Karl Kautsky

Die Klassengegensätze im Zeitalter
der Französischen Revolution


III. Adel und Geistlichkeit


So gering an Zahl Adel und Geistlichkeit waren [1], nur ein Teil davon, und keineswegs der größere, führte im 18. Jahrhundert jenes üppige, luxuriöse Leben, entfaltete jenen Glanz und jene tolle Verschwendung, die man als die charakteristischen Merkmale der Gesellschaft der Privilegierten vor der Revolution betrachtet. Nur die Spitzen des Adels und der Geistlichkeit, die Herren ungeheurer Ländereien, konnten sich den Luxus und jene Verschwendung erlauben, in dem Glanz ihrer Salons, der Pracht ihrer Feste, der Großartigkeit ihrer Bauten miteinander wetteifern – der einzige Wetteifer, der noch dem Adel geblieben war. Zu einem Wetteifer auf Gebieten, wo nur persönliche Tüchtigkeit entschied, war er längst zu träge und zu charakterlos geworden. Der Wetteifer darin, wer am meisten Geld ausgeben könne, also, so mußte man wohl schließen, am meisten Geld einnehme, entsprach dem Charakter der Warenproduktion, in deren Bereich der Adel zum größten Teil geraten war. Aber noch hatte er sich der neuen Produktionsweise nicht so weit angepaßt, wie zum Beispiel der heutige Adel. Das Geldausgeben hatte er bald gelernt, die Einnahmen zu erhöhen durch Handel mit Wolle, Getreide, Schnaps usw. verstand er nicht so gut wie seine heutigen Standesgenossen. Auf seine feudalen Einnahmen angewiesen, verschuldete der Adel rasch. War das schon beim hohen Adel der Fall, wie viel mehr beim mittleren und niederen! Gab es doch zahlreiche Adelsfamilien, die nicht mehr als 50, ja 25 Livres jährliches Einkommen aus ihrem Grund und Boden zogen! Je größer ihre Armut, desto größer, desto unerbittlicher ihre Ansprüche an ihre Bauern. Allein das gab nicht viel aus. Anleihen halfen bloß vorübergehend, um hintendrein das Elend um so ärger anwachsen zu lassen. Die einzige dauernde Hilfe in der Not bot der Staat; dessen Plünderung ward immer mehr die Haupttätigkeit des Adels. Alle einträglichen Ämter, die der König zu vergeben hatte, wurden seine Beute. Und da die Zahl der ruinierten oder dem Ruin nahestehenden Adeligen von Jahr zu Jahr wuchs, mußte auch die Zahl solcher Ämter immer mehr wachsen; die lächerlichsten Vorwände wurden schließlich erfunden, um einem bedürftigen Adeligen ein Recht auf Ausbeutung des Staates zu verleihen. Daß neben den bedürftigen die mächtigen, ebenfalls verschuldeten und habgierigen hohen Adeligen nicht vergessen wurden, liegt auf der Hand.

Vor allem waren die Hofämter gesuchte Sinekuren. Sie waren am besten bezahlt, erforderten zu ihrer Besorgung am wenigsten Wissen und Arbeit und führten direkt an den Quell aller Vergünstigungen und aller Vergnügungen. An 15.000 Personen waren bei Hofe angestellt, die größte Mehrzahl nur, um unter einem Titel eine Einnahme zu erzielen. Ein Zehntel des Staatseinkommens, über 40 Millionen Livres (die gemäß der Wertverschiebung heute ungefähr 100 Millionen Franken entsprechen würden, mußte zur Fütterung dieser unnützen Masse aufgeboten werden.

