat ward eine bloße Domäne des Landesfürsten, das Interesse des Monarchen eins mit dem Staatsinteresse, je mächtiger, je reicher der Staat, desto mächtiger, desto reicher sein Beherrscher. Seine wichtigste Aufgabe wurde jetzt die, ebenso für das materielle Wohl seiner Untertanen zu sorgen, wie der Schäfer für das Gedeihen der Schafe, die er scheren will. Je mehr die Bureaukratie die früheren Formen der Staatsverwaltung verdrängte, desto stärker und ausgedehnter wurden ihre Eingriffe in die materiellen Verhältnisse, desto eifriger war die Staatsgewalt bemüht, Handel, Industrie und Ackerbau zu fördern, die ihrer Entwicklung entgegenstehenden Hindernisse durch administrative und andere Reformen zu beseitigen und die den Reichtum produzierenden Klassen zu schützen vor dem übermäßigen Druck und der entkräftenden Ausbeutung der Privilegierten; kurz, je absoluter die Monarchie wurde, desto größer ihre Tendenz, „aufgeklärte“ zu sein.

Es ist diese Seite der Monarchie des 18. Jahrhunderts, die alle jene in erster Linie im Auge haben, die aus der Geschichte nachweisen wollen, daß das „soziale Königtum“, der Schutz der Schwachen vor den Starken, die Sorge für die materielle Wohle fahrt des Volkes, der „natürliche Beruf“ der Monarchie sei; ein Beruf, den leider der Parlamentarismus verdunkele, der an die Stelle der Herrschaft des über den Parteien stehenden Fürsten die Herrschaft der Parteien, der Sonderinteressen, setze.

Die Herren, die so argumentieren, vergessen zweierlei. Erstens, daß das Eingreifen der absoluten Fürsten des 18. Jahrhunderts in die ökonomischen Verhältnisse nicht den Schutz der Schwachen zum Ziel hatte, sondern die Förderung des „Nationalreichtums“, das heißt der Warenproduktion.

Dies war im Grunde aber nichts anderes, als die Förderung der Kapitalisten, oft direkt, durch Schutzzölle, Monopole, Subventionen für ihre Unternehmungen, Aber auch Maßnahmen, die ihnen nicht direkt galten, Verbesserungen der Schule, Aufhebung der Leibeigenschaft und andere, kamen schließlich doch auch ihnen zugute. Die Schwachen zu schützen und zu fördern, wenn es nicht eine Vermehrung des „Nationalreichtums“, also auch des Staatseinkommens versprach, wäre einem absoluten Fürsten nie eingefallen. Um das Proletariat, das arbeitende wie das Lumpenproletariat, kümmerten sich die Regenten des 18, Jahrhunderts in derb Regel nur insofern, daß sie für dessen Polizeiliche Niederhaltung sorgten. Und Bauer und Handwerker wurden auch nur – wenn überhaupt – so weit geschützt, als ihre Steuerfähigkeit in Betracht kam.

Der „Schutz der Schwachen vor den Starken“ lief also im Wesentlichen hinaus auf die Förderung der Klasse, von der die Staatsgewalt wenn auch noch nicht politisch, so doch schon in hohem Maße ökonomisch abhängig war, der Bourgeoisie.

Die Monarchen des 18. Jahrhunderts zogen aber große Einnahmen nicht bloß aus den Geldsteuern, sondern auch noch aus :ihrem Grundbesitz, dem feudalen Ursprung des Königtums entsprechend. Der König war in der Regel (abgesehen von der Kirche) der größte Grundbesitzer im Lande, er war es entschieden in Frankreich.

„Wir wissen nicht genau, wie der Grundbesitz 1789 verteilt war“, sagt Leonce de Lavergne, „wir wissen über die königlichen Domänen nur, daß übereinstimmend angegeben wird, sie hätten zusammen mit den Gütern der Gemeinden ein Fünftel des Bodens von Frankreich bedeckt.“ [1] Welche ungeheure Ausdehnung sie hatten, kann man ermessen, wenn man hört, daß allein die königlichen Jagdforste eine Million Morgen umfaßten, ein Gebiet, an Umfang ungefähr dem Großherzogtum Oldenburg gleich.

Dazu kommen noch die Güter der Prinzen der königlichen Familie, die nach Necker ein Siebentel von Frankreich einnahmen.

