Karl Kautsky

Malthusianismus und Sozialismus

(Januar 1911)


Karl Kautsky, Malthusianismus und Sozialismus, Die neue Zeit, 29. Jg., 1. Bd. (Januar 1911), H. 18, S. 620–627, H. 19, S. 652–662, H. 20, S. 684–697.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. Das abstrakte Bevölkerungsgesetz

Wenn ich wollte, könnte ich mir’s mit den beiden Kritikern meines Buches über die Bevölkerungsfrage bequem machen. [1] Keiner der beiden kann recht haben, ohne dass der andere unrecht hat. Sie schlagen sich gegenseitig tot, und ich brauchte bloß als lachender Dritter ihr Erbe anzutreten.

Das läge sehr im Interesse der Kürze der Auseinandersetzung, nicht aber im Interesse der Aufhellung des umstrittenenen Gegenstandes. Dieser aber erscheint mir wichtig genug, ausführlicher auf ihn einzugehen. Beide Kritiker schneiden eine Reihe Fragen an, die eine nähere Betrachtung verdienen dürsten.

Genosse Quessel präsentiert sich als strammer Malthusianer. [2] Zu dem Zurück auf Lange, aus Proudhon, auf Kant! fügt er hinzu: Zurück auf Malthus!

Ich persönlich kann mich darüber nicht beklagen. Genosse Quessel stellt sich entschieden auf meine Seite – freilich unter der Voraussetzung, dass ich alles vergesse, was ich seit dreißig Jahren gelernt. Zurück auf den Kautsky von 1880, der noch nicht von Marx und Bebel verdorben worden – darin gipfelt seine Kritik meines jüngsten Buches.

Er verteidigt Malthus gegen mich, erklärt indes, auf meine naturwissenschaftlichen Anschauungen nicht eingehen zu wollen. Ohne diese wird aber das, was ich gegen Malthus sage, völlig unverständlich. Genosse Maslov wieder streift meine naturwissenschaftlichen Anschauungen, meint aber, dass sie im Grunde doch nur auf Malthusianismus hinauslaufen.

Für Malthus ist die Zunahme der Bevölkerung ein Naturgesetz, das für den Menschen in gleicher Weise gilt wie für die Tierwelt. Der Ausgangspunkt meines Abgehens von der Malthusschen Anschauung war der Marxsche Satz:

„Jede besondere historische Produktionsweise hat ihr besonderes Bevölkerungsgesetz, das nur unter ihr herrscht, mit ihr vergeht und daher nur historische Geltung hat. Ein abstraktes und unveränderliches Bevölkerungsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, und auch da nur, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.“ [3]

Je weiter ich die Geschichte der Bevölkerung verfolgte, desto mehr überzeugte ich mich von der Richtigkeit des Satzes, dass jede besondere Produktionsweise ihr besonderes Bevölkerungsgesetz hat. Aber welches ist das „abstrakte“ Bevölkerungsgesetz, das für Pflanze und Tier gilt? Marx ließ die Frage offen, ob es mit dem Malthusschen Gesetz übereinstimmt. Es ist möglich, dass er das annahm. Dies Gesetz aufzufinden, ist aber nicht bloß für die Naturforschung wichtig. Denn die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte und gesellschaftlichen Verhältnisse kann allerdings in die Natur bis zu einem gewissen Grad eingreifen und sie modifizieren. Sie bleibt aber doch abhängig von den Naturgesetzen und wird nur begriffen werden aus diesen, die ihre Voraussetzung bilden. So können wir auch die historischen Bevölkerungsgesetze nur begreifen, wenn wir das „abstrakte“ Bevölkerungsgesetz der Natur kennen.

Anfangs nahm ich, auch nachdem ich schon den Standpunkt meines Erstlingswerkes aufgegeben, immer noch an, das Malthussche Bevölkerungsgesetz gelte, wenn auch nicht für die Gesellschaft, so doch für die Natur. Wenn ich mich nach und nach immer weiter davon entfernte, so geschah es nicht, weil ich bei Marx eine andere Auffassung fand, sondern weil Marx meine Augen geschärft und mich neue Betrachtungsweisen gelehrt hatte, vor denen der Malthusianismus auch für die Natur unhaltbar erscheint.

Die bisherige Betrachtungsweise auch der Naturforscher beim Bevölkerungsgesetz geht vom einzelnen Individuum oder Paar aus. Dessen Vermehrungsmöglichkeit wird berechnet und es wird festgestellt, dass sie für einen längeren Zeitraum weit größer ist als die mögliche Vermehrung der Nahrungsmittel dieser Art. Die Sache erhält aber ein anderes Gesicht, wenn man nicht vom einzelnen Individuum, sondern von der Gesamtheit der Organismen ausgeht und die Bedingungen untersucht, unter denen der Produktionsprozess und Reproduktionsprozess dieser Gesamtheit vor sich geht.

Die bisherige Betrachtungsweise des Bevölkerungsgesetzes entspricht dem allgemeinen Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie, die überall vom Individuum ausgeht. Sie liebt Robinsonaden, und sucht aus dem Verhältnis des Robinson zu den Gegenständen seiner Umgebung, oder des Urfischers zum Urjäger die Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise abzuleiten. In Wirklichkeit aber lässt sich das ökonomische Verhalten des einzelnen Individuums innerhalb der entwickelten Warenproduktion erst aus dem Gesamtprozess dieser Art Produktion begreifen. Das gleiche gilt in der Naturwissenschaft und in der Ethik. Die Kantsche Ethik wie die des Eudämonismus unterscheidet sich von der Marxistischen vor allem dadurch, dass jene vom Individuum, dem kategorischen Imperativ in seinem Innern oder seinem Lustgefühl ausgeht, diese vom Interesse der Gesellschaft. Selbst wo die Kantsche Ethik oder die des Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts mit der Marxistischen im Resultat übereinstimmt, unterscheidet sie sich von dieser in der Methode. Und das gleiche gilt von meiner Betrachtung des Bevölkerungsgesetzes im Vergleich zu der Malthusschen.

Das bildet einen weiteren Gegensatz zum Malthusschen Standpunkt.

Dass Malthus und seine Anhänger ebenso wie die bürgerlichen Ökonomen und Ethiker vom Individuum ausgehen, ist wohl zum Teil dem Charakter der kapitalistischen Produktionsweise zuzuschreiben, die in ihren Anfängen alle überkommenen gesellschaftlichen Gebilde auslöst und als schädlich, als bloße Produkte unverständiger Vorurteile erscheinen lässt, wogegen sie dem Individuum erhöhte Geltung verschafft. Aber es ist nicht der Einfluss der kapitalistischen Produktionsweise allein, was die Wissenschaft veranlasste, in Ökonomie und Ethik wie in der Naturbetrachtung zuerst vom Individuum auszugehen. Dieses ist auch das nächstliegende, greifbarste Objekt der Betrachtung. Erst aus der Häufung der individuellen Beobachtungen und der Vergleichung des immer Wiederkehrenden und massenhaft sich Wiederholenden in ihnen kann die Erkenntnis des gesellschaftlichen und natürlichen Gesamtprozesses erstehen, in dem die Individuen bloß Teile bilden, die aus dem Ganzen zu erklären sind, statt umgekehrt.

Für die Betrachtung der Vermehrung der Organismen kam noch der Umstand in Betracht, dass die der Beobachtung zunächst liegenden Tier- und Pflanzenarten, der Mensch, die Haustiere und die Kulturpflanzen, an Zahl von Jahr zu Jahr zunehmen. Indem man diese Entwicklung zurückverfolgte, lag es nahe, anzunehmen, dass jede dieser Arten im Anfang zunächst nur aus sehr wenigen Individuen bestand, die dann von Jahr zu Jahr zahlreicher wurden; und ebenso nahe lag die Annahme, dass das gleiche für alle Organismen gelte. Unterscheiden wir aber mit Marx zwischen den historischen Bevölkerungsgesetzen der verschiedenen Produktionsweisen und dem abstrakten Bevölkerungsgesetz der organischen Welt, dann kommen wir zu einem anderen Ergebnis. Betrachten wir diese Welt dort, wo der Mensch nicht eingreift. Das wird freilich immer schwieriger, weil die Gegenden, in denen ein Wirken des Menschen noch nicht fühlbar geworden ist, immer weniger umfangreich und immer mehr nur höchst unzugängliche Lokalitäten sind. Betrachten wir solche Gegenden, dann finden wir keineswegs eine Zunahme der einzelnen Arten, sondern ein ständiges Gleichgewicht, das heißt die Zahl der einzelnen Individuen jeder Art bleibt im Durchschnitt der Jahre die gleiche, solange die allgemeinen Verhältnisse sich nicht ändern.