Aber damit begnügte sich der Adel nicht. Bei der Staatsverwaltung gab es verschiedene Sorten von Beamtenstellen. – Die einen erforderten eine gewisse Vorbildung und machten große Ansprüche an die Arbeitskraft. Diese, denen die Staatsverwaltung tatsächlich oblag, wurden mäßig bezahlt und Bürgerlichen verliehen. Daneben gab es Posten, die bloß zu „repräsentieren“ hatten, deren Inhabern bloß die schwere Aufgabe oblag, sich und ihresgleichen zu amüsieren. Diese reichdotierten Stellen blieben dem Adel vorbehalten. [2]

Bei der Besetzung der Offiziersstellen in der Armee hatte man früher in erster Linie das Verdienst berücksichtigt. Unter Ludwig XIV. fand man ebensogut bürgerliche wie adelige Offiziere in der Armee. Nur in Friedenszeiten wurden letztere bevorzugt. Je ämterhungeriger aber der Adel wurde, desto mehr trachtete er danach, sich die höheren Offiziersstellen zu reservieren. Die Unteroffiziere, die den schwierigsten Dienst hatten, mochte man aus der „Canaille“ rekrutieren. Die gut bezahlten und ehedem nicht allzu viele Mühe – namentlich in Friedenszeiten – und Wissen erfordernden Offiziersstellen wurden ein Privilegium des Adels. Die Offiziere kosteten jährlich 46 Millionen Livres, die gesamte Mannschaft mußte sich mit 44 Millionen begnügen. Je verschuldeter der Adel, desto ängstlicher wachte er über dem Privilegium der Offiziersstellen. Wenige Jahre vor .dem Ausbruch der Revolution (1781) erschien ein königliches Edikt, das die Offiziersstellen dem alten Adel vorbehielt. Wer Offizier werden wollte, hatte nicht weniger als vier adelige Ahnen im Mannesstamm nachzuweisen. Also nicht bloß das Bürgertum, sondern auch der gesamte seit einem Jahrhundert neugebackene Adel wurde dadurch vom Offiziersstand ausgeschlossen.

In der Kirche waren die höheren, gutbezahlten Stellen teils von vornherein ausdrücklich dem Adel vorbehalten, teils waren sie es tatsächlich, da ihre Besetzung dem König zustand, der immer mehr nur Adelige zu diesen Stellen zuließ. Auch da wurde die ausschließliche Berechtigung des Adels zu den gutdotierten Stellen kurz vor der Revolution ausdrücklich bestimmt, wenn auch nicht öffentlich bekannt gemacht. Die 1.500 reichen Pfründen; über die der König zu verfügen hatte, fielen ebenso ausschließlich dem Adel zu, wie die bisschöflichen und erzbischöflichen Sitze. Und es waren gar fette Pöstchen darunter. Die 181 Bischöfe und Erzbischöfe Frankreichs hatten zusammen aus ihren Stellen ein jährliches Einkommen von mehr als 14 Millionen Livres, über 100.000 Livres pro Kopf. Der Kardinal Rohan, Erzbischof von Straßburg, bezog als Kirchenfürst über eine Million Livres jährlich! Da durfte dieser würdige Seelenhirt sich schon den Luxus erlauben, ein Diamantenhalsband um 1.400.000 Livres zu kaufen, in der Erwartung, damit die Gunst der Königin Marie Antoinette zu gewinnen.

Aber alle die so reich dotierten Stellen in der Kirche, der Armee, der Staatsverwaltung, bei Hofe genügten noch nicht dem teils habsüchtigen, teils verschuldeten Adel. Immer wieder wurde der König bestürmt, aus dem Vermögen des Staates dem Adel außerordentliche Zuwendungen zu machen, hier, um einen bedrängten Adeligen aus seinen Geldverlegenheiten zu befreien, dort, um der Laune eines hohen Herrn oder einer hohen Dame zu genügen.

Von 1774 bis 1789 allein wurden in dieser Weise an Pensionen, Geschenken und in ähnlicher Weise 228 Millionen Livres aus. dem Staatsschatz verausgabt, davon 80 Millionen für die Familie des Königs. Jeder der beiden Brüder des Königs hatte in dieser Weise über 14 Millionen erworben. Der Finanzminister Calonne kaufte wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution, angesichts eines riesenhaften Defizits im Staatshaushalt, das Luftschloß St. Cloud um 15 Millionen Livres für die Königin und Rambouillet um 14 Millionen für den König. Denn dieser betrachtete sich nicht bloß als Staatsoberhaupt, sondern auch als Ersten unter den Grundbesitzern und trug kein Bedenken, sich als solcher auf Staatskosten zu bereichern.

