Karl Kautsky

Der Weg zur Macht


4. Die ökonomische Entwicklung und der Wille

Die Revisionisten werden den obigen Ausführungen entgegenhalten, dass ein noch viel größerer Widerspruch bei Marx selbst zutage trete, der als Denker keinen freien Willen anerkenne, alles von der notwendigen ökonomischen Entwicklung erwarte, die automatisch vor sich gehe, als revolutionärer Kämpfer aber stets in stärkster Weise Willen entwickelt und an das Wollen des Proletariats appelliert habe. Das sei ein unüberbrückbarer Widerspruch in der Theorie und der Praxis bei Karl Marx, verkünden uns Revisionisten, Anarchisten und Liberale in engster Gemeinschaft.

In Wirklichkeit ist bei Marx ein derartiger Widerspruch nicht zu finden. Er ist ein Produkt der Konfusion seiner Kritiker – einer unheilbaren Konfusion, da sie immer wiederkehrt. Sie beruht einmal auf der Gleichsetzung von Willen mit freiem Willen. Marx hat nie die Bedeutung des Willens und die „Riesenrolle der menschlichen Persönlichkeit“ für die Gesellschaft verkannt, er hat nur die Freiheit des Willens geleugnet, was etwas ganz anderes ist. Das ist schon oft genug dargelegt worden, als dass es hier noch einmal auseinanderzusetzen wäre.

Dann aber beruht diese Konfusion auf einer ganz merkwürdigen Vorstellung von dem, was Ökonomie und ökonomische Entwicklung ist. Alle diese gelehrten Herren vermeinen, weil sie sich nach bestimmten Gesetzen vollziehe, gehe sie automatisch, selbsttätig, ohne wollende menschliche Persönlichkeiten vor sich, so dass das menschliche Wollen neben der Ökonomie und über der Ökonomie als ein besonderes Element auftritt, welches diese ergänzt und bewirkt, dass sich die von der Ökonomie bedingten Dinge „so oder anders gestalten“. Diese Anschauung ist nur möglich in Gehirnen, die die Ökonomie ganz scholastisch auffassen, die ihre Begriffe aus Büchern übernommen haben und damit rein gedanklich weiter hantieren, ohne die geringste lebendige Anschauung des wirklichen ökonomischen Prozesses gewonnen zu haben. Darin sind ihnen die Proletarier jedenfalls über, und darum sind sie, trotz Maurenbrecher und Eisner, besser veranlagt, diesen Prozess und seine historische Rolle zu begreifen, als die bürgerlichen Theoretiker, denen die ökonomische Praxis fremd ist, aber auch als die bürgerlichen Praktiker, denen jedes theoretische Interesse fremd bleibt, jedes Bedürfnis, von der Ökonomie mehr zu begreifen, als für erfolgreiche Profitmacherei erforderlich ist.

Die ganze ökonomische Theorie wird zu leerer Begriffsspielerei für jeden, der nicht von der Erkenntnis ausgeht, dass die Triebkraft jedes ökonomischen Vorganges der menschliche Wille ist. Allerdings nicht ein freier Wille, nicht ein Wollen an sich, sondern ein bestimmtes Wollen. Es ist in letzter Linie der Wille zu leben, der aller Ökonomie zugrunde liegt, ja der schon mit dem Leben der mit Eigenbewegung und Erkenntnisvermögen begabten Organismen ersteht. Jede Form des Wollens ist in letzter Linie auf den Willen zu leben zurückzuführen.

Welche besonderen Formen dieser Lebenswille des Organismus in jedem einzelnen Falle annimmt, das hängt ab von den besonderen Bedingungen seines Lebens – das Wort Bedingungen im weitesten Sinne genommen, wo es auch die Gefährdungen und Hemmnisse des Lebens, nicht bloß die Mittel seiner Erhaltung umschließt. Die Lebensbedingungen bestimmen die Art seines Wollens, die Formen seines Handelns und dessen Erfolg.

Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt der materialistischen Geschichtsauffassung. Aber freilich, so einfach die Verhältnisse, die auf diese Weise zu erklären sind, bei den einfacheren Organismen liegen, so viele Zwischenglieder schieben sich zwischen den bloßen Willen zu leben und die mannigfachen Formen ein, die das Wollen des Organismus auf höheren Stufen einnehmen kann.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, das hier ausführlicher darzutun. Aber einige Hinweise mögen mir gestattet sein.

