Karl Kautsky

Der Weg zur Macht


2. Die Prophezeiung der Revolution

Um die Erwartungen der Marxisten von einer kommenden Revolution zu diskreditieren, wird uns häufig vorgeworfen, wir liebten es zu prophezeien, erwiesen uns aber als schlechte Propheten.

Wir haben schon gesehen, woher es kommt, dass die von Marx und Engels erwartete proletarische Revolution bisher nicht eintrat. Wenn man aber von diesen getäuschten Erwartungen absieht, dann wird man staunen müssen nicht darüber, dass nicht alles sich erfüllte, was sie erhofft, sondern darüber, dass so viele ihrer Voraussagungen eingetroffen sind.

Wir haben z. B. schon gesehen, dass das Kommunistische Manifest im November 1847 die kommende Revolution von 1848 verkündete. Das geschah um dieselbe Zeit, da Proudhon bewies, dass die Ära der Revolutionen für immer vorüber sei.

Marx war der erste Sozialist, der auf die Bedeutung der Gewerkschaften für den Klassenkampf des Proletariats hinwies, in seiner Streitschrift gegen Proudhon, Das Elend der Philosophie, 1846. In seinen Arbeiten am Kapital in den sechziger Jahren sah er bereits das heutige Aktien- und Kartellwesen voraus. Während des Krieges von 1870/71 prophezeite er, dass von nun an der Schwerpunkt der sozialistischen Bewegung von Frankreich nach Deutschland übergehe. Im Januar 1873 prophezeite er die Krise, die wenige Monate später ihren Anfang nahm usw.

Ebenso steht es mit Engels.

Und auch wo sie irrten, da steckte ein sehr richtiger und wichtiger Kern im Irrtum. Man erinnere sich dessen, was oben über die 1885 von Engels ausgesprochene Erwartung einer in den nächsten Jahren eintretenden politischen Erschütterung gesagt wurde.

Es dürfte am Platze sein, hier einer Legende entgegenzutreten, die sich einzunisten droht. In seiner Arbeiterfrage, von der eben die 5. Auflage erschienen ist, schreibt der Berliner Professor H. Herkner bei der Berichterstattung über den Parteitag von Hannover (1899):

„Kautsky ließ sich in der Hitze des Gefechts dazu fortreißen, die Hoffnung auf eine bald eintretende, alle Wünsche erfüllende Katastrophe geradezu als Idiotismus zu brandmarken, also viel schärfer anzugreifen, als es Bernstein selbst getan hatte. Hätte Engels wirklich für 1898 den großen Kladderadatsch prophezeit (sagte Kautsky), so wäre er nicht der große Denker gewesen, der er war, er wäre ein solcher Idiot gewesen, dass kein einziger Wahlkreis ihn zu seinem Delegierten auf dem Parteitag gewählt hätte. Engels habe nur gemeint, dass 1898 vielleicht das heutige politische System in Preußen zusammenbrechen könne.

Es mag dahingestellt sein, was Engels angenommen hat. Dagegen gestatten die Worte Bebels auf dem Erfurter Parteitag 1891, dass nur wenige Mitglieder dieses Kongresses die Verwirklichung auch der letzten Ziele nicht erleben würden, keinerlei rettende Interpretation. Sie waren, um mit den Worten Kautskys von 1899 zu sprechen, idiotisch. In diesem Intermezzo kam die Wandlung, welche selbst in den Köpfen der Verehrer der alten Taktik eingetreten war, mit einer Klarheit zum Ausdruck, die nichts zu wünschen übrig ließ.“ (S. 379.)

Leider lässt die Klarheit des Herrn Professors sehr viel zu wünschen übrig. Mit keinem Wort habe ich die „Hoffnung auf eine bald eintretende, alle Wünsche erfüllende (!) Katastrophe“ als Idiotismus gekennzeichnet, aus dem einfachen Grunde, weil von einer solchen Katastrophe nicht die Rede war. Ich wäre übrigens ganz berechtigt gewesen, die Hoffnung auf eine alle Wünsche erfüllende Katastrophe ebenfalls einen Idiotismus zu nennen. Ich wählte die Bezeichnung „Idiotismus“ für die Vorstellung, Engels habe den Ausbruch der Revolution für ein bestimmtes Datum, für das Jahr 1898 festgesetzt. Eine derartige Art der Prophezeiung erschien mir allerdings idiotisch. Aber Engels hat sich ihrer nie schuldig gemacht. Und ebensowenig Bebel. Auch auf dem Erfurter Parteitage 1891 hatte er kein bestimmtes Jahr für das Kommen der Revolution angegeben.