Und es ist nicht schwer zu erkennen, warum dem so sein muss. Wie immer das Leben auf der Erde entstanden sein mag, auf jeden Fall haben sich die ersten Organismen überall oder in raschester Folge nacheinander dort gebildet, wo die Bedingungen für ihre Existenz gegeben waren. Auch bei der weiteren Höherentwicklung müssen wir annehmen, dass von jeder weiteren Art von Organismen sich Individuen überall dort bildeten, wo ihre Entstehungs- und Lebensbedingungen vorhanden waren. Das müssen wir annehmen nach dem Satze, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorrufen. Überall, wo die gleichen Ursachen der Bildung einer Organismenart vorhanden waren, muss sich die gleiche Art auch wirklich gebildet haben. Diese Art muss von vornherein schon in der Periode ihrer Bildung die ganze Ausdehnung erreicht haben, die sie unter den gegebenen Umständen erlangen konnte, und sie vermochte ihre Zahl weiterhin dauernd und stetig nicht zu vermehren, solange diese Umstände dauernd und stetig die gleichen blieben.

Man mag dieses Bevölkerungsgesetz ebenso „grausam“ und „unerbittlich“ finden wie das Malthussche, aber man kann es diesem nurgleichsetzen, wenn man die Naturwissenschaft „ethisch“ betreibt, sie danach beurteilt, ob ihre Ergebnisse tröstlich und erhebend sind oder nicht.

Indessen könnte man noch einige Übereinstimmung dieses Bevölkerungsgesetzes mit dem Malthusschen finden, wenn man annähme, es gebe nur einen Umstand, der die Zahl der Individuen einer Art begrenze, und das sei ihr Nahrungsspielraum, über den sie stets hinauszuwachsen trachteten und innerhalb dessen ihre Zahl nur durch den Nahrungsmangel mit seinen Konsequenzen, Krankheit und Krieg, beschränkt werde.

Gerade das ist es aber, was ich aufs entschiedenste bestreite.

Allerdings irrt Maslov, wenn er mir die Ansicht zuschreibt, dass die Vermehrung der Menschen und Tiere „keineswegs durch die Menge der Nahrungsmittel begrenzt wird“. Eine solche Ansicht wäre ja unsinnig, über die Menge ihrer Nahrungsmittel kann keine Art hinauswachsen, diese bildet die äußerste Grenze, bis zu der sie sich vermehren kann. Was ich behaupte, ist, dass der Gesamtprozess der Reproduktion der Organismen unter Umständen vor sich geht und vor sich gehen muss, die es unmöglich machen, dass die Grenze des verfügbaren Nahrungsspielraums von irgendeiner Art anders als ausnahmsweise erreicht oder gar überschritten würde. Dass die Einengung der Vermehrung in der Regel nicht durch Nahrungsmangel, sondern durch andere Umstände hervorgerufen wird.

Nun behaupten, freilich Maslov und andere meiner Kritiker, dass diese „anderen Umstände“ auch nur solche seien, die schon Malthus hervorgehoben. Ich sage selbst, das Gleichgewicht in der Natur werde nur dadurch erhalten, dass der jährliche Betrag der Vernichtung dem jährlichen Betrag an Vermehrung von Organismen gleicher Art gleichkommt. Maslov meint:

„Dasselbe behauptet Eber auch Malthus. Sagt doch Malthus, dass die Zunahme der Bevölkerung durch Hunger, Armut, Krankheit und Kriege begrenzt wird, und Kautsky behauptet das gleiche von den Tieren.“

Keineswegs. Malthus sagt: Es sind stets mehr Menschen (oder vielmehr Tiere; es handelt sich hier vorerst nur um das „abstrakte“ Bevölkerungsgesetz) vorhanden, als wie Nahrungsmittel. Daher wird ein Teil, der schwächere, unterernährt sein und erkranken, die kraftvolleren werden untereinander kämpfen, um einen möglichst großen Anteil von der vorhandenen Futtermenge zu erobern. Armut, Unterernährung, Sterblichkeit durch Krankheiten der einen, Krieg, Totschlag der anderen sind naturnotwendige Einrichtungen der Natur, nicht Produkte der menschlichen Gesellschaft.

Demgegenüber erkläre ich: Krankheit und Unterernährung sind in der Tierwelt im Naturzustand höchst seltene Erscheinungen, ebenso aber auch der Krieg von Individuen der gleichen Art untereinander. Wo es zu einem Kampfe in der Tierwelt kommt, ist es meist ein Kampf ums Fressen und Gefressenwerden, aber nicht ein Kampf um die Nahrung, sondern mit der Nahrung, beziehungsweise ein Kampf der Nahrung gegen die Fresser. Auch dieser Kampf ist nicht eine Erscheinung innerhalb der ganzen organische, Welt, sondern nur innerhalb der Tierwelt, ja selbst in dieser gilt er nur von jenen Tierarten, die als Futter anderer Tiere dienen. Will man etwa sagen, wegen Mangels an Nahrung führten die Rinder Krieg gegen das Gras? Dieser „Krieg“ ist ja gerade der Prozess der Ernährung selbst! Dann aber gibt es auch Tiere, die nicht gefressen werden, die nur fressen, wie die großen Raubtiere oder die großen Dickhäuter. Gerade dieser Fall ist für uns besonders wichtig, weil der Mensch im Kulturzustand zu den Tieren gehört, die nicht gefressen werden. Sehen wir von ihm ab, dann finden wir auch bei dieser Art Tiere einen Gleichgewichtszustand, der dadurch herbeigeführt wird, dass das Maß der Vermehrung dem der geringeren Vernichtung angepasst ist. Im Allgemeinen kann man sagen, wir finden starke Vermehrung dort, wo starke Vernichtung, schwache Vermehrung, wo schwache Vernichtung. Zwischen beiden Faktoren muss Gleichgewicht herrschen.

Das ist meines Erachtens das „abstrakte“ Bevölkerungsgesetz für Pflanze und Tier.

Will Maslov noch weiter behaupten, es laufe im Grunde auf das Malthussche Gesetz hinaus?

Es gibt aber noch einen Punkt, in dem meine Auffassung der Malthusschen entgegensteht. Dieser untersucht nicht näher den Begriff des Nahrungsspielraums. Und ebenso wenig einer seiner Nachfolger. Auch Maslov nicht. Er redet einfach von der „Menge der vorhandenen Nahrungsmittel“ und behauptet, dass jede Tiergattung die Tendenz habe, über deren Bereich hinauszuwachsen.

Versteht er unter der Menge der vorhandenen Nahrungsmittel die Menge der vorhandenen Organismen, die als Nahrung verwendet werden können? Da würde er bald Schönes erleben, wenn Menschen und Tiere sich bis an die Grenze dieses „Nahrungsspielraums“ vermehren wollten. Es würde ihm ergehen wie jenem Statistiker, der berechnete, dass keine Fleischnot existiere, da im Deutschen Reiche auf drei Einwohner ein Stück Rindvieh komme. Da könne sich doch jeder reichlich satt essen. Sicher. Aber wären alle 20 Millionen Rinder geschlachtet, dann gäbe es überhaupt kein Rindvieh mehr in Deutschland.

Der Begriff des Nahrungsspielraums wird ein anderer, wenn man die Gesellschaft wie die Welt der Organismen als dauernde Einheit betrachtet, die sich stets zu reproduzieren hat, als wenn man vom Individuum ausgeht. Vom Standpunkt des Reproduktionsprozesses kann als jährlich verfügbarer Nahrungsspielraum nicht jene Menge als Nahrung verwendbarer Organismen angesehen werden, die überhaupt vorhanden ist, sondern nur jene Menge, die im Jahre neu hinzuwächst. Nur wenn von den vorhandenen Nahrungsmitteln bloß ihr Zuwachs verzehrt wird, ist eine Bewahrung des Gleichgewichtes möglich. Wird mehr verzehrt, dann gerät man in die Lage eines Rentners, der mit seinen jährlichen Zinsen nicht zufrieden ist und das Kapital angreift. Das Ende ist schließlich der Bankrott.