Die Lebensbedingungen eines Organismus sind zweifacher Art: einmal solche, die immer wiederkehren, sich im Laufe vieler Generationen nicht ändern. Ein diesen Bedingungen angepasstes zweckmäßiges Wollen wird hier zur Gewohnheit, die sich vererbt und durch natürliche Auslese verstärkt; es wird zum Instinkt, zum Triebe, dem das Individuum schließlich unter allen Umständen folgt, auch unter außergewöhnlichen Bedingungen, unter denen die Befolgung des Triebes nicht das Leben fördert und erhält, sondern es schädigt, vielleicht sogar den Tod herbeiführt. Trotzdem ist der Urgrund dieses Wollens stets der Wille zu leben.

Neben den Lebensbedingungen, die sich immer wieder in gleicher Weise folgen, gibt es aber auch solche, die nur selten oder in wechselnder Weise eintreten. Hier versagt der Instinkt, hier hängt die Erhaltung des Lebens im wesentlichen vom Erkenntnisvermögen des Organismus ab, der es vermag, die gegebene Situation zu erkennen und sein Verhalten ihr anzupassen. Je mehr eine Tierart in rasch wechselnden Lebensbedingungen lebt, desto mehr wird sie ihre Intelligenz entwickeln, teils dadurch, dass die Organe der Intelligenz stärker in Anspruch genommen, teils dadurch, dass die Individuen mit schwächerer Intelligenz eher ausgemerzt werden.

Endlich beim Menschen wird die Intelligenz so groß, dass er imstande ist, sich künstliche Organe zu schaffen, Waffen und Werkzeuge, um sich unter den gegebenen Lebensbedingungen besser behaupten zu können. Aber er schafft damit gleichzeitig für sich selbst auch neue Lebensbedingungen, denen er sich anzupassen hat. So wird die Entwicklung der Technik, ein Ergebnis hoher Intelligenz, ihrerseits selbst ein Antrieb zur Fortentwicklung der Intelligenz.

Auch die Entwicklung der Technik ist ein Ergebnis des Willens zu leben, aber sie zieht eine bedeutsame Modifikation desselben nach sich. Das Tier will leben, wie es bisher gelebt hat. Mehr verlangt es nicht. Die Erfindung einer neuen Waffe oder eines neuen Werkzeugs bringt die Möglichkeit mit sich, besser zu leben als bisher, reichlichere Nahrung, mehr Muße, mehr Sicherheit zu erlangen, oder endlich neue Bedürfnisse zu befriedigen, die man bis dahin nicht kannte. Je mehr die Technik sich entwickelt, desto mehr wird der Wille zu leben zum Willen, besser zu leben.

Dieser Wille kennzeichnet den Kulturmenschen.

Die Technik wandelt aber nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern auch das zwischen Mensch und Mensch.

Der Mensch gehört zu den sozialen Tieren, jenen, deren Lebensbedingungen ihnen nicht gestatten, isoliert, sondern nur in Gesellschaften vereint zu leben. Der Wille zu leben nimmt hier die Form des Willens an, mit den Mitgliedern der Gesellschaft und für sie zu leben. Die Entwicklung der Technik wandelt, wie die übrigen Lebensbedingungen, so auch die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens. Vor allem dadurch, dass sie dem Menschen Organe verleiht, die von seinem Körper getrennt sind. Die natürlichen Werkzeuge und Waffen, Nägel, Zähne, Hörner und dergleichen, sind allen Individuen der gleichen Art (bei gleichem Geschlecht und Alter) in gleicher Weise eigen. Die künstlichen Werkzeuge und Waffen können dagegen von einzelnen Menschen allein besessen und anderen vorenthalten werden. Diejenigen, die über solche Werkzeuge und Waffen allein verfügen, leben unter anderen Lebensbedingungen als jene, die sie entbehren. So bilden sich verschiedene Klassen, bei deren jeder der gleiche Wille zu leben andere Formen annimmt.