Die Familie Polignac, die sich der besonderen Gunst Marie Antoinettes erfreute, bezog allein Pensionen im Betrag von 700.000 Livres. Der Herzog von Polignac erhielt dazu eine Leibrente von 120-000 Livres und ein einmaliges Geschenk von 1.200.000 Livres, sich damit ein Gut zu kaufen. [3]

Wir haben bisher vom Adel schlechthin als vom Unternehmer dieser organisierten Plünderung von Staat und Volk gesprochen. Dies ist eigentlich ungenau. Ein erheblicher Teil des Adels, freilich nur eine Minorität, beteiligte sich nicht nur nicht daran, sondern war darüber aufs äußerste entrüstet. Es war das der kleinere und mittlere Adel der ökonomisch zurückgebliebenen Provinzen, in denen die Feudalwirtschaft noch in voller Kraft fortbestand, so zum Teil in der Bretagne, so in der Vendée. Da lebten die Feudalherren nach alter Weise auf ihren Schlössern, statt nach Paris und Versailles zu ziehen, inmitten ihrer Bauern, selbst nur höhere Bauern; roh und ungebildet, aber auch kräftig und selbstbewußt, befriedigten sie leicht ihre Ansprüche, die sich hauptsächlich auf vieles und gutes Essen und Trinken erstreckten, durch die Naturallieferungen ihrer Hintersassen. Weder von Schulden gedrängt, noch zu kostspieligem Aufwand getrieben, hatte sie keine Ursache, die ihnen gebührenden Leistungen zu vermehren oder auch nur rücksichtslos einzutreiben. Sie standen mit ihren Bauern keineswegs auf schlechtem Fuße. Schon das Zusammenleben unter ähnlichen Umständen erweckt eine gewisse Sympathie. Und der Feudalherr in den zurückgebliebenen Gegenden war noch nicht der unnütze Ausbeuter und Schmarotzer wie in den vorgeschritteneren. In letzteren hatte die königliche Bureaukratie nach und nach alle administrativen, polizeilichen und richterlichen Funktionen von Bedeutung, die ehedem der Feudalherr ausgeübt, übernommen. Was diesem davon noch blieb, war für die Ordnung und Sicherheit seines Gebiets gleichgültig, es wurde aus einem Mittel, dessen Wohlstand zu wahren, zu einem Mittel, es auszubeuten. Die gutsherrlichen Justiz- und Polizeibeamten bekamen da keineswegs ein Gehalt. Im Gegenteil, sie mußten ihre Posten bezahlen; sie erkauften damit die Erlaubnis, die untergebenen ihres Herrn zu rupfen.

Anders in den altfeudalen Bezirken. Der Gutsherr verwaltete da noch seinen Gutsbezirk, sorgte für die Straßen und die Sicherheit auf denselben, entschied Streitigkeiten unter seinen Untergebenen, bestrafte Vergehen und Übertretumgen. Ja, er übte mitunter sogar noch die alte Funktion aus, seine Leute gegen den auswärtigen Feind zu schützen – freilich nicht gegen feindliche Armeen. Der Feind, der sich in diesen Landschaften von Zeit zu Zeit zeigte, sie zu plündern, das waren die Steuerbeamten des Königs; wir haben Beispiele erhalten, daß der Feudalherr sie verjagte, wenn sie es zu bunt trieben.