Nun sind aber die Tiere keine vorsichtigen Rentner, auch keine Theoretiker, die sich den Kopf über das Gleichgewicht in der organischen Natur und deren Reproduktionsprozess zerbrechen. Sie fressen, soviel sie brauchen, solange sie Nahrung finden. Für sie besteht der Nahrungsspielraum in allem Verzehrbaren, was vorhanden ist. Haben sie die Tendenz, sich bis zur Grenze dieses Spielraums zu vermehren, wie Malthus und auch Quessel und Maslov meinen, dann haben sie die Tendenz, ihren Nahrungsspielraum stetig zu verengern, seine Reproduktion zu hindern, ihn schließlich völlig zu zerstören.

Eine Berechnung möge das illustrieren.

Nehmen wir an, in einem Gebiet Afrikas gebe es eine Million Antilopen und 2.000 Löwen. Von allen anderen Tieren sehen wir der Einfachheit wegen ab. Die Million Antilopen produziert im Jahre 200.000 Junge, und jeder Löwe fresse im Jahre 100 Antilopen, alle Löwen zusammen also 200.000. So bleibt das Gleichgewicht gewahrt, wenn wir annehmen, dass keine Antilope eines natürlichen Todes stirbt. Aber das Gleichgewicht bleibt nur gewahrt, wenn im Jahre nicht mehr Löwen aufgezogen werden, als zugrunde gehen. Nehmen wir an, das sei nicht der Fall, sondern nach Malthusscher Annahme zeigten die Löwen die Tendenz, sich bis zur Grenze ihres Nahrungsspielraums zu vermehren. Die 1.000 Löwenpaare ziehen etwa im Jahre 1.000 Junge auf. Dann haben wir im nächsten Jahre 3.000 Löwen, die 1.200.000 Antilopen gegenüberstehen. Werden nun unter den Löwen Armut, Hunger, Krankheit und Krieg ausbrechen, bis sie wieder auf 2.000 reduziert sind? Mit nichten. Die vorhandenen Antilopen reichen aus, sie reichlich zu ernähren. Aber am Ende des Jahres werden ihrer nur noch 900.000 da sein.

Im dritten Jahr finden wir schon 4.000 Löwen, die 400.000 Antilopen zur Stillung ihres Hungers brauchen. Sie finden noch immer mehr als diese Zahl, nämlich 1.080.000. Also auch diesmal gibt es noch nicht Armut, Hunger, Krankheit, Krieg, sondern nur fortschreitende Dezimierung der Antilopen, von denen nur noch 680.000 übrigbleiben. Diese genügen mit ihrem Nachwuchs von 136.000 Jungen noch reichlich für das folgende Jahr, wo schon mehr als 500.000 Antilopen gefressen werden. Aber im fünften Jahr gibt es samt dem Nachwuchs nur noch 300.000 gegenüber mehr als 6.000 Löwen. Jetzt tritt der Malthussche Fall von Armut, Hunger, Krankheit, Krieg unter den Löwen ein, aber nicht als dauernder Zustand, sondern als Einleitung zu völliger Ausrottung der Antilopen und schließlichem gänzlichen Verhungern der Löwen.

Das muss das Ende vom Lied bei jedem Organismus sein, bei dem Vermehrung und Vernichtung sich nicht im Durchschnitt der Jahre das Gleichgewicht halten und die Vermehrung so weit fortgeht, als die Menge der vorhandenen Nahrungsmittel es gestattet. Die Malthussche Theorie war nur möglich, weil weder Malthus selbst, noch irgendeiner seiner Anhänger, aber auch nicht einer seiner Kritiker untersuchte, worin denn eigentlich der Nahrungsspielraum besteht.

Man sieht, meine Auffassung unterscheidet sich fundamental von der Malthusschen. Erstens darin, dass sie mit Marx historische Bevölkerungsgesetze für den Menschen und ein abstraktes für Pflanze und Tier unterscheidet. Dann bei der Erforschung des letzteren darin, dass sie nicht von der Fruchtbarkeit der Individuen, sondern von den Bedingungen der Reproduktion der Arten und Systeme von Arten ausgeht. Drittens darin, dass sie in der Natur nicht eine Tendenz nach Vermehrung der Individuenzahl der Arten, sondern nach ihrer Konstanz, nach ihrem Gleichgewicht findet, endlich viertens darin, dass sie als Mittel der Erhaltung, dieses Gleichgewichtes nicht die Grenze der Menge vorhandener Nahrungsmittel betrachtet, sondern nur die Ausgleichung zwischen den Kräften der Fortpflanzung und der Vernichtung.

Alles das haben weder Maslov noch Quessel gesehen. Quessel preist nach wie vor den Malthusianismus als der Weisheit letzten Schluss, ohne „auf die naturwissenschaftlichen und soziologischen Untersuchungen Kautskys näher einzugehen“.

Zugeben will ich allerdings, dass ich neben den bereits erwähnten Gesichtspunkten noch einige naturwissenschaftliche Ansichten in meinem Buch erörtert habe, die nicht streng zum Thema des Malthusianismus gehören.

Meine Auffassung, dass die Tendenz in der Natur nicht nach Überbevölkerung, sondern nach einem Gleichgewicht zwischen Vermehrung und Vernichtung geht, ergab sich aus meinem Ausgangspunkt, der nicht der des Individuums, sondern des Gesamtprozesses war. Der Reproduktionsprozess der Gesamtheit der Organismen kann dauernd nur vor sich gehen, wenn ein Gleichgewicht zwischen Vermehrung und Vernichtung herrscht; er kann dauernd nur vor sich gehen, wenn die fressenden Organismen bloß den jährlichen Zuwachs an Futterpflanzen und Tieren verzehren und nicht die Tendenz haben, weitere Ansprüche an den Nahrungsspielraum zu entwickeln; er kann nur vor sich gehen, wenn die Fruchtbarkeit jeder Organismenart ihren Lebensbedingungen angepasst ist, zu denen bei den Tieren auch die Fruchtbarkeit ihrer Futterorganismen gehört.

Jede Gesamtheit von Organismen, in der diese Bedingungen nicht zutreffen, kann sich dauernd nicht behaupten und muss zugrunde gehen.

Diese Erkenntnis genügt gegenüber Malthus. Aber ich ging an meine Untersuchungen doch nicht mit der Absicht, Malthus und bloß Malthus zu widerlegen, sondern mit der Absicht, über das Bevölkerungsproblem völlige Klarheit zu erlangen, ohne mich darum zu kümmern, was dabei aus dem Malthusianismus wurde.

Da konnte ich mich aber unmöglich der Frage enthalten: Welches sind die Mittel, durch die jener Gleichgewichtszustand herbeigeführt wird? Die bloße Konstatierung der Tatsache konnte nicht genügen. Man musste auch trachten, sie zu erklären. Hier kam ich aber auf ein Gebiet, auf dem ich selbständig nichts zu leisten vermochte, auf das der Biologie.

Ich musste da mich mit dem begnügen, was ich fertig vorfand, und das war Spencers Theorie, die mir sehr wohl begründet und plausibel erschien, und die ich daher akzeptierte. Aber wenn Genosse Eckstein in seiner Kritik meines Buches im Der Kampf meint, dass die Dinge wohl nicht so einfach liegen, dass eine ausreichende Theorie der Fruchtbarkeit noch nicht existiere und nur durch Experimente gewonnen werden könne, so habe ich nichts dagegen einzuwenden. [4] Nur ist es nicht meine Aufgabe, als Laie in der Biologie, die Spencersche Theorie weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen oder zu ersetzen. Ich hielt es nur für notwendig, auf die Spencersche Theorie hinzuweisen, um dem Leser zu zeigen, dass die Erscheinung des fortdauernden Gleichgewichtes im Reproduktionsprozess der organischen Welt natürlich erklärbar ist, nicht etwa die Annahme einer übernatürlichen „prästabilierten Harmonie“ erfordert. Die Tendenz, in die Naturwissenschaft Mystizismus hineinzutragen, ist heute zu stark entwickelt, als dass ich ihr, wenn auch unbeabsichtigt, Vorschub leisten möchte.