Ein Kapitalist zum Beispiel kann unter den Bedingungen, unter denen er lebt, nicht existieren, wenn er nicht Profite erzielt. Sein Wille zu leben treibt ihn, Profite zu erwerben, und sein Wille, besser zu leben, nach Vermehrung der Profite zu streben. Schon das drängt ihn, sein Kapital zu vermehren; aber in gleicher Richtung und noch stärker wirkt der Konkurrenzkampf, der ihn mit dem Untergang bedroht, wenn er nicht imstande ist, sein Kapital beständig zu vergrößern. Die Konzentration der Kapitalien ist nicht ein automatischer Prozess, der sich ohne den Willen und das Bewusstsein der Beteiligten abspielt. Er wäre gar nicht möglich ohne den sehr energischen Willen der Kapitalisten, reich zu werden und ihre schwächeren Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Was außerhalb ihres Willens und ihres Bewusstseins liegt, ist bloß die Tatsache, dass die Resultate dieses ihres Wollens und Strebens die Bedingungen sozialistischer Produktion schaffen. Das wollen die Kapitalisten sicher nicht. Aber damit ist nicht gesagt, dass im ökonomischen Prozess das Wollen der Menschen und die „Riesenrolle der schöpferischen Persönlichkeit“ ausgeschaltet seien.

Derselbe Wille zu leben, der die Kapitalisten beseelt, wirkt auch in den Arbeitern. Aber entsprechend ihren verschiedenen Lebensbedingungen nimmt er bei ihnen andere Formen an. Nicht nach Profiten streben sie, sondern nach dem Verkauf ihrer Arbeitskraft, nach hohen Preisen für die Arbeitskraft und niederen Preisen für die Lebensmittel; daraus entspringen ihre Gründungen von Genossenschaften und Gewerkschaften, ihr Streben nach Arbeiterschutzgesetzen, daraus endlich die zweite Tendenz, neben der nach Kapitalkonzentration, die als Hineinwachsen in den Sozialismus bezeichnet wird. Auch hier bedeutet dies nicht jenen willenlosen, unbewussten Vorgang, den man gewöhnlich unter dem Worte „Hineinwachsen“ versteht.

Endlich kommt für den gesellschaftlichen Prozess noch eine andere Seite des Willens zu leben in Betracht. Unter bestimmten Bedingungen kann der Wille eines Individuums oder einer Gesellschaft zu leben nur betätigt werden durch Überwindung des Lebenswillens anderer Individuen. Das Raubtier kann nur leben durch Vernichtung anderer Tiere. Oft fordert sein Wille zum Leben aber auch die Verdrängung von Artgenossen, die ihm die Beute streitig machen oder das Futtern schmälern. Dies erfordert nicht die Vernichtung der anderen, wohl aber die Beugung ihres Willens durch Überlegenheit von Muskel- oder Nervenkraft.

Auch beim Menschen kommt es zu solchen Streitigkeiten, weniger zwischen Individuen als zwischen Gesellschaften, um die Mittel der Lebensgewinnung, von Jagdgründen und Fischplätzen an bis zu Märkten und Kolonien. Solche Streitigkeiten enden stets entweder mit der Vernichtung des einen Teiles oder, und häufiger, mit einer Brechung oder Beugung seines Willens. Diese ist jedesmal nur ein vorübergehender Vorgang. Aber der Mensch entwickelt daneben eine dauernde Beugung des Willens anderer, indem er dauernde Ausbeutungsverhältnisse entwickelt.

Die Klassengegensätze sind Gegensätze des Wollens. Der Wille zu leben der Kapitalisten findet Bedingungen vor, welche diese treiben, den Willen der Arbeiter zu beugen und sich dienstbar zu machen. Ohne diese Beugung des Willens gäbe es keine kapitalistischen Profite, könnten keine Kapitalisten existieren. Der Wille der Arbeiter zu leben treibt diese aber hinwiederum, gegen den Willen der Kapitalisten zu rebellieren. Daher der Klassenkampf.