Diese Adeligen waren keineswegs gesonnen, sich der königlichen Gewalt unbedingt zu unterwerfen. Der Hofadel mit seinen Anhängseln in Armee, Kirche und höherer Bureaukratie hatte alle Ursache, für die Stärkung der absoluten Gewalt des Königs einzutreten. Was den Feudalherren nicht gelang, auf Grundlage ihrer feudalen Titel dem Bauer zu erpressen, das holten die Steuerpächter und Beamten des Königs heraus, und zwar um so besser, je größer ihre Macht, je absoluter die königliche Gewalt. Je unumschränkter das Königtum, desto willkürlicher und rücksichtsloser konnte es die Steuerschraube anziehen, desto mehr konnte es aber auch von den Staatseinnahmen der Deckung der Staatsbedürfnisse entziehen und an seine Kreaturen verschwenden.

Das war jedoch nicht nach dem Sinne der Landjunker. Von den Gnaden des Hofes fiel für sie nichts ab, sie bedurften deren auch nicht. Je mehr aber die Steuerschraube angezogen wurde, desto mehr verarmten ihre Untertanen, und je mehr die richterliche, administrative und polizeiliche Gewalt an die Bureaukratie des Königs kam, desto mehr verloren sie selbst an Macht und Ansehen in ihrem Bezirk.

Sie fühlten sich nicht, gleich den Hofschranzen, als Lakaien des Königs, sondern in echt feudalem Geiste als dessen Ebenbürtige. Für sie war, wie in der Feudalzeit, der König nur der größte Grundbesitzer unter Grundbesitzern, der Erste Unter Gleichen, der keine Veränderung im Staate ohne ihre Zustimmung vollziehen durfte, dem gegenüber sie an ihren angestammten Freiheiten und Rechten zäh festhielten, freilich ohne großen Erfolg. Sie hatten um so mehr Ursache dazu, da in dem Maße, als die Bedürfnisse des Staatsschatzes stiegen, neue Steuern eingeführt wurden, die, entgegen seiner früheren Steuerfreiheit, auch den Adel trafen, so daß die Landjunker zu den Lasten des Staates beitragen mußten, ohne seiner Vorteile teilhaftig zu werden. Immer lauter riefen sie daher nach Sparsamkeit im Staatshaushalt, nach Reformen des Finanzwesens, nach dessen Überwachung durch eine ständische Vertretung.

So sehen wir den Adel in zwei einander feindliche Fraktionen gespalten: in den Hofadel und dessen Anhang, der die ganze hohe und die Mehrheit der mittleren und niederen Aristokratie umfaßt, der entschieden eintritt für die absolute Gewalt des Königtums, und in den Landadel, aus dem mittleren und niederen Adel ökonomisch unentwickelter Bezirke bestehend, der lebhaft nach der Einberufung einer stäudischen Vertretung zur Kontrolle der Staatsverwaltung verlangt.

Beurteilt man Parteien der Vergangenheit nicht nach den Klasseninteressen, die sie vertreten, sondern nach der äußerlichen Übereinstimmung ihrer Tendenzen mit modernen Schlagworten, dann müssen uns die zurückgebliebensten Elemente Frankreichs als „vorgeschrittene“, als „Liberale“ erscheinen, da sie an Stelle der absoluten eine beschränkte Monarchie, in ähnlicher Weise wie der dritte Stand, anstrebten.

Und doch stand niemand den neuen Ideen und den aufstrebenden Klassen so feindlich gegenüber wie sie.

Der Krautjunker hegte gegen den Bourgeois den Haß des Bauern gegen den Städter, des Menschen der Naturalwirtschaft gegen den Geldmenschen, des Ungebildeten gegen den Gebildeten, des Erbgesessenen gegen den sich eindrängenden Emporkömmling. Er behandelte ihn mit unverhohlener Verachtung, wo er ihm begegnete, was freilich nicht allzu häufig der Fall war.