Schon dort hatte man über seine „Prophezeiungen“ etwas gespottet. Darauf erwiderte er:

„Man mag lachen und höhnen über das Prophezeien; denkende Menschen kommen ohne dasselbe nicht aus. Die kühle, pessimistische Nüchternheit von heute war Vollmar vor einigen Jahren auch noch fremd. Der von ihm angegriffene Engels hat 1844 vollkommen richtig die Revolution von 1848 vorausgesagt. Und ist nicht das, was Marx und Engels zur Zeit des Kommuneaufstandes in der bekannten Adresse des Generalrats der internationalen Arbeiter-Assoziation voraussagten über die künftige Konstellation der Dinge in Europa bis auf das Tüpfelchen über dem i verwirklicht worden? (Sehr wahr!) Liebknecht, der auch ein wenig über mich gespöttelt hat, hat selbst viel prophezeit. (Heiterkeit) Er hat gleich mir im Jahre 1870 im Reichstag vorausgesagt, was heute vollständig eingetroffen ist. Lesen Sie seine und meine Reden von 1870–1871 und Sie werden das bestätigt finden. Aber da kommt Vollmar und ruft: schweigt von diesen alten Geschichten und lasst das Prophezeien. Er selbst aber prophezeit auch. Der Unterschied zwischen ihm und mir ist nur der: er besitzt den wunderbarsten Optimismus in bezug auf unsere Gegner, aber den fürchterlichsten Pessimismus in bezug auf die prinzipiellen Bestrebungen der Partei und deren Zukunft.“ (Protokoll, S. 283.)

Eine der bedeutendsten Prophezeiungen Bebels, die in Erfüllung ging, ist jene, die er 1873 machte, das Zentrum werde bald von 60 Sitzen im Reichstag auf 100 kommen, der Bismarcksche Kulturkampf werde ein klägliches Ende nehmen und zu Bismarcks Sturz beitragen.

Jüngst hat man mir die Ehre angetan, mich in die Reihe dieser „Propheten“ zu stellen. Ich kann mich in keiner besseren Gesellschaft befinden.

Man warf mir vor, was ich in meiner Artikelserie Allerhand Revolutionäres in der Neuen Zeit sowie im Vorwort meiner Ethik über die russische Revolution gesagt, sei durch die historische Erfahrung gründlich widerlegt worden.

Stimmt das?

Im Vorwort zur Ethik schrieb ich:

„Wir gehen einer Periode entgegen, in der, wer weiß wie lange, für jeden Sozialdemokraten ruhiges Arbeiten ausgeschlossen, unser Wirken ein steter Kampf sein wird ... Gerade jetzt sind die Schergen des Zarismus eifrig an der Arbeit, es den Albas und Tillys der Religionskämpfe des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts gleichzutun – nicht an militärischen Großtaten, sondern an brutaler Mordbrennerei. Die westeuropäischen Verfechter der Kultur und Ordnung und sonstiger heiligsten Güter der Menschheit begrüßen das begeistert als die Wiederherstellung gesetzlicher Zustände. Aber so wenig es den Söldnern der Habsburger gelang, trotz zeitweiser Erfolge, Norddeutschland und Holland wieder katholisch zu machen, wird es den Kosaken der Romanoffs gelingen, das Regime des Absolutismus wiederherzustellen. Er hat noch die Kraft, sein Land zu verwüsten, nicht mehr aber die, es zu regieren.“

„Auf jeden Fall ist die russische Revolution noch lange nicht zu Ende – sie dürfte nicht enden, solange die Bauern Russlands nicht befriedigt sind. Je länger sie dauert, desto größer aber die Erregung der Proletariermassen Westeuropas, desto näher die Gefahr finanzieller Katastrophen, desto wahrscheinlicher, dass auch in Westeuropa eine Ära akutester Klassenkämpfe beginnt.“

Was ist an diesen Worten, geschrieben im Januar 1906, dessen ich mich zu schämen hätte? Glaubt man etwa, die russische Revolution sei zu Ende, in Russland herrschten wieder normale Verhältnisse? Und ist nicht, seitdem ich obige Zeilen geschrieben, tatsächlich die ganze Welt in einen Zustand der größten Unruhe geraten?