Wenn nun jene meiner Kritiker, denen es sich bloß um den Malthusianismus und seine praktischen Konsequenzen handelt, an meinen Ausführungen über die Spencersche Theorie und Verwandtes vorbeigehen, so ist das wahlberechtigt. Sie übersehen aber die ganze Grundlage meiner Ausführungen, und daher hängen alle ihre Einwände zumeist in der Lust, wenn sie auch die Unterscheidung zwischen historischen Bevölkerungsgesetzen der Menschen und abstraktem Bevölkerungsgesetz der organischen Welt und meine ganze Untersuchung über dieses letztere außer Acht lassen, wie es Quessel tut, oder wenn sie, wie Maßloff, verkennen, dass mein Bevölkerungsgesetz im Ausgangspunkt, der Methode, dem Resultat in vollstem Widerspruch zum Malthusschen Gesetz steht.
 

2. Die historischen Bevölkerungsgesetze

Das abstrakte Bevölkerungsgesetz der organischen Natur bildet die Grundlage der historischen Bevölkerungsgesetze der verschiedenen Produktionsweisen. Von der Art der Auffassung jenes Bevölkerungsgesetzes ist daher auch die Betrachtung dieser abhängig. Geht man von der Anschauung aus, das „abstrakte“ Naturgesetz der Bevölkerung sei das Malthussche, dann können die historischen Bevölkerungsgesetze nur aus ewigem Kampfe gegen die Übervölkerungstendenz entspringen und sich nur durch die Art unterscheiden, wie sie dieser entgegenwirken.

Anders gestaltet sich die Sache, wenn man als Naturgesetz die Tendenz zum Gleichgewicht zwischen Vermehrung und Vernichtung betrachtet. Der Mensch mit seiner Technik greift in diesen Prozess ein und stört ihn. Das kann aber in sehr verschiedenartiger Weise geschehen und geschieht. Übervölkerung und Kampf gegen die Übervölkerung stellen sich nur als eine der Formen dar, die die historischen Bevölkerungsgesetze annehmen können, keineswegs als ihre allgemeine Form.

Drei für die Bevölkerungsvermehrung wichtige Faktoren sind es, die der Mensch durch seine Technik und die aus dieser hervorgehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Zustände, also durch seine Produktionsweise – das Wort im weitesten Sinne genommen – ändert: die Fruchtbarkeit, die Sterblichkeit, der Nahrungsspielraum, worunter wir, wie schon bemerkt, nicht die absolute Menge vorhandener Nahrungsmittel, sondern die Rate ihres jährlichen Zuwachses zu verstehen haben.

Jeder dieser Faktoren wird von den verschiedenen Produktionsweisen in verschiedener Weise beeinflußt. Aus ihrer Gesamtentwicklung ergibt sich das Bevölkerungsgesetz, das also in der mannigfachsten Weise variieren kann, da diese drei Faktoren die verschiedensten Kombinationen eingehen können. Es gibt Produktionsweisen, die die Fruchtbarkeit beschränken, die Sterblichkeit erhöhen. Sie werden zur Entvölkerung neigen, wie immer der Nahrungsspielraum sich gestalten mag. Eine andere Produktionsweise kann die Fruchtbarkeit steigern, die Sterblichkeit herabsetzen. Hier hängt es von der Schnelligkeit der Ausdehnung des Nahrungsspielraums ab, ob Übervölkerung eintritt oder nicht usw.

Jeder der drei Faktoren hängt jetzt auch nicht mehr bloß vom Verhältnis des Menschen zur Natur, also von der Technik ab, sondern auch vom Verhältnis der Menschen untereinander, von der Gesellschaft. Die Fruchtbarkeit kann zum Beispiel eingeschränkt werden durch Überarbeit der Frauen, sie kann aber auch beschränkt werden durch gesellschaftliche Verbote, die etwa das Heiraten außerhalb des Stammes oder des Dorfes verbieten und damit Inzucht und Unfruchtbarkeit fördern. Ebenso aber auch durch gesellschaftliche Verbote, die zur Verhinderung der Inzucht die Eheschließungen von Gentilgenossen verhindern, die Heirat außer der Gens fordern. Daraus kann unter Umständen eine Erschwerung von Eheschließungen erfolgen. Andere Erschwerungen treten mit dem Aufkommen des Eigentums auf usw.

Da die Produktionsweise auf die drei Faktoren blind und absichtslos wirkt, ihre Wirkungen sich nicht vorhersehen lassen, kann es höchstens zufallsweise einmal passieren, dass aus ihrem Zusammenwirken ein Zustand langer dauernden Gleichgewichtes resultiert. In der Regel beherrscht die verschiedenen Stämme der Menschheit zu verschiedenen Zeiten entweder die Neigung zur Entvölkerung oder zur Zunahme der Bevölkerung. Sehr oft kann dabei die Erzeugung von zu viel Nachkommen lästig oder ökonomisch schädlich werden. Wir finden daher feit den frühesten Zeiten neben den unbewußten Variationen der Fruchtbarkeit bewußte Eingriffe der Menschen in diese, Kindestötung, Abortus, Maßregeln zur Verhütung der Empfängnis. Aber selten werden diese Einschränkungen der Fruchtbarkeit aus gesellschaftlichen Rücksichten vorgenommen, sondern meist nur aus individuellen, um die Mutter zu schonen, das Familieneigentum nicht unter zu viele Erben zu zersplittern usw. Auch diese Eingriffe entspringen der Produktionsweise, werden durch sie bedingt und wirken auf ihr Bevölkerungsgesetz ein. Sie dienten aber bisher in der Regel nicht bewußter Anpassung der Bevölkerung an den Nahrungsspielraum, waren meist nicht etwa ein Mittel, einer vorhandenen Übervölkerung abzuhelfen, sondern bloß Mittel, einzelnen Individuen eine unangenehme Lage zu ersparen. Es ist bemerkenswert, dass sie bisher am meisten in Produktionsweisen vorkamen, die ohnehin schon zur Entvölkerung neigen, so bei Jägervölkern oder bei hochentwickelter Sklavenwirtschaft.

Wie der Kindermord ist auch der Krieg eines der Mittel, die die Sterberate und damit das Bevölkerungsgesetz erheblich beeinflussen können. Aber ebenso wenig wie beim Kindermord kann man beim Krieg ganz einfach die Malthussche Schablone anwenden und sagen, er sei eine der Folgen der Überbevölkerung. Sicher, wo ein Land einen Bevölkerungsüberschuss hat, kann es im Krieg ein Mittel sehen, ihm durch Eroberung neuen Landes Abzug zu verschaffen, aber es wäre sinnlos, jeden Krieg auf das Konto der Übervölkerung zu setzen. Von der Produktionsweise, die die Waffentechnik und die Art der Übung in den Waffen, der Verproviantierung im Kriege, der Dauer der Kriege usw. bestimmt, hängt die Art der Kriegführung und die Höhe ihrer Opfer ab. Die Produktionsweise bestimmt aber auch die Interessengegensätze, die im Kriege zum Austrag kommen und die sehr verschiedener Natur sein können. Bei Nomadenvölkern kann sicher ein Streit um Weideplätze die Ursache kriegerischer Zusammenstöße sein, er bildet für sie aber keineswegs die einzige Veranlassung blutiger Konflikte. Viel eher entstehen Kämpfe der einzelnen Stämme und Clans untereinander aus der Pflicht der Blutrache, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt wird, aber sicher nicht der Übervölkerung entspringt. Wohl aber werden die aus der Blutrache entspringenden Fehden oft so langwierig und mörderisch, dass sie zu zeitweiser Entvölkerung führen.

Bei sesshaften Völkern ist eine häufige Ursache von Kriegen das Verlangen nach Sklaven, ein Verlangen, das durch die Produktionsweise, keineswegs durch Übervölkerung bedingt ist. Die Raubsklaverei bedeutet ja das gewaltsame Einschleppen neuer Volkselemente ins Land, also die gewaltsame Vermehrung seiner Volksmenge. Dass dabei diese Art der Sklaverei trotzdem zur Entvölkerung führen kann, wurde bereits bemerkt. Sie bewirkt dies teils durch die ewigen Kriege, die sie hervorruft, teils durch die Einschränkung der Kinderzeugung, die sie nach sich zieht.

Die ganze Mannigfaltigkeit dieser Faktoren existiert für Quessel nicht. Er folgt der alten Malthusschen Schablone und macht mir zum Vorwurf, dass ich das nicht auch tue, dass ich „die Methoden, mittels deren die Menschheit auf den verschiedenen Kulturstufen gegen ihre natürliche Vermehrung ankämpft, fast völlig ignoriere“.

Diese Methoden seien im Stadium der Wildheit der Kindesmord, später der Krieg und dann die Sklaverei.