So sehen wir den Willen als die Triebkraft des ganzen ökonomischen Prozesses. Er bildet seinen Ausgangspunkt, er durchdringt jede seiner Äußerungen. Es gibt nichts Absurderes, als im Willen und der Ökonomie zwei Faktoren zu sehen, die voneinander unabhängig sind. Es steckt dahinter die fetischistische Auffassung, die die Ökonomie, das heißt die Formen des gesellschaftlichen Zusammenarbeitens und Gegeneinanderarbeitens der Menschen, verwechselt mit den stofflichen Gegenständen dieses Arbeitens, den Rohstoffen und Werkzeugen, und sich einbildet, wie der Mensch Rohstoffe und Werkzeuge benutzt, um nach seinem Gutdünken bestimmte Gegenstände zu formen, so benutze „die schöpferische Persönlichkeit“ mit freiem Willen die Ökonomie, um daraus nach ihren Bedürfnissen bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse „so oder anders“ zu bilden. Weil der Arbeiter außerhalb der Rohstoffe und Werkzeuge steht, über ihnen steht, sie beherrscht, glaubt der ökonomische Fetischist, der Mensch stehe außerhalb der Ökonomie, er stehe über ihr und beherrsche sie nach freiem Willen. Und weil Rohstoffe und Werkzeuge keinen Willen und kein Bewusstsein haben, glaubt er, in der Ökonomie gehe alles ohne Willen und Bewusstsein automatisch zu.

Es gibt kein lächerlicheres Missverständnis als dieses.

Die ökonomische Notwendigkeit bedeutet nicht Willenlosigkeit. Sie entspringt der Notwendigkeit lebender Wesen, leben zu wollen, und der Unvermeidlichkeit, dazu die Lebensbedingungen zu benutzen, die sie vorfinden. Sie ist die Notwendigkeit bestimmten Wollens.

Nichts verkehrter also als die Anschauung, die Erkenntnis der ökonomischen Notwendigkeit bedeute eine Schwächung des Wollens; dieses müsse in den Arbeitern erst geweckt werden, und zwar – durch Biographien von Generalen und anderen willenskräftigen Männern und durch Vorträge über Willensfreiheit. Wenn man den Leuten einredet, dass etwas besteht, dann soll es auch schon bestehen und von ihnen besessen werden. Wer an den freien Willen glaubt, soll dadurch schon Willen erwerben, und zwar freien! Man sehe sich nur einmal unsere Professoren und sonstigen bürgerlichen Intellektuellen an, die durch die Schule Kants einerseits und der Verehrung willenskräftiger Hohenzollern andererseits gegangen sind, welche Fülle unbeugsamsten Willens sie dadurch erworben haben!

Wenn nicht der Urgrund aller ökonomischen Notwendigkeit, der Wille zu leben, in den Arbeitern aufs kraftvollste wirkte, wenn dieser Wille in ihnen erst künstlich geweckt werden müsste, dann wäre all unser Streben vergeblich.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass das Wollen der Menschen ohne Zusammenhang sei mit ihrem Bewusstsein und durch dieses nicht bestimmt werde. Die Energie des Willens zu leben hängt freilich nicht von unserem Bewusstsein ab, wohl aber bestimmt dieses die Formen, die jener Wille in gegebenen Fällen annimmt, und die Energie, die er einzelnen solcher Formen zuwendet. Wir haben ja gesehen, dass neben dem Instinkt das Bewusstsein den Willen lenkt und dass dessen Formen davon abhängen, in welcher Weise und welchem Grade das Bewusstsein die Lebensbedingungen erkennt. Da das Erkenntnisvermögen bei verschiedenen Individuen verschieden ist, kann auch ihr gleiches Wollen zu leben auf die gleichen Lebensbedingungen verschieden reagieren, und diese Verschiedenheit ist es, die den Schein der Willensfreiheit erweckt, als hänge die Art des Wollens des Individuums nicht von seinen Lebensbedingungen, sondern von seinem Willen ab.

Nicht durch erbauliche Legenden und Spekulationen über die Willensfreiheit, sondern nur durch Erweiterung der Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse können die Formen des Wollens des Proletariats und die Energie, die es auf einzelne darunter aufwendet, in seinem Interesse beeinflusst werden.

Der Wille zu leben ist die Tatsache, von der wir ausgehen müssen, die wir als gegeben vorauszusetzen haben. Die Formen, die er annimmt, und die Intensität, mit der er sich äußert, hängen dann bei einzelnen Individuen, Klassen, Nationen usw. von ihrer Erkenntnis der gegebenen Lebensbedingungen ab, die dort, wo sie bei zwei Klassen einen gegensätzlichen Willen erzeugen, auch Kampfesbedingungen sind.

Nur mit den letzteren haben wir es hier zu tun.

Der Wille als Kampflust wird bestimmt 1. durch den Kampfpreis, der den Kämpfenden winkt; 2. durch ihr Kraftgefühl; 3. durch ihre wirkliche Kraft.