Und nun erst meine „missglückte Prophezeiung“ im Artikel Allerhand Revolutionäres. Ich polemisierte damals gegen Lusnia, der für ausgeschlossen erklärte, dass ein Krieg um Korea zu einer Revolution in Russland führe, und meinte, es sei eine Überschätzung, wenn ich sagte, die russischen Arbeiter seien ein viel reellerer politischer Faktor als die englischen. Darauf erwiderte ich im Anfang Februar 1904, zu Beginn des Russisch-Japanischen Krieges:

„Kein Zweifel, die ökonomische Entwicklung Russlands steht weit hinter der Deutschlands oder Englands zurück, und sein Proletariat ist weit schwächer und unreifer als etwa das deutsche oder das englische. Aber alles ist relativ, auch die revolutionäre Kraft einer Klasse.“

Ich zeigte dann, aus welchen Gründen das Proletariat Russlands damals eine außergewöhnliche revolutionäre Kraft besaß und führte weiter aus:

„Der Kampf wird um so rascher zuungunsten des Absolutismus entschieden sein, je energischer Westeuropa ihm seine Hilfe versagt. Dahin zu wirken, das Zarentum soviel wie nur möglich zu diskreditieren, ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie ...“

„Indes, trotz aller wertvollen Freundschaften in Westeuropa wächst die Bedrängnis des Selbstherrschers aller Reußen zusehends. Der Krieg mit Japan kann den Sieg der Revolution in Russland gewaltig beschleunigen. ...

Was sich nach dem Russisch-Türkischen Kriege ereignete, würde sich diesmal in verstärktem Maße wiederholen: ein gewaltiges Aufflammen der revolutionären Bewegung.“

Nachdem ich das begründet, fuhr ich fort:

„Eine Revolution in Russland könnte zunächst kein sozialistisches Regime begründen. Dazu sind die ökonomischen Verhältnisse des Landes zu unreif. Sie könnte vorerst nur ein demokratisches Regime ins Leben rufen, hinter dem aber ein starkes und ungestümes, nach vorwärts drängendes Proletariat stände, das sich erhebliche Konzessionen erringen würde.“

„Ein solches Regime müsste auf die Russland benachbarten Länder gewaltig zurückwirken. Einmal durch Belebung und Anfeuerung der proletarischen Bewegungen daselbst, die dadurch den stärksten Anstoß erhielten, ihrerseits einen Sturm auf die politischen Hindernisse einer wirklichen Demokratie – in Preußen zunächst auf das Dreiklassenwahlsystem – zu unternehmen. Dann aber durch Entfesselung der mannigfaltigsten nationalen Fragen Osteuropas.“

Das schrieb ich im Februar 1904. Im Oktober 1903 war die russische Revolution zur Wirklichkeit und das Proletariat zu ihrem Vorkämpfer geworden, und traten sofort die Rückwirkungen auf die benachbarten Länder ein. In Österreich bekam der Wahlrechtskampf nun unwiderstehliche Wucht und gelangte bald zum Siege, Ungarn geriet an den Rand wirklicher Insurrektion, die deutsche Sozialdemokratie akzeptierte den Generalstreik, warf sich mit voller Kraft in den Wahlrechtskampf, namentlich in Preußen, der bereits im Januar 1908 zu Straßendemonstrationen führte, wie sie Berlin seit 1848 nicht gesehen. Und 1907 kamen die überraschenden Hottentottenwahlen und der völlige Zusammenbruch der deutschen Demokratie. Wenn ich aber daneben eine Entfesselung der nationalen Bewegungen Osteuropas erwartet hatte, so wurden diese Erwartungen weit übertroffen durch das rapide Erwachen des gesamten Orients, in China, Indien, Ägypten, Marokko, Persien, der Türkei, was in den letzten beiden Ländern bereits zu siegreichen revolutionären Erhebungen führte.

Und im Zusammenhang damit haben wir eine stete Verschärfung der internationalen Gegensätze, die bereits zweimal, zuerst wegen Marokkos, dann wegen der Türkei, Europa dicht an den Krieg führten.