Dagegen kamen der städtische Adel und ein Teil der Bourgeoisie einander rasch näher. Dem Gevatter Schneider und Handschuhmacher begegnete freilich der höfische Aristokrat womöglich noch hochmütiger als sein Standesgenosse vom Lande. Der Handwerker mußte sich’s zur Ehre anrechnen, für den hohen Herrn arbeiten zu dürfen; daß er für seine Arbeit auch bezahlt sein wollte, erschien als eine unverschämte Anmaßung. Ganz anders verkehrte man aber mit den Herren von der hohen Finanz. Sie besaßen in reichlichstem Maße, was der Adel am meisten brauchte, Geld; von ihnen hing er ab, in ihrem Belieben lag es, ihn bankerott zu machen oder seine Existenz noch weiter zu fristen. Wenige Familien ausgenommen, waren die höfischen Aristokraten alle die Schuldsklaven der hohen Finanz, vom König bis zum geringsten Pagen. Solchen Herren durfte man nicht zu anmaßend kommen. Ludwig XIV., der stolze „König Sonne“, hatte einst im Angesicht des Hofes den Juden Samuel Bernard gleich einem Fürsten begrüßt: allerdings war der Mann sechzigfacher Millionär. Sollten des Königs Diener stolzer sein als ihr Herr? Die hohe Finanz wurde dem Adel immer ähnlicher; sie kaufte adelige Titel und adelige Güter; gar mancher verarmte Edelmann suchte sogar sein verrostetes Wappenschild durch eine Ehe mit einer reichen Finanzaristokratin von neuestem Adel zu vergolden. Man tröstete sich damit, daß der beste Acker von Zeit zu Zeit gedüngt werden müsse. Seitdem ist der Adel ziemlich tief in den Dünger hinein: geraten. Die Salons der hohen Finanz glichen immer mehr denen des Adels, und was die Annäherung der beiden Klassen vielleicht am meisten förderte, sie fanden sich im gleichen Kote. Die Prostituierten waren für Lebemänner aus dem dritten Stande ebenso feil wie für Grafen, Herzöge und Bischöfe. Im Bordell verschwanden alle Standesunterschiede, und der Hof von Frankreich ähnele einem solchen in bedenklicher Weise. Wir haben oben gesehen, wie ein Erzbischof eine Königin mit Diamanten zu erkaufen suchte.

Verschiedene Schriftsteller (so zum Beispiel Buckle) haben in der zunehmenden Vermischung der Adeligen mit den Geldleuten von Paris ein Resultat des „demokratischen Geistes“ gesehen, der vor dem Ausbruch der Revolution angeblich in allen Köpfen spukte, zu welcher Klasse immer sie gehören mochten. Schade, daß um dieselbe Zeit gerade auf das Betreiben dieser „demokratischen“ Edelleute hin die Ahnenprobe für den Offiziersstand verschärft, die Kirchengüter für eine ausschließliche Apanage des Adels erklärt und neue adelige Sinekuren in der Bureaukratie geschaffen wurden. Es waren nicht die demokratischen Ideen, sondern materielle Interessen, welche, während sie in bezug auf die Staatsämter die aristokratische Exklusivität verschärften, die äußerliche Trennung zwischen dem alten Grundadel und dem neuen Geldadel zusehends abschwächten.

Diese „Vorurteilslosigkeit“ des Pariser Adels auf dem Gebiet der Geselligkeit war natürlich den Krautjunkern ein Greuel. Noch mehr vielleicht die Vorurteilslosigkeit auf religiösem und moralischem Gebiet. Der Landadelige, der noch inmitten des alten feudalen Getriebes lebte, hielt auch fest an den Gedankenformen, die demselben entsprachen, an der Religion seiner Väter. Für den Pariser Adeligen waren dagegen die Überreste des Feudalismus nur noch Mittel, die Massen auszubeuten und niederzuhalten; einen anderen Sinn hatten für ihn seine Funktionen nicht mehr, von denen sich meist nur noch der Titel und die dem entsprechenden Einkünfte erhalten hatten. Von diesem Standpunkt aus betrachtete er auch die Religion. Für ihn selbst, der in der Stadt fern von den feudalen Ruinen lebte, verlor sie jede Bedeutung; sie erschien ihm nur noch gut, gleich den anderen Überresten der Feudalzeit, die Massen niederzuhalten und auszubeuten. Für das „unwissende“ Volk war in seinen Augen die Religion höchst notwendig, es konnte ohne sie nicht bestehen; aber der „aufgeklärte“ Adel mochte ihrer spotten.