Je höher der Kampfpreis, desto stärker der Wille, desto mehr wagt man, desto energischer bietet man alle seine Kräfte auf, den Preis zu erlangen. Aber das gilt nur dann, wenn man überzeugt ist, dass man über die Kräfte und Fähigkeiten verfügt, die zur Erringung des Preises erforderlich sind. Hat man nicht das nötige Vertrauen zu sich selbst, dann mag das Kampfziel noch so verlockend sein, es entfesselt kein Wollen, sondern nur ein Wünschen, eine Sehnsucht, die sehr heiß sein mag, aber keine Tat gebiert und praktisch völlig zwecklos ist.

Das Kraftgefühl wieder ist schlimmer als nutzlos, wenn es nicht auf wirklicher Erkenntnis der eigenen Kräfte wie jener des Gegners, sondern auf bloßen Illusionen beruht. Kraft ohne Kraftgefühl bleibt tot, erzeugt kein Wollen. Kraftgefühl ohne Kraft kann unter Umständen zu Taten führen, die den Gegner überraschen und einschüchtern, seinen Willen beugen oder lähmen. Aber dauernde Erfolge sind ohne wirkliche Kraft nicht zu erringen. Unternehmungen, die nicht durch wirkliche Kraft, sondern nur durch Täuschung des Gegners über die eigene Kraft gewonnen wurden, müssen früher oder später stets scheitern und um so größere Entmutigung nach sich ziehen, je glänzender die ersten Erfolge gewesen.

Wenden wir das Gesagte auf den Klassenkampf des Proletariats an, so ist es klar, welches die Aufgaben derjenigen sind, die ihn mitkämpfen und fördern wollen, und wie die Sozialdemokratie auf ihn wirkt. Unsere erste und wichtigste Aufgabe ist die Vermehrung der Kraft des Proletariats. Diese können wir natürlich nicht nach Belieben vergrößern. Die Kräfte des Proletariats find in einem bestimmten Zustand der kapitalistischen Gesellschaft durch deren ökonomische Verhältnisse bestimmt und lassen sich nicht willkürlich vermehren. Aber man kann die Wirkung der vorhandenen Kräfte dadurch steigern, dass man ihrer Verschwendung entgegenwirkt. Die bewusstlosen Prozesse in der Natur bedeuten eine unendliche Verschwendung von Kräften, wenn wir sie vom Standpunkt unserer Zwecke aus betrachten. Die Natur hat eben keinen Zweck, dem sie dient. Das bewusste Wollen des Menschen setzt ihm Zwecke, zeigt ihm aber auch die Wege, jene Zwecke ohne Verschwendung von Kräften, mit dem geringsten Kraftaufwand zweckmäßig zu erreichen.

Dies gilt auch für den Klassenkampf des Proletariats. Wohl geht er schon von Anfang an nicht ohne das Bewusstsein der Beteiligten vor sich; aber ihr bewusstes Wollen dabei umfasst nur ihre nächsten persönlichen Bedürfnisse. Die gesellschaftlichen Umgestaltungen, die daraus hervorgehen, bleiben den Kämpfern zunächst verborgen. Als gesellschaftlicher Vorgang ist daher der Klassenkampf lange ein unbewusster Vorgang und als solcher mit all der Kraftverschwendung behaftet, die allen unbewussten Vorgängen innewohnt. Nur die Erkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses, seiner Tendenzen und Ziele vermag dieser Verschwendung ein Ende zu machen, die Kräfte des Proletariats zu konzentrieren, sie in großen Organisationen zusammenzufassen, die durch große Ziele vereinigt werden und planmäßig persönliche und Augenblicksaktionen den dauernden Klasseninteressen unterordnen, die ihrerseits wieder in den Dienst der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gestellt sind.

Mit anderen Worten, die Theorie ist der Faktor, der die mögliche Kraftentfaltung des Proletariats aufs höchste steigert, indem er dessen durch die ökonomische Entwicklung gegebenen Kräfte aufs zweckmäßigste gebrauchen lehrt und ihrer Verschwendung entgegenwirkt.

Die Theorie steigert aber nicht bloß die wirksame Kraft des Proletariats, sondern auch dessen Kraftbewusstsein. Und das ist nicht minder notwendig.