Wenn je eine „Zukunftsweissagung“, falls man das Wort gebrauchen will, in Erfüllung gegangen ist, so ist es diese, die das Kommen der russischen Revolution und in ihrem Gefolge eine Ära gesteigerter politischer Unruhe und Verschärfung aller sozialen und nationalen Gegensätze erwartete.

Gewiss, ich will es nicht leugnen, die einstweilige Niederschlagung der russischen Revolution habe ich nicht vorausgesagt. Aber wenn jemand im Jahre 1846 die kommende Revolution von 1848 voraussagte, irrte er damit, weil diese 1849 niedergeschlagen wurde?

Sicher müssen wir bei jeder großen Bewegung und Erhebung auch mit der Möglichkeit ihrer Niederschlagung rechnen. Ein Tor, der sich bei einem bevorstehenden Kampf sicher fühlt, den Sieg bereits in der Tasche zu haben. Wir können indes nur untersuchen, ob wir großen, revolutionären Kämpfen entgegengehen. Das lässt sich mit einiger Sicherheit erkennen. Über den Ausgang irgendeines dieser Kämpfe lässt sich dagegen im voraus nichts sagen. Wir wären aber traurige Burschen, ja direkte Verräter an unserer Sache und unfähig zu jedem Kampf, wenn wir von vornherein von der Unvermeidlichkeit der Niederlage überzeugt wären, nicht mit der Möglichkeit des Sieges rechneten.

Natürlich kann nicht jede Erwartung in Erfüllung gehen. Wer sich für einen untrüglichen Propheten ausgeben oder untrügliche Prophezeiungen von anderen verlangen wollte, würde übernatürliche Kräfte im Menschen voraussetzen.

Mit der Möglichkeit der Nichterfüllung seiner Erwartungen muss jeder Politiker rechnen. Dennoch ist das „Prophezeien“ nicht eine müßige Spielerei, sondern, vorsichtig und methodisch betrieben, eine unerlässliche Tätigkeit für jeden denkenden und weiterblickenden Politiker, worauf schon Bebe! hingewiesen.

Nur der geistlose Routinier begnügt sich mit dem Glauben, dass es auch weiterhin so gehen werde, wie es jetzt geht. Ein Politiker, der gleichzeitig ein Denker ist, wird bei jedem eintretenden Ereignis alle Möglichkeiten erwägen, die es in seinem Schoße tragen kann, und sie zu ihren fernsten Konsequenzen ausdenken. Wohl sind die Mächte des Beharrens in der Gesellschaft ungeheuer groß, in neun von zehn Fällen wird daher anscheinend der Routinier recht behalten, wenn er im alten Trott weiterläuft, ohne sich viele Gedanken über neue Situationen und Möglichkeiten zu machen. Aber einmal tritt doch ein Ereignis ein, stark genug, die Mächte des Beharrens zu überwinden, die durch vorherige Vorkommnisse schon innerlich erschüttert wurden, wenn auch äußerlich noch alles beim alten blieb. Nun schlägt plötzlich die Entwicklung neue Bahnen ein, wobei alle Routiniers den Kopf verlieren, nur solche Politiker sich behaupten, die sich vertraut gemacht haben mit den neuen Möglichkeiten und ihren Konsequenzen.

Aber man darf nicht etwa glauben, dass wenigstens im gewöhnlichen Lauf der Dinge der geistlose Routinier dem die Zukunft erwägenden oder „prophezeienden“ Politiker überlegen wäre. Das könnte nur dann gelten, wenn der Politiker die Möglichkeiten, deren Konsequenzen er durchdenkt, für Realitäten hielte, nach denen er sein sofortiges praktisches Handeln einrichtete. Will man etwa behaupten, Engels und Bebel und sonst einer der „prophezeienden“ Politiker, um die es sich hier handelt, hätten jemals ihre Prophezeiungen in diesem Sinne aufgefasst?