Hand in Hand mit der Entwicklung der Freidenkerei in den adeligen Salons ging der Verfall der alten Sitten, denen ja auch die materielle Grundlage entzogen war. Für den altfeudalen Grundherrn war sein Haushalt und die Beschaffenheit der Herrin desselben von der größten Bedeutung; ohne geregelte, stetige Haushaltung geriet der ganze Mechanismus der Produktion ins Stocken. Eine feste Ehe, eine stramme Familienzucht waren da eine Notwendigkeit. Für den Höfling, der nichts mehr zu tun hatte, als sich zu amüsieren und Geld hinauszuwerfen, wurden Ehe und Familie höchst überflüssig; sie wurden lästige Formen, denen man sich zwar äußerlich unterwarf, da man doch legitime Erben erzielen mußte, an denen man jedoch nicht strenge festhielt. Wie die Könige dem Adel in bezug auf freie Liebe vorangingen, ist zu bekannt, als daß wir hier des näheren darauf eingehen müßten.

Der Landadel war natürlich über diese „Vorurteilslosigkeit“ des Stadtadels ebenso empört wie über seine Ausbeutung der Staatsfinanzen, indes dieser jenem wieder seine Roheit und Unwissenheit sowie seine Unbotmäßigkeit vorwarf. Beide Teile standen sich aufs feindlichste gegenüber.

Es gab aber neben diesen beiden Adelsparteien noch Adelige, die zum Feinde übergingen und das Feudalsystem von Grund aus bekämpften. Namentlich in den Reihen des niederen, finanziell ruinierten Adels fanden sich viele, denen die kirchliche Laufbahn nicht zusagte, die dem Kriegsdienst nicht gewachsen waren, die bei Hofe nicht vorwärts kamen oder geradezu in Ungnade fielen, endlich Männer, die die Fäulnis des Hofadels ebenso anekelte wie die Roheit und Borniertheit der Krautjunker, die den Zusammensturz des herrschenden Systems für unvermeidlich erkannten, die das Elend der Massen mit tiefem Mitleid erfüllte. Sie stellten sich auf die Seite des dritten Standes, sie gesellten sich zu seiner Intelligenz, zu seinen Literaten, Pamphletisten, Journalisten, die in demselben Maße an Macht zunahmen, in dem der dritte Stand an Bedeutung stieg. Es waren die intelligentesten, energischsten, unerschrockensten und charakterfestesten Mitglieder der Aristokratie, die sich so auf Seite des dritten Standes schlugen; zuerst kamen sie vereinzelt; als sein Sieg entschieden war, strömten sie ihm in hellen Haufen zu und schwächten ihre Klasse in dem Moment auf das empfindlichste, in dem sie der Zusammenfassung aller ihrer Kräfte bedurfte, um den Untergang wenigstens hinauszuschieben.

Und in dem gleichen Moment versagten auch jene beiden Stützen, auf die das alte Regime am sichersten gebaut hatte, die Geistlichkeit und die Armee.

In beiden Körperschaften waren, wie schon erwähnt, die höheren Posten dem Adel vorbehalten; der dritte Stand dagegen lieferte die Unteroffiziere und die Pfarrer, denen, jedem in einem anderen Wirkungskreis, doch die gleiche Aufgabe gestellt war, ihre Untergebenen zu willenlosen Maschinen zu drillen, die jedem Befehl von oben ohne weiteres gehorchten. Aber diejenigen, die so die Werkzeuge der herrschenden Klassen herzurichten und zu leiten hatten, gehörten selbst zu den Ausgebeuteten.