Wir haben gesehen, dass der Wille nicht bloß durch das Bewusstsein, sondern auch durch Gewohnheiten und Instinkte bestimmt wird. Verhältnisse, die sich immer wiederholen, durch Jahrzehnte, ja durch Jahrhunderte hindurch, erzeugen Gewohnheiten und Instinkte, die noch nachwirken, wenn ihre materiellen Grundlagen schon verschwunden sind. Eine Klasse kann schon längst schwach geworden sein, die ehedem durch ihre überlegene Kraft herrschte, und eine von ihr ausgebeutete Klasse stark, die früher schwach war und daher einer ausbeutenden Klasse erlag. Aber das überkommene Kraftbewusstsein auf beiden Seiten wirkt noch lange nach, bis einmal eine Kraftprobe kommt, zum Beispiel ein Krieg, der die ganze Schwäche der herrschenden Klasse offenbart. Nun wird sich die beherrschte plötzlich ihrer Kraft bewusst, es kommt zur Revolution, zu einem plötzlichen Zusammenbruch.

So wirken auch im Proletariat das Gefühl seiner ursprünglichen Schwäche und der Glaube an die Unbesiegbarkeit des Kapitals lange nach.

Die kapitalistische Produktionsweise erstand in einer Zeit, in der massenhaft Proletarier hilflos auf der Straße lagen, als parasitische, für die Gesellschaft überflüssige Existenzen. Der Kapitalist, der sie in seine Dienste nahm, ward ihr Retter, ihr „Brotgeber“ oder „Arbeitgeber“, wie man heute sagt, was auch nicht viel schöner klingt. Ihr Wille zu leben trieb sie, sich zu verkaufen. Eine andere Möglichkeit außer dieser, um zu existieren, sahen sie nicht, und ebensowenig eine Möglichkeit, dem Kapitalisten Widerstand zu leisten. Aber allmählich wandelte sich das Verhältnis. Die Proletarier werden aus lästigen Bettlern, die man aus Mitleid beschäftigt, zu der Arbeiterklasse, von der die Gesellschaft lebt, die Persönlichkeit des Kapitalisten dagegen wird immer überflüssiger für den Fortgang der Produktion, was die Aktiengesellschaften und Trusts sinnenfällig dartun. Aus einer ökonomischen Notwendigkeit wandelt sich das Lohnverhältnis immer mehr in ein bloßes Machtverhältnis, durch die Macht des Staates aufrechterhalten. Aber das Proletariat wird zur zahlreichsten Klasse im Staate und auch im Heere, auf dem die Staatsgewalt beruht. In einem industriell hochentwickelten Staate, wie Deutschland oder England, besäße es wohl heute schon die Kraft, die Staatsgewalt zu erobern, und fände es heute schon die ökonomischen Bedingungen, die Staatsgewalt zur Verdrängung kapitalistischer Betriebe durch gesellschaftliche zu benutzen.

Aber was dem Proletariat fehlt, ist das Bewusstsein seiner Kraft. Nur einzelne Schichten besitzen es, der Gesamtheit fehlt es. Was die Sozialdemokratie vermag, tut sie, es ihr beizubringen. Auch hier wieder durch theoretische Aufklärung, aber nicht durch diese allein. Wirksamer für die Gestaltung des Kraftbewusstseins als alle Theorie ist stets die Tat. Ihre Erfolge im Kampf gegen den Gegner sind es, wodurch die Sozialdemokratie dem Proletariat seine Kraft am deutlichsten demonstriert und dadurch sein Kraftgefühl am wirksamsten hebt. Erfolge, die sie aber auch wieder dem Umstand verdankt, dass sie von einer Theorie geleitet wird, die es dem bewussten, organisierten Teile des Proletariats ermöglicht, in jedem Moment das Maximum seiner gegebenen Kräfte aufzuwenden.

Die gewerkschaftliche Tätigkeit wurde außerhalb der angelsächsischen Welt von Anfang an durch sozialdemokratische Erkenntnis veranlasst und befruchtet.

Neben deren Erfolgen sind es die erfolgreichen Kämpfe um die Parlamente und in den Parlamenten, die das Kraftgefühl und die Kraft des Proletariats mächtig gehoben haben. Nicht bloß durch die materiellen Vorteile, die dabei für einzelne Proletarierschichten abfielen, sondern vor allem dadurch, dass die besitzlosen, bisher eingeschüchterten und hoffnungslosen Volksmassen hier eine Kraft auftreten sahen, die kühn mit allen herrschenden Mächten den Kampf aufnahm, Sieg auf Sieg erfocht und dabei nichts anderes war als eine Organisation dieser Besitzlosen selbst.