Der geistlose Routinier wird sich nie gedrängt fühlen, die Gegenwart zu studieren, die ihm als bloße Wiederholung der ihm schon bekannten Situationen erscheint, in denen er sich bisher bewegte. Wer dagegen in einer gegebenen Situation alle ihre Möglichkeiten und Konsequenzen durchdenkt, kann das nur vollführen durch das Studium der gegebenen Kräfte und Mächte, und er wird vor allem getrieben, den neu erwachsenden, noch wenig beachteten Faktoren seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Was manchem Philister als zweckloses Prophezeien ins Blaue hinein erscheint, ist in Wirklichkeit das Ergebnis tiefen Studiums und daher stets von vermehrter Erkenntnis der Wirklichkeit begleitet. Man hätte nur dann ein Recht, die Engels und Bebel ob ihrer „Prophezeiungen“ anzugreifen, wenn sie sich als weltfremde Phantasten erwiesen hätten. Tatsächlich hat noch niemand das Proletariat in allen schwierigen Situationen besser und zweckmäßiger beraten wie eben diese „Propheten“, und gerade deswegen, weil sie sich mit der Arbeit des „Prophezeiens“ abgaben. Wer bisher nur zu oft die aufstrebenden Klassen auf Irrwege führte, das waren nicht die Politiker, die stets nach dem weitesten Horizont strebten, sondern die „Realpolitiker“, die nicht weiter sehen, als ihre Nase reicht, bloß das für eine Realität halten, worauf sie mit ihrer Nase stoßen, und jedes Hindernis für unendlich und unübersteiglich erklären, woran sie sich einmal die Nase blutig geschlagen haben.

Aber es gibt noch eine andere Art des „Prophezeiens“ als die eben beschriebene. Die Entwicklung einer Gesellschaft wird in letzter Linie bedingt durch die Entwicklung ihrer Produktionsweise, deren Gesetze wir heute schon genau genug kennen, um mit einiger Sicherheit die Richtung der notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung erkennen und daraus auch Rückschlüsse auf den notwendigen Gang der politischen Entwicklung ziehen zu können.

Diese Art des „Prophezeiens“ wird häufig mit der eben hier dargestellten verwechselt, und doch sind beide voneinander grundverschieden. Bei der einen handelt es sich um sehr mannigfaltige Möglichkeiten, die ein besonderes Ereignis oder eine besondere Situation in ihrem Schoße bergen können, deren wahrscheinlichen Konsequenzen wir nachzugehen haben. Bei der anderen handelt es sich um eine notwendige, einzig mögliche Entwicklungsrichtung, deren Erkenntnis wir zu suchen haben. Bei der ersteren knüpfen wir an bestimmte, konkrete Tatsachen an, die andere kann uns nur allgemeine Tendenzen aufzeigen, ohne über die Formen, welche sie annehmen werden, irgend etwas Bestimmtes zu sagen. Man darf beide Arten der Untersuchung auch dann nicht miteinander verwechseln, wenn sie anscheinend das gleiche Resultat ergeben.

Wenn zum Beispiel jemand sagt, ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland führe zur Revolution, und wenn ein anderer erklärt, die zunehmende Verschärfung der Klassengegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft führe zur Revolution, so scheint letztere Behauptung eine Revolutionsprophezeiung ebensolcher Art zu sein wie die erstere. Und doch bedeutet jede etwas anderes. Wenn ich von einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland spreche, so ist das kein Ereignis, dessen Eintreten ich mit der Sicherheit eines Naturgesetzes vorausbestimmen kann. So weit ist die Wissenschaft noch nicht. Der Krieg ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, die ein“ treten können. Andererseits aber ist die Revolution, die sich aus dem Kriege entwickeln kann, an bestimmte Formen gebunden. Es mag dahin kommen, dass in jener der beiden kriegführenden Nationen, die sich als die schwächere erweist, der Drang, alle Volkskräfte gegen den äußeren Feind zu entfesseln, die rücksichtsloseste und energischste Klasse, das Proletariat, an die Spitze der Nation beruft – ähnlich, wie es Engels 1891 in Deutschland für möglich hielt, wenn es gleichzeitig einen Krieg gegen das damals an Volkszahl noch nicht so weit zurückgebliebene Frankreich und das noch unbesiegte und nicht von der Revolution zerrüttete Russland zu führen hatte.

Die Revolution infolge eines Krieges kann aber auch aus einer Erhebung der Volksmasse hervorgehen, wenn die Armee gebrochen und der Leiden des Krieges satt ist, und die Regierung gestürzt wird, nicht um den Krieg energischer weiterzuführen, sondern um einen zwecklosen und verderblichen Krieg zu beenden und Frieden mit einem Gegner zu schließen, der auch nichts besseres verlangt.