Als Herr von feudalen Domänen hatte aber der Fürst andere Interessen wie als Herr der großen Domäne Staat- Selbst Feudalherr, dessen Vettern und „guten Freunde“ alle auch Feudalherren waren, hatte er alle Ursache, an der feudalen Ausbeutung, an den feudalem Privilegien aufs hartnäckigste festzuhalten und allen Reformen sich zu widersetzen, wodurch sie hätten geschmälert werden können. Als Chef der Feudalität sah er die Aufgabe der Staatsverwaltung nicht darin, die materielle Wohlfahrt der Untertanen möglichst zu fördern, sondern ihnen möglichst viel auszupressen, um den Ertrag im eigenen Interesse, im Interesse seines Hofes, im Interesse des höfisch gewordenen Adels zu verwenden. Als Oberster der Privilegierten suchte er die Staatsgewalt nicht dazu anzuwenden, die „Schwachen“, das heißt die Nichtprivilegierten, vor den Starken, den Privilegierten, zu schützen, sondern dazu, auch den geringsten Versuch der Schwachen zu ersticken, sich des Übermuts der Starken zu erwehren.

So wohnten im Königtum des 18. Jahrhunderts zwei Seelen, eine „aufgeklärte“ und eine in den „Vorurteilen des finsteren Mittelalters“ befangene. Zur absoluten Gewalt gelangt dadurch, daß die herrschenden Klassen der untergehenden feudalen und die der aufsteigenden kapitalistischen Produktionsweise, daß Adel und Bourgeoisie dahin gekommen waren, einander die Wage zu halten, beherrschte es formell beide, stand über ihnen und sah sich doch gezwungen, tatsächlich die Interessen beider zu vertreten. Der „Schutz der Schwachen vor den Starken“ gestaltete sich in Wirklichkeit so, daß der Absolutismus, soweit er überhaupt Einfluß auf die ökonomischen Verhältnisse hatte, die unteren Volksklassen dem Elend nicht bloß der feudalen, sondern auch der kapitalistischen Ausbeutung unterwarf, bis er ihnen als die Verkörperung der Ausbeutung überhaupt erschien.

Die Interessen von Adel und Bourgeoisie waren aber zu gegensätzlich, als daß ihnen die absolute Monarchie hätte völlig genügen können. Sie konnte nicht den Adel befriedigen, ohne die Bourgeoisie zu verletzen, und umgekehrt.

Die Kämpfe zwischen diesen beiden Klassen hörten auch unter dem absoluten Regime nie völlig auf; aber solange der Gleichgewichtszustand zwischen diesen Klassen dauerte, solange die Bourgeoisie nicht daran denken konnte, die Staatsgewalt, das Königtum, sich dienstbar zu machen, nahm der Klassenkampf zwischen den höheren Schichten der Gesellschaft vorwiegend die Form des Buhlend verschiedener Fraktionen und Koterien um die Gunst des Monarchen an, ein Kampf, in den natürlich uur die Spitzen der Gesellschaft eingreifen konnten, der Hofadel und die höchsten Würdenträger der Kirche, die hohe Finanz, die hervorragendsten Vertreter der Bureaukratie und der „Intelligenz“ und dergleichen. Der Fürst stand da ebensowenig über den Parteien, als das in einem parlamentarisch regierten Staate der Fall ist. Der Unterschied besteht bloß darin, daß im absoluten Staat die Interessen viel kleinlicher sind, deren Werkzeug der Monarch wird, die Machinationen und Intrigen viel erbärmlicher, durch die man ihn gewinnt.

Angesichts dieser Kämpfe der Cliquen um die Person des Königs, die ihn bald auf diese, bald auf jene Seite zerrten, wie die Achajer und Trojaner den Leichnam des Patroklus; angesichts des Zwiespalts, der dem Königtum des 18. Jahrhunderts von vornherein anhaftete, da der König gleichzeitig Haupt der Verwaltung des modernen Staates und Haupt des Feudaladels war, bedurfte es besonderer Klarheit und Charakterfestigkeit des Staatsoberhauptes, sollte wenigstens einigermaßen die Einheitlichkeit in der Regierung bewahrt bleiben. Die Konfusion mußte heillos werden, sobald ein von Natur aus haltloser Charakter das Staatsruder in die Hände bekam. Ein solcher Charakter war Ludwig XVI. Seine Situation wurde jedoch nicht verbessert dadurch, daß Marie Antoinette, seine Gemahlin, den gerade entgegengesetzten Charakter besaß, einen Eigensinn, den ihr Hochmut noch verderblicher machte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es noch andere Bedürfnisse gebe als die des Hofes. In ihren Augen hatte das Königtum nur eine Aufgabe, den Hof zu amüsieren und mit Geld zu versehen.

Wir werden gleich sehen, was das bedeutete.


Fußnote

1. L. de Lavergne, Économie rurale der France depuis 1789, Paris 1866, S. 49.


Zuletzt aktualisiert am 02.08.2010