Darin beruht die große Bedeutung der Maifeier, darin die der Wahlkämpfe sowie die der Wahlrechtskämpfe. Nicht immer bringen sie erhebliche materielle Vorteile für das Proletariat, oft stehen diese in keinem Verhältnis zu den Opfern des Kampfes, und doch bedeuten sie, wo sie siegreich enden, stets ein gewaltiges Anwachsen der wirkenden Kräfte des Proletariats, weil sie sein Kraftgefühl und damit die Energie seines Wollens im Klassenkampf mächtig anstacheln.

Nichts fürchten aber unsere Gegner mehr als das Wachstum dieses Kraftgefühls. Sie wissen, dass ihnen der Riese ungefährlich bleibt, solange er sich seiner Kraft nicht bewusst wird. Sein Kraftgefühl niederzuhalten, das ist ihre größte Sorge, selbst materielle Konzessionen sind ihnen weniger verhasst als moralische Siege der Arbeiterschaft, die deren Selbstgefühl heben. Darum kämpfen sie oft viel energischer um die Autokratie in der Fabrik, die Macht des „Herrn im eigenen Hause“, als gegen Lohnerhöhungen, darum ihre verbissene Feindschaft gegen die Begehung der Maifeier durch Arbeitsruhe, deswegen ihr Streben, das allgemeine und gleiche Wahlrecht überall dort abzuwürgen, wo es ein Mittel geworden ist, das siegreiche, unaufhaltsame Vorrücken der Sozialdemokratie der Bevölkerung augenfällig zu demonstrieren. Nicht die Furcht vor einer sozialdemokratischen Mehrheit treibt zu solchem Streben – da könnte man noch manche Wahl ruhig abwarten. Nein, die Furcht, die stetigen Wahlsiege der Sozialdemokratie müssten dem Proletariat ein solches Kraftgefühl verleihen und seine Gegner so einschüchtern, dass es unwiderstehlich würde, die staatlichen Machtmittel versagten, die Machtverhältnisse im Staate sich völlig wandelten.

Deswegen müssen wir darauf gefasst sein, dass unser nächster großer Wahlsieg uns eine Attacke am das bestehende Reichstagswahlrecht bringt – womit ich keineswegs sage, dass diese Attacke gelingen wird. Sie kann vielmehr Kämpfe entfesseln, die den bestehenden Mächten schließlich noch schwerere und gefährlichere Niederlagen bereiten als unsere Wahlsiege.

Wohl hat unsere Partei nicht bloß Siege zu verzeichnen, sondern auch Niederlagen. Aber diese werden um so weniger entmutigend wirken, je mehr wir uns daran gewöhnen, unseren Blick über die lokale und augenblickliche Beschränktheit zu erheben, unsere Bewegung in ihrem Gesamtzusammenhang seit zwei Menschenaltern bei allen Nationen zu verfolgen. Das unaufhaltsame und rapide Fortschreiten des Gesamtproletariats trotz einzelner sehr schwerer Niederlagen wird dann so offenkundig, dass nichts unsere Siegeszuversicht lähmen kann.

Je mehr wir aber versuchen, unsere Einzelkämpfe in ihrem Zusammenhang mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung zu betrachten, um so klarer und gewaltiger ersteht vor uns das Endziel all unseres Strebens, die Befreiung der Arbeiterklasse und damit der Menschheit von jeglicher Klassenherrschaft, um so mehr wird unsere Kleinarbeit geadelt, die ununterbrochen und notwendigerweise der Wille zu leben dem Proletariat aufdrängt, um so mehr wird durch die Größe des Kampfpreises sein Wille aufs höchste angespannt zu revolutionärer Leidenschaft, die nicht die sinnlose Aufregung der Überraschung, sondern das Produkt klarer Erkenntnis ist.

Das ist die Weise, wie die Sozialdemokratie bisher auf das Wollen des Proletariats eingewirkt hat, und sie hat damit so glänzende Ergebnisse erzielt, dass für sie nicht der mindeste Grund besteht, ihre Methode für eine andere einzutauschen.


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012