Endlich kann die Revolution als Folge eines Krieges hervorgehen aus einer allgemeinen Empörung über einen schmählichen und verlustreichen Friedensschluss, einer Empörung, die Armee und Volk gegen die Regierung vereinigt.

Sind bestimmte Formen der Revolution für den hier gegebenen Fall von vornherein gegeben, so bleibt dagegen das Bild der Revolution ganz unbestimmt, wenn ich sie als Konsequenz der zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze betrachte. Ich kann ganz bestimmt behaupten, dass eine Revolution, die der Krieg mit sich bringt, entweder während des Krieges oder unmittelbar danach ausbricht. Wenn ich dagegen von der Revolution als dem Resultat der zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze spreche, so ist damit über den Zeitpunkt ihres Eintreffens nicht das mindeste gesagt. Von der Revolution als Folge des Krieges kann ich mit Bestimmtheit behaupten, sie sei ein einmaliger Akt. Von der Revolution, die aus der zunehmenden Verschärfung der Klassengegensätze hervorgeht, vermag man darüber gar nichts zu sagen. Sie kann ein sehr langwieriger Prozess sein, eine Revolution infolge eines Krieges mag dabei selbst nur die Rolle einer Episode spielen. Über die Revolution als Folge eines Krieges kann nicht von vornherein mit Bestimmtheit gesagt werden, sie werde erfolgreich sein. Die revolutionäre Bewegung, die aus der Verschärfung der Klassengegensätze hervorgeht, kann dagegen nur zeitweise Niederlagen erleiden, sie muss schließlich siegen.

Andererseits aber ist die Vorbedingung der Revolution in dem ersteren Falle, der Krieg, wie wir schon gesehen haben, etwas, was einmal eintreten mag oder auch nicht. Darüber Bestimmtes sagen zu wollen, wird niemand einfallen. Die Verschärfung der Klassengegensätze entspringt dagegen mit Notwendigkeit aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise. Ist also die Revolution als Folge eines Krieges nur eine unter vielen Möglichkeiten, so ist sie als Folge des Klassenkampfes eine Unvermeidlichkeit.

Man sieht, jede der beiden Arten von „Prophezeiungen“ hat ihre besondere Methode, erfordert ihre besonderen Studien, und von der Eindringlichkeit dieser Studien hängt die Bedeutung der „Prophezeiungen“ ab, die Leuten, die von solchen Studien keine Ahnung haben, als leere Phantastereien erscheinen.

Man würde aber sehr irren, wollte man glauben, dass wir Marxisten allein „prophezeien“. Selbst bürgerliche Politiker, die auf dem Boden des Bestehenden fußen, kommen ohne weite Ausblicke in die Zukunft nicht aus. Die ganze Kraft der Kolonialpolitik zum Beispiel beruht darauf. Käme es nur auf die Kolonialpolitik von heute an, wäre es sehr leicht, mit ihr fertig zu werden. Sie ist für alle Staaten, ausgenommen England, ein miserables Geschäft. Aber sie bildet das einzige Gebiet, auf dem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft noch große Zukunftshoffnungen wenigstens anscheinend winken. Und deswegen, wegen der glänzenden Zukunft, die unsere Kolonialschwärmer prophezeien, nicht wegen der kläglichen Gegenwart, übt die Kolonialpolitik einen so faszinierenden Reiz auf alle Gemüter aus, die nicht vom Kommen des Sozialismus überzeugt sind. Nichts irrtümlicher als die Anschauung, dass in der Politik nur Augenblicksinteressen entscheiden, dass ferne Ideale keine praktische Bedeutung haben, dass wir etwa in unserer Wahlagitation um so besser abschneiden, je „praktischer“, das heißt nüchterner und kleinlicher wir uns gebärden, je mehr wir nur von Steuern und Zöllen, von Polizeischikanen und Krankenkassen und ähnlichen Dingen reden und je mehr wir unsere großen Zukunftsziele als eine verflossene Jugendliebe behandeln, an die man in seinem Herzen noch gern zurückdenkt, zu der man aber vor der Öffentlichkeit am liebsten keine Beziehungen mehr unterhält.


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012