Zunächst ist es falsch, dass ich diese Methoden „ignoriere“. Ich erwähne sie. Genosse Quessel wird zum Beispiel finden, dass ich alles, was er mir über den Kindesmord in Verbindung mit dem langen Säugen der Kinder bei den Wilden erzählt, bereits vor ihm mitteilte. [5] Ich unterscheide mich dabei von ihm allerdings dadurch, dass ich seine malthusianischen Übertreibungen nicht mitmache. So erzählt er zum Beispiel, dass „ein gesundes Weib in jedem Jahre einem Kinde das Leben schenken kann“, wobei er ganz vergißt, was ich bemerke, dass während der Dauer der Säugungsperiode Empfängnisse selten sind und diese Periode bei den Wilden mehrere Jahre umfaßt. Er übersieht auch, dass ich zeige, wie die Zahl der Geburten bei den Wilden, bei denen die Frau auch frühzeitig die Gebärfähigkeit verliert, eine geringe ist. Von alledem schweigt er, um im Kindermord das spezifische Mittel der Wilden vorzuführen, mit dem sie gegen die „zu große Fruchtbarkeit“ (!) ihres Geschlechtes ankämpfen, und um damit zu beweisen, dass das „furchtbare Maltussche Gesetz auch für sie recht behält“.

Ebenso einseitig und schablonenhaft ist, was er über Krieg und Sklaverei als Mittel, „gegen die zu große Fruchtbarkeit“ anzukämpfen, sagt. Es lohnt sich nicht, darauf einzugehen. Bloß seine Ausführungen über das Elend in der kapitalistischen Produktionsweise verdienen eine kurze Bemerkung. Er führt aus:

„dass die kapitalistische Landwirtschaft außerstande ist, für die wachsende Bevölkerung die physische Basis einer menschenwürdigen (nicht unterernährten) Existenz zu schaffen – denn dazu müsste die Erzeugung tierischer Produkte, wie Fleisch Butter, Milch, Eier und Käse, sich mit einem Schlage verdreifachen lassen„.

Ich will die Richtigkeit dieser ungeheuerlichen Behauptung auf sich beruhen lassen. Nehmen wir sie, wie sie da steht, so bezeugt sie, dass die ganze Masse der Bevölkerung heute in der entsetzlichsten Weise unterernährt sein muss, wenn nur ein Drittel jener tierischen Produkte vorhanden ist, die sie braucht, um sich genügend zu nähren. Das bedeutet eine grauenhafte, nicht bloß soziale, sondern direkte physische Verelendung der Gesamtmasse der Bevölkerung.

Was sagen dazu Quessels engere Gesinnungsgenossen, die Revisionisten, die sich über die Marxsche Lehre der Verelendung als ein überholtes, wissenschaftlich längst widerlegtes „Dogma“ aufs lebhafteste entrüsten? Die Marxsche Lehre entwickelt bloß die Notwendigkeit der sozialen Verelendung, das heißt das stete Zurückbleiben des Aufstiegs der Arbeiterklasse hinter dem der Kapitalistenklasse. Daneben stellt Marx wohl die physische Verelendung als Tendenz des Kapitalismus dar, mehr als Folge von Überarbeit, Wohnungselend, Unsicherheit der Existenz denn als Folge dauernder, allgemeiner Unterernährung; aber er stellt die physische Verelendung dar als eine Tendenz, die unter günstigen Umständen von manchen Arbeiterschichten überwunden werden kann, die sich gewerkschaftlich organisieren oder für die der Staat schützend eingreift.

Derselbe Quessel, der diese „Verelendungstheorie“ verwirft, stellt selbst eine Verelendungstheorie aus, die weit hoffnungsloser ist als die Marxsche.

Der Widerspruch, den wir hier bei Quessel finden, ist einer der bürgerlichen Ökonomie. Den Sozialisten entgegnen die bürgerlichen Ökonomen entweder damit, dass sie das Elend der kapitalistischen Produktionsweise als eine vorübergehende Erscheinung hinstellen, die immer mehr abnehme, so dass sich die Lage der Arbeiter absolut und relativ immer günstiger gestalte. Andererseits aber behauptet die bürgerliche Ökonomie mit Malthus, das Elend sei notwendig und unvermeidlich, weil zu wenige Lebensmittel vorhanden seien, dies Elend könne nur beseitigt werden durch Einschränkung der Kinderproduktion – ein Mittel der „Lösung der sozialen Frage“, das die Herren Ausbeuter absolut nichts kostet.

Diese beiden Auffassungen schlagen eine die andere tot. Sie werden deshalb in der Regel auch nicht gleichzeitig vertreten. Es blieb dem Revisionismus vorbehalten, die sozialistische Theorie dadurch über den verknöcherten Marxismus fortzuentwickeln, dass er jene beiden bürgerlichen Gedankengänge, die dem Sozialismus entgegengehalten werden, in gleicher Weise akzeptiert und verficht, ohne sich darum zu kümmern, dass diese Auffassungen in schroffstem Gegensatz zueinanderstehen. Sie werden beide auf den Universitäten gelehrt, und darum – Respekt vor dieser Wissenschaft!
 

3. Die Übervölkerung der sozialistischen Gesellschaft

Die bisher von uns behandelten Bemerkungen Quessels sind nur akademischer Natur und bilden bloß die Einleitung zu seinem Hauptthema, das direkt die sozialistische Agitation berührt. Er wendet sich gegen den „kritiklosen“ „Optimismus“, dem Bebel und ich in der Bevölkerungsfrage frönen und führt gegen uns den Nachweis, dass die sozialistische Gesellschaft undurchführbar ist und dem schlimmsten Zusammenbruch entgegengeht, wenn wir nicht dem Anwachsen der Bevölkerung ein Ende machen. Sein Nachweis ist unwiderleglich, niederschmetternd, denn er ist ziffernmäßig geführt. Und Zahlen beweisen.

Bebel und ich behaupten, die sozialistische Produktionsweise werde unter Bedingungen vor sich gehen, die die Landwirtschaft aufs mächtigste fördern und ihre Produktivität gewaltig steigern, so dass ein sozialistisches Regime für viele Jahrzehnte hinaus vor jedem Nahrungsmangel gesichert sei, wie immer die Bevölkerung zunehmen mag. Die Bevölkerungsfrage ist also für uns nicht eine Frage, die uns heute schon zu bekümmern braucht. Wir können sie ruhig unseren Nachkommen überlassen.

Dagegen wendet sich Quessel. Er sucht nachzuweisen, dass die sozialistische Gesellschaft bereits bei ihrem Beginn aus Mangel an Grund und Boden nicht imstande sein wird, jedem eine menschenwürdige Existenz zu bieten. Und ich muss zugeben, dass seine Berechnung unantastbar ist, wenn – ja wenn man alle die Voraussetzungen als richtig annimmt, von denen er ausgeht.

Seine erste Voraussetzung ist die, dass die Sozialdemokratie in Deutschland nicht vor dem Jahre 2010 zur Herrschaft kommt. Nehmen wir ein früheres Datum an, so hat seine Berechnung bereits ein Loch. Nun ist es sicher unmöglich festzustellen, wann wir die politische Gewalt erobern werden. Aber sicher ist es, dass alle unsere Untersuchungen über die Möglichkeiten und Aussichten des Sozialismus einen Zweck nur unter der Voraussetzung haben, dass wir in absehbarer Zeit ans Ruder kommen. Sollen solche Untersuchungen nicht bloße müßige Phantastereien sein, so müssen sie einem praktischen Zwecke der Gegenwart dienen. In der Tat sind unsere Zukunftsspekulationen aus den praktischen Bedürfnissen der Gegenwartsagitation hervorgegangen. Unsere Gegner behaupten, unsere Partei könne nicht zur Herrschaft kommen und die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der arbeitenden Klassen einzurichten suchen, ohne unmögliche Zustände zu schaffen. Demgegenüber haben wir den Nachweis zu liefern, dass, wenn unsere Partei die Macht erobert, keinerlei Probleme daraus entstehen, die nicht mit den heute schon bekannten Mitteln zu lösen und besser zu lösen wären als in der kapitalistischen Gesellschaft. Dieser Nachweis kann nur in der Voraussetzung geführt werden, dass wir in absehbarer Zeit zur Macht kommen, denn welche Probleme nach hundert Jahren bestehen und auftauchen mögen und welche Mittel zu ihrer Lösung dann zur Verfügung stehen werden, davon haben wir nicht einmal die leiseste Ahnung. So können wir auch nicht wissen, welche Volkszahl Deutschland nach hundert Jahren haben, welches dann der Stand der Nahrungsmittelproduktion sein und welche Einsicht in die Bedingungen der menschlichen Fruchtbarkeit in dieser Zeit herrschen wird.