Die Kirche war enorm reich. Ein Fünftel des Bodens von ganz Frankreich gehörte ihr, und zwar das fruchtbarste, best angebaute Fünftel, dessen Wert den des anderen Bodens verhältnismäßig weit überstieg. Man schätzte den Wert der Kirchengüter auf viertausend Millionen Livres [4], ihren Ertrag auf hundert Millionen. Der Zehnte trug dem Klerus überdies noch 128 Millionen jährlich. Von diesen riesigen Einkünften, ganz abgesehen von den Einnahmen aus dem beweglichen Vermögen der verschiedenen kirchlichen Korporationen, fiel der Löwenanteil an die hohen Würdenträger und die Klöster [5], die Pfarrer dagegen lebten in der jämmerlichsten Armut, in elenden Wohnhöhlen, oft dem Verhungern nahe. Und doch fielen ihnen allein alle Funktionen zu, die der Kirche überhaupt noch geblieben waren. Sie merkten nichts davon, daß sie einem privilegierten Stande angehörten. Durch ihre Familienbeziehungen mit dem dritten Stande verbunden, ohne Aussicht, je vorwärts zu kommen, arm, mit Arbeit überbürdet, inmitten einer elenden Bevölkerung gesetzt, sollten sie dieser die Pflicht unbedingten Gehorsams gegen jene unnützen Tagediebe einschärfen, die sie selbst nur mit Fußtritten belohnten; sollten sie die Ausbeutung eines Volkes fördern, dem man schon das Letzte genommen; die Ausbeutung ihrer Brüder und Väter, zugunsten übermütiger Prasser, die ihren Lustdirnen den Arbeitsertrag tausender von Menschen unbesehen in den Schoß warfen.

Und sollten die Unteroffiziere der Armee ewig ohne Lohn und ohne Aussicht sich schinden lassen von adeligen Gelbschnäbeln und Laffen, die vom Dienst nichts verstanden und sich darum nicht kümmerten, indessen den Unteroffizieren immer mehr die wichtigste und anstrengendste Arbeit zufiel?

Je mehr die adelige Anmaßung und Habsucht stieg, je ausschließlicher die Aristokraten sich die guten Posten in Armee und Kirche wahrten, desto mehr drängten sie Unteroffiziere und Pfarrer auf die Seite des dritten Standes. Die Machthaber sahen freilich von dieser Entwicklung nichts, dank der Pflicht des stummen Gehorsams, die den Subalternen in Heer und Kirche auferlegt war. Um so ärger traf sie der Schlag, als im entscheidenden Moment, da sie ihrer Hilfstruppen am notwendigsten bedurften, diese sich gegen sie wandten.

In den Generalständen von 1789 war anfangs die wichtigste Frage die, ob die Abstimmungen nach Köpfen oder nach Ständen stattfinden sollten. Der dritte Stand verlangte ersteres – war doch die Zahl seiner Vertreter doppelt so stark als die jedes der beiden anderen Stände. Der Adel dagegen glaubte, mit Hilfe des Klerus, die Generalstände zu beherrschen, wenn die Abstimmung nach Ständen vorgenommen würde.

In diesem Kampf ließ der Klerus den Adel im Stich, Unter seinen Vertretern zählte man 48 Erzbischöfe und Bischöfe und 35 Äbte und Dechanten, daneben aber 208 Pfarrer. Diese schlugen sich in ihrer großen Mehrheit auf Seite des dritten Standes und trugen dadurch erheblich dazu bei, daß die Abstimmung nach Köpfen zum Sieg gelangte.

Die Armee sollte die Niederlage des Adels wieder gut machen. Der Hof traf umfassende militärische Maßregeln in Versailles und Paris, die auf einen kommenden Staatsstreich hindeuteten. Hatte man Paris niedergeschlagen, dann hoffte man leicht mit der Nationalversammlung fertig zu werden, in die sich die Generalstände verwandelt hatten. Ein Aufstand war durch die Entlassung des populären Ministers Necker leicht provoziert (12. Juli). Aber er sollte nicht zum Vorteil des Hofes endigen. Die französischen Garden gingen zum Volk über, die anderen Regimenter weigerten sich, zu schießen, die Offiziere mußten sie zurückziehen wollten sie nich auch deren Abfall sehen. Aber das Volk, um sich gegen weitere Gewaltstreiche zu schützen, beruhigte sich dabei nicht. Es bewaffnete sich am 18. Juli, und als sich am 14. Juli die Nachricht verbreitete, daß die Vorstadt St. Antoine durch die Kanonen der Bastille bedroht sei und gleichzeitig frische Truppen von St. Denis anmarschierten, eroberten Volk und französische Garden vereint die verhaßte Zwingburg. Der Abfall der Pfarrer und der der Garden sind zwei entscheidende Momente in der französischen Revolution.