Das, was nach hundert Jahren sein wird, das geht uns also gar nichts an. Um was es sich bei unserer Agitation handelt, ist der Nachweis, dass wir heute schon in der Lage wären, Staat und Gesellschaft umzuformen, dass uns dazu nichts fehlt als die Macht, die zu gewinnen wir eben an die Bevölkerung appellieren, und die wir nur gewinnen können, wenn sie die Überzeugung erlangt, dass unser Regime heute schon ein Segen für sie wäre.

Wenn ich behaupte, dass ein sozialistisches Regime für viele Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert hinaus nicht von der Gefahr einer Übervölkerung bedroht sein wird, wie immer das sozialistische Bevölkerungsgesetz sich gestalten mag, so gehe ich dabei von der Voraussetzung aus, dass wir in absehbarer Zeit ans Ruder kommen. Sollte das nicht der Fall sein, sollten wir erst in hundert Jahren dies Ziel erreichen, so dürfen wir mit Sicherheit erwarten, dass die Bevölkerungsfrage inzwischen noch etlichemal von unseren Nachfolgern erörtert werden wird. Die werden dann den Vorteil haben, die Statistik ihrer Zeit benutzen zu können. Bei aller Hochachtung für Genossen Quessel darf ich doch annehmen, dass diese Statistik die Verhältnisse ihrer eigenen Zeit etwas genauer zeichnen wird, als die Statistik, die er heute für jene fernen Tage berechnet.

Wir haben aber auch gar keinen Grund, anzunehmen, dass wir erst nach hundert Jahren zum Sieg gelangen werden. Sollte es möglich sein, dass die Zuspitzung der Gegensätze noch ganze hundert Jahre lang so weiter geht wie bisher, das Wachstum der Teuerung, der Rüstungen, der Unternehmerverbände, und auf der anderen Seite das Wachstum des Proletariats, seiner Organisationen, aber auch seiner Erbitterung, ohne dass das Leben völlig unerträglich wird? Die Sozialdemokratie ist heute schon die stärkste Partei im Reich. Will man Zukunftsstatistik treiben, dann lässt sich leicht berechnen, dass sie binnen kurzem die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben kann, und da sollen wir annehmen, es werde noch ganze hundert Jahre dauern, bis wir zur Herrschaft kommen? Schon lange vorher müssen die politischen und sozialen Gegensätze eine Höhe erreicht haben, die ein Weiterleben auf der gegebenen Basis unmöglich und eine soziale Neuordnung unvermeidlich macht. Wer da meint, diese Neuordnung könne noch nicht der Sozialismus fein, wir seien noch nicht „reif“ dazu, der muss eine andere Lösung für möglich halten und heute anstreben. Das tut Quessel nicht und kann es nicht tun, denn heute gilt es eben nur noch die Alternative zwischen hochentwickeltem Kapitalismus und dem Programm der Sozialdemokratie. Zwischen beiden existiert nichts Lebensfähiges mehr.

Wir haben nicht die mindeste Ursache, diesem Programm seine Werbefähigkeit zu rauben, indem wir es als praktisches Programm bloß für unsere Urenkel betrachten.

Nachdem Genosse Quessel unseren Sieg in das Jahr 2010 versetzt, geht er dazu über, die Bevölkerungszahl zu berechnen, die Deutschland in diesem Jahre des Heils ausweisen wird. Er findet, sie werde nicht weniger als 200 Millionen ausmachen. Die Berechnung ist unwiderleglich, denn sie beruht, wie uns Quessel ausdrücklich versichert, auf der „amtlichen Bevölkerungsstatistik“.

Eine solche ist sicherlich mit größter Ehrfurcht entgegenzunehmen. Sie hat nur den einen kleinen Fehler, dass sie die amtliche Statistik von 1880 bis 1900 und nicht die von 2010 ist.

Nun darf man sicher aus der Entwicklung der Gegenwart Schlüsse auf die der Zukunft ziehen, aber doch nur dann, wenn anzunehmen ist, in der Zukunft werde die Entwicklung in derselben Richtung und in gleichem oder noch verstärktem Tempo vor sich gehen wie jetzt. Genosse Quessel nimmt das für die Bevölkerungszunahme des kommenden Jahrhunderts als selbstverständlich an, und doch hätte er nicht einmal als orthodoxer Malthusianer, der nur das gleiche Bevölkerungsgesetz in Natur und Gesellschaft kennt, Ursache dazu.

Hat er uns nicht auseinandergesetzt, dass die deutsche Landwirtschaft ihre Erträge an tierischen Produkten verdreifachen müsste, um die jetzige Bevölkerung ausreichend zu ernähren, und dass die größte Kindersterblichkeit die Folge davon ist? Und nun lässt er ohne jede Änderung der bestehenden Produktionsweise diese Bevölkerung sich mehr als verdreifachen.

Für uns Marxisten, die wir historische Bevölkerungsgesetze anerkennen, liegen wieder andere Gründe vor, die Quesselsche Statistik aus dem Jahre 2010 anzuzweifeln.

Wir finden, dass nicht bloß jede Produktionsweise ihr besonderes Bevölkerungsgesetz hat, sondern auch innerhalb einer Produktionsweise jede Phase derselben. So können wir auch innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise drei Perioden unterscheiden. Zur Widerlegung Quessels wäre es nicht notwendig, näher darauf einzugehen. Aber da mir diese Widerlegung Nebensache ist, bloß der Ausgangspunkt, um eine Reihe von Gedanken zu entwickeln, zu denen mich die verschiedenen Kritiken meines Buches angeregt, und da mir der Gegenstand bemerkenswert erscheint, seien diese drei Phasen hier kurz skizziert.

In den Anfängen des Kapitalismus finden wir die Volkszunahme erschwert durch die Schranken der Zunft und des bäuerlichen Eigentums, die den arbeitenden Klassen die Familiengründung erschweren. Gleichzeitig tritt aber in den verschiedensten Ländern eine fortschreitende Proletarisierung des Bauernvolkes ein. Das Proletariat wächst rasch, findet aber noch keine kapitalistische Industrie von nennenswertem Umfang, die es aussaugen könnte. Nichts bleibt ihm übrig als Bettel, Straßenraub oder Kriegsdienst zu Land oder zu Wasser. Familiengründung ist für Krieger und Räuber ausgeschlossen, andererseits ist die Sterblichkeit, die diese Berufe erleiden und verursachen, eine bedeutende.

Das Räuberunwesen und der Kampf dagegen bedeuten einen steten, oft sehr zerstörenden Bürgerkrieg. Gleichzeitig nehmen unter dem Einfluss der wachsenden Leichtigkeit, Söldner zu bekommen, die Kriege an Intensität und Dauer zu, gesellen sich zu den Landkriegen die Seekriege des Kolonialsystems. Andererseits zeitigt dieses die schöne Blüte der Seeräuberei, die den Straßenraub ergänzt.

Bei geringer Volksvermehrung bringt diese Periode, die ihre schärfste Ausprägung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert findet, ungeheuren Menschenverlust mit sich. Daher zeitweise völlige Verödung ganzer Reiche – Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege, Spanien –, überall ständige Entvölkerungsfurcht, ständiges Bemühen einsichtiger Politiker, die Vermehrung der Bevölkerung zu fördern. Hätte Malthus damals gelebt, er wäre ausgelacht worden. Oder vielmehr, er hätte das Gegenteil seiner späteren Lehre geschrieben, denn er besaß eine seine Nase dafür, was hohen Herren wohlgefällig war.

Das ändert sich, sobald sich die kapitalistische Industrie entwickelt und zu einer Massenerscheinung wird, die das ökonomische Leben beherrscht. Sie wirft die zünftigen Schranken nieder und beseitigt damit die Hemmnisse der Familiengründung für einen großen Teil der städtischen Bevölkerung. Sie erleichtert die Familiengründung dem Überschuss der ländlichen Bevölkerung. Sie bietet den wachsenden Massen des Proletariats eine Zuflucht, die, wie gesundheitsschädlich und degenerierend sie dort, wo sie uneingeschränkt herrscht, auch wirken mag, doch nicht so mörderisch und verwüstend auftritt wie Straßenraub und Krieg. Die Zahl der gewalttätigen Verbrecher im Lande nimmt mit wachsender Industrie ab, durch die das Proletariat immer mehr absorbiert wird; gleichzeitig wächst die Schwierigkeit, Söldner aufzutreiben, an Stelle freiwilliger Werbung tritt immer mehr der zwangsweise Kriegsdienst, bis schließlich zu allgemeiner Wehrpflicht gegriffen wird, die rein dynastische Kriege immer schwerer möglich, die Kriege selbst seltener und kürzer macht.

In England macht sich diese neue Phase zuerst geltend. Es hatte dank seiner insularen Lage keine feindlichen Invasionen auszuhalten; andererseits wurde es früher als das europäische Festland mit den Zunftschranken fertig, und es entwickelte früher als dieses eine kapitalistische Industrie für den Massenverbrauch. Es merkt zuerst die rasche Bevölkerungszunahme, die das Proletariat nun aufweist, gleichzeitig beginnt aber auch das industrielle Proletariat rebellischer zu werden als die disziplinierten Söldner, und dank seiner ökonomischen Unentbehrlichkeit politisch wichtiger wie das Lumpenproletariat. In der französischen Revolution sieht man zuerst, wie gefährlich jetzt das soziale Elend für den Staat und die besitzenden Klassen werden kann, wenn es den Massen als Produkt einer verkehrten Staats- und Gesellschaftsordnung erscheint. Daher der Malthusianismus, die Übervölkerungsfurcht, gepaart mit dem Streben, das soziale Elend dem „Naturgesetz“ der Übervölkerung in die Schuhe zu schieben.

Die große französische Revolution führt zum Zusammenbruch der Zunftschranken, zum Aufblühen der kapitalistischen Industrie auch auf dem Festland Europas, und nachdem die Kriege, die aus ihr hervorgegangen, zu einen, Gleichgewichtszustand geführt hatten, ersteht auf dessen Grundlage eine Ära langen europäischen Friedens, der nach einigen kurzen Zwischenspielen, die das Erbe der Revolution von 1848 liquidieren, seit 1871 (wenn man die Türkei nicht zu Europa rechnet) eine weitere Ära des Friedens auf unserem Erdteil folgt, die heute noch andauert.

In diesem Zeitraum nimmt zunächst in den kapitalistischen Staaten die Bevölkerung rasch zu. Nun sind wir aber in eine neue Epoche eingetreten, die ein anderes Gesicht aufweist.

Die Erwerbsarbeit der Frau dehnt sich schnell aus, damit die Überarbeit der Frauen, die teils natürliche Unfruchtbarkeit erzeugt, zum Teil den Wunsch der Frauen, nicht ihre Lasten durch reichen Kindersegen noch vermehrt zu sehen. Andererseits bewirkt die allgemeine Wehrpflicht in der Form des stehenden Heeres und noch mehr die stete Hinaufschraubung des Heiratsalters eine rasche Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Das Anwachsen der Großstädte wirkt in gleicher Richtung. Unter den Wohnungsbedingungen der Großstadt werden aber auch Kinder für ihre Eltern weit eher eine Last als im Dorfe, was wieder den Wunsch nach Einschränkung der Kinderzahl fördert. Gleichzeitig erwacht das Proletariat aus jenem gedankenlosen Vegetieren, das aus Mangel an Selbstvertrauen entspringt, es beginnt den Kampf für Verbesserung seines Loses in Politik und Gewerkschaft. Dabei sucht aber auch der einzelne auf eigene Faust seine Lage zu verbessern. Es schwindet das alte Gottvertrauen, das heißt die alte Gedankenlosigkeit, die alles, was kommt, als unvermeidlich hinnimmt, auch einen zahlreichen Nachwuchs an Kindern. Sowohl für das Aufkommen des einzelnen wie für die energische Führung des Klassenkampfes wird jetzt immer mehr und mehr überreicher Kindersegen als eine Last empfunden, namentlich von den Frauen, die nicht länger eine Gebärmaschine sein wollen.

Gesellt sich zu allen diesen Tendenzen eine medizinische Technik, die es erlaubt, ohne Gesundheitsschädigung und gewaltsame Eingriffe die Empfängnis zu verhüten, dann ist es nicht verwunderlich, wenn die Zahl der Geburten in den kapitalistischen Staaten immer mehr abnimmt.

Diese Tendenz ist jetzt allgemein anerkannt, sie ist nicht eine vorübergehende Erscheinung, sondern beruht auf Faktoren, die mit der kapitalistischen Produktionsweise zunehmen. Sollte Questel noch nichts davon wissen, so konnte er in meinem Buch gleich aus den ersten Seiten eine Reihe von Zahlen darüber finden, die die Geburtenabnahme deutlich bezeugen. Ich verweilte allerdings nur flüchtig dabei, weil ja die Tatsache unbestritten und allgemein bekannt ist. Will Genosse Questel noch weiteres Material haben, so findet er eine Fülle davon in den „Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland“ von Paul Mombert. [6]

Quessel berechnet auf Grund der „amtlichen Statistik“, dass die Bevölkerung Deutschlands nach hundert Jahren 200 Millionen ausmachen muss, wenn sie sich immer im gleichen Tempo vermehrt wie im Durchschnitt der Jahre 1881 bis 1900. Aber er vergisst, dass dieselbe amtliche Statistik eine rasche Abnahme dieses Tempos in der Zeit von 1876 anzeigt. Man zählte im Deutschen Reiche auf 10.000 Einwohner Geburten pro Jahr:

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1871 bis 1880

407

1876

426

1881 bis 1890

882

1891 bis 1900

874

1901 bis 1908

846

1909

318

Die „amtliche Statistik“, aus der Quessel seine Schlüsse für das Jahr 2010 zieht, ist also nicht einmal mehr für die Zeit bis 1910 gültig.

Dass trotzdem die Bevölkerungsziffer in diesem Zeitraum noch rasch zunahm, ist teils der Abnahme der Auswanderung, der Zunahme der Einwanderung zuzuschreiben, namentlich aber dem Rückgang der Sterblichkeit. Diese betrug pro 10.000 Einwohner 1872 noch 806, dagegen 1909 nur noch 181.

Seit 1900 geht jedoch die Zahl der Geburten rascher zurück als die der Sterbefälle. Der Überschuss der Geborenen über die Gestorbenen betrug 1901 pro 10.000 Einwohner noch 156, dagegen 1909 nur noch 138. Es ist einleuchtend, dass der Rückgang der Sterblichkeit seine natürlichen Grenzen hat, über die er nicht hinaus kann. Dagegen ist die Abnahme der Geburten, soweit sie eine Folge künstlicher Verhinderung der Empfängnis, an keinerlei natürliche Grenzen gebunden. Sie kann so weit fortgehen, dass sie zum Stillstand, ja zur Abnahme der Bevölkerung führt.

Anfangs haben die Ökonomen diesen Rückgang der Geburtenziffern freudig begrüßt, weil sie noch in den alten malthusianischen Vorstellungen befangen waren. Jetzt beginnen sie aber schon ernsthafte Befürchtungen deswegen zu hegen. Schon seit einigen Jahrzehnten in Frankreich, wo der Rückgang der Geburtenzahl bereits einige Jahre vor dem Kriege von 1870 einsetzte, jetzt auch in England, wo die Geburtenziffer seit den siebziger Jahren sinkt! In Frankreich betrug die jährliche Geburtenzahl auf 10.000 Köpfe 1861 bis 1865 267, 1907 nur noch 197; in England 1871 bis 1875 355, 1907 nur noch 263.

Französische Zustände in der Bevölkerungsbewegung find es, denen die kapitalistischen Staaten mit Riesenschritten entgegengehen. Quessel aber rechnet, dass die starke Volksvermehrung, die Deutschland um 1880 herum noch aufzuweisen hatte, ein ganzes Jahrhundert lang unvermindert fortgehen wird. Tut sie das nicht, dann erhält seine Pauke ihr zweites Loch.

Weiter. Quessel setzt nicht bloß voraus, dass bis 2010 die relative Zahl der Geburten unverändert bleibt, sondern auch, dass von dem ganzen Bevölkerungszuwachs niemand auswandert.

Wenn ich darauf hinwies, dass in einer sozialistischen Gesellschaft die Lebensmittelproduktion noch auf viele Jahrzehnte hinaus jeder möglichen Bevölkerungszunahme gewachsen sei, so sprach ich dabei von der Lebensmittelproduktion der Welt, nicht des Deutschen Reiches. Heute schon sind die Verkehrsmittel in einem Maße entwickelt, dass ganze Völkerwanderungen vor sich gehen. Quessel aber nimmt an, nach hundert Jahren werden sämtliche in Deutschland geborenen Deutschen hartnäckig an ihrer Scholle kleben bleiben, auch wenn einem Teil im Ausland bessere Existenzbedingungen winken, als sie nach Quessels Voraussetzung dann in der Heimat bestehen. Sind die Deutschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht so verbohrt, dann erhält Quessels Pauke ihr drittes Loch.

Aber nicht ihr letztes.

Zu den bisherigen Annahmen gesellt sich nun noch die, dass diese 200 Millionen, die den sozialistischen Zukunftsstaat einrichten, dies genau nach den Vorschriften tun, die Genosse Quessel im Verein mit einem Gartner und einer „in rationeller Kinderpflege erfahrenen Ärztin“ ausgearbeitet hat. Danach muss den Kindern jeder Familie ein besonderer Spielplatz im Ausmaß von einem halben Hektar eingeräumt werden. Wenn die Leute des einundzwanzigsten Jahrhunderts unvorsichtig genug sind, sich nicht an Quessels Gartner und Kinderärztin, sondern an die großen Sozialisten feit Bellers, Owen und Fourier zu halten und zu meinen, dass es ebenso im Interesse der Mütter wie der Kinder liegt, größere Scharm dieser sich aus gemeinsamen Spielplätzen herumtummeln zu lasten, erhält Quessels Pauke ein viertes großes Loch.

Nur dumpf noch tönt dies Instrument des Himmels. Aber wir sind grausam genug, ihm auch dieses Nestchen von Ton nicht zu lassen.

Quessel rechnet uns vor, dass im Jahre 2010 die dann vorhandenen 200 Millionen Menschen 50 Millionen Familien bilden werden, deren jede also aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern besteht. Das gibt 60 Millionen Wohnhäuser und Spielplätze, die 25 Millionen Hektar umfassen. Deutschland zählt aber nur 85 Millionen Hektar Kulturboden. Von denen blieben nur 10 Millionen für landwirtschaftliche Zwecke übrig. Wie sollte davon die nötige Nahrung gewonnen werden!

Quessel rechnet 50 Millionen Wohnhäuser, also 100 Millionen Erwachsene, und 50 Millionen Spielplätze für Kinder, also wohl 100 Millionen Kinder, die Spielplätze brauchen. Die ganze Nation besteht aus spielenden Kindern und deren Eltern. Alle anderen Altersklassen existieren nicht.

Nehmen wir aber an, dass 2010 ungefähr derselbe Altersaufbau der Bevölkerung bestehen wird wie 1900 – und darin wird sich nicht viel ändern können – und sehen wir uns die „amtliche“ Bevölkerungsstatistik des letzteren Jahres an.

Als das Alter, das Kinderspielplätze braucht, können wir das vom zweiten bis zum achten Lebensjahr ansehen. Kleinere Kinder brauchen noch keine. Größere brauchen keine mehr, ihnen bieten Wald und Feld genügend Spielraum, wenn einmal keine großen Städte mehr existieren, der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben ist. Nach der erwähnten Bevölkerungsstatistik nun machten die Kinder vom zweiten bis einschließlich zum achten Lebensjahr 17 Prozent der Bevölkerung aus. Das ergibt also bei einer Volkszahl von 200 Millionen nicht 100, sondern 34 Millionen. Und selbst wenn wir annehmen, dass die Leute des Zukunftsstaates die sonderbare Marotte haben werden, für je zwei Kinder einen besonderen Spielplatz von einem halben Hektar einzurichten, wie Quessel fordert, werden dafür nur etwas über 8 Millionen Hektar erfordert werden, nicht 25, und es bleiben nicht 10, sondern 27 Millionen Hektar Kulturboden für die Landwirtschaft übrig. Es genügt aber, dass sie auf die Idee kommen, statt 2 Kinder 20 Kinder auf einem Spielplatz von einem halben Hektar spielen zu lassen, und die Spielplätze erfordern nicht einmal mehr eine ganze Million Hektar, selbst bei einer Bevölkerung von 200 Millionen. Es bleiben dann immer noch mehr als 34 Millionen Hektar für die Landwirtschaft übrig, selbst wenn von den heutigen Mooren und Sümpfen keiner urbar gemacht wird.

Und damit zerspringt vollends das Fell der Quesselschen Pauke, so dass ihr kein Ton mehr zu entlocken ist.

Also ich gebe zu, dass sein statistischer Beweis gegen den Sozialismus unwiderleglich ist, wenn alle die folgenden Bedingungen ohne Ausnahme zutreffen: Wenn der Sozialismus erst 2010 siegt; wenn sich bis dahin in der biologischen Erkenntnis der Gesetze der Fruchtbarkeit wie in der Technik der Nahrungsmittelproduktion nichts ändert; wenn die Volksvermehrung ein ganzes Jahrhundert lang in derselben Schnelligkeit vor sich geht, wie in den Jahren von 1880 bis 1900; wenn die ganze in Deutschland geborene Bevölkerung um jeden Preis an der Scholle kleben bleibt; wenn diese Bevölkerung sich darauf versteift, für je zwei Kinder einen eigenen Spielplatz von einem halben Hektar einzurichten; und wenn endlich die ganze Hälfte der Bevölkerung nur aus spielenden Kindern besteht – dann, ja dann bedeutet der Sozialismus nichts als die Verwandlung Deutschlands in einen riesigen Kinderspielplatz. Dann ade Sozialismus, dann lassen wir alle Hoffnung auf seinen Sieg fahren.

Einstweilen aber wird man es uns schon gestatten müssen, das Eintreffen und Zusammentreffen aller der Vorbedingungen der Quesselschen Statistik für ebenso wahrscheinlich zu halten, wie etwa die Möglichkeit, die politische Ökonomie über Karl Marx hinaus durch eine Kindermädchenrechnung weiter zu entwickeln, die auf der gleichen Stufe steht wie die bekannte Milchmädchenrechnung.
 

4. Das Gesetz des abnehmenden Bodenertrags

Ebenso wie Quessel erkennt auch Maslov das Malthussche Gesetz für die Tierwelt an. Aber er leugnet es für die Menschheit. Das heißt, er leugnet nicht, dass diese sich unter allen Umständen, wo nicht Elend und Kriege sie dezimieren, in geometrischer Progression vermehrt, er leugnet nur, dass die Ausdehnung des Nahrungsspielraums dahinter zurückbleiben müsse. Er behauptet, der technische Fortschritt in der Nahrungsmittelproduktion müsse stets rascher fortschreiten als die Bevölkerungszunahme.

So kühn bin ich nicht. Ich behaupte bloß, dass die besonderen Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise den technischen Fortschritt der Landwirtschaft in der Theorie fördern, in der Praxis hemmen, dass sich zwischen beiden eine immer weitere Kluft auftut, die der Sozialismus überbrücken wird, der dadurch sowie durch die dichtere Besiedlung noch dünn bevölkerter Gebiete für das kommende Jahrhundert vor Nahrungsmangel geschützt wird. Aber sich hüte mich wohl davor, wie Maslov zu erklären: „Der Mensch besitzt die Möglichkeit, seine Nahrungsmittel bis ins Unendliche auszudehnen“, und die menschliche Gesellschaft besitzt die Möglichkeit, immer ihren Bedürfnissen entsprechend Nahrungsmittel zu beschaffen“.

Mir schwindelt bei diesen Sätzen. Maslov stellt sie mit größter Gemütsruhe auf, ohne auch nur eine Silbe zu ihrer Begründung vorzubringen. Oder glaubt Maslov etwa, es reiche aus, wenn er auf die nicht ganz unbekannte Tatsache hinweist, dass Menschen Werkzeuge und Maschinen zu erfinden vermögen?

So schweigsam er über den Kern seiner Auffassung der Bevölkerungsfrage bleibt, so redselig wird er, um eine Frage zu erörtern, die für diese Auffassung höchst nebensächlicher Natur ist: die Frage des abnehmenden Bodenertrags. Darunter versteht man die