So sehen wir die ganze reaktionäre Masse, Adel, Klerus, Armee, beim Ausbruch der Revolution zerklüftet und zerspalten. Ein Teil unzuverlässig, ein Teil offen auf seiten des Feindes, ein Teil stockreaktionär, aber ein Gegner der absoluten Monarchie, eifrig nach Reformen im Finanzwesen rufend, ein Teil „aufgeklärte“, aber tief in die Mißbräuche des herrschenden Systems verstrickt, die zu seiner Existenzbedingung geworden waren, so daß jede Finanzreform sein Todesurteil war; der eine Teil der an ihren Privilegien zäh hängenden Privilegierten kühn und energisch, aber unwissend, verbauert, unfähig zur Staatsverwaltung; der andere Teil gebildeter, mit den Staatsbedürfnissen vertraut, aber feig und charakterlos. Ein Teil schwach und ängstlich, zu Konzessionen geneigt, ein anderer hochmütig und gewalttätig; alle diese Gegensätze einander lebhaft bekämpfend, einer dem anderen die Schuld beimessend, daß es so weit gekommen war; und der Hof, diesen Einflüssen preisgegeben, bald von dem einen, bald von dem anderen beherrscht, heute durch Gewalttaten erbitternd, morgen durch Feigheit sich verächtlich machend: das ist das Bild des herrschenden Standes im Anfange der Revolution.


Fußnoten

1. Taine schätzte die Zahl der Adeligen und Geistlichen zusammen auf ungefähr 270.000. Dem Ädel schreibt er 25.000 bis 30.000 Familien mit 140.000 Mitgliedern zu, dem Klerus 130.000 Mitglieder, darunter zirka 60.000 Pfarrer und Vikare, 23.000 Mönche und 37.000 Nonnen. Taine, Les origines de la France contemporaine, 1, 17, 527.)

2. Einer Ordonnanz von 1776 zufolge waren solche Stellen: 18 Generalsgouvernements von Provinzen mit einer Besoldung von je 60.000 Livres; 21 à 30.000 Livres; 114 Gouvernements à 8.000 bis 12.000 Livres; 176 Leutnants von Städten à 2.000 bis 16.000 Livres. 1788 wurden dazu 17 Stellen von Oberkommandanten von Städten geschaffen mit einem fixen Einkommen von 20.000 bis 30.000 Livres und einer Wohnungszulage von 4.000 bis 6.000 Livres monatlich; dazu Unterkommandanteustellen.

3. Ausführliche Angaben über diese Pensionen findet man unter anderem bei Louis Blanc: Histoire de la Révolution française, 3. Buch, 5. Kap.: Le livre rouge.

4. 1791 schätzte der Deputierte Amelot den Wert der verkauften oder zu verkaufenden Kirchengüter ohne die Wäldereien auf 3.700 Millionen.

5. Die 399 Prämonstratenser schätzten ihre Jahreseinnahme auf mehr als eine Million; die Benediktiner von Cluny, 298 an der Zahl, bezogen jährlich 1.800.000 Livres, die von St. Maur, 1.672 stark, hatten gar eine Reineinnahme von 8 Millionen, abgesehen von dem, was auf ihre Äbte und Titularpriore entfiel, die ungefähr eine ebenso hohe Summe jährlich einsteckten.


Zuletzt aktualisiert am 02.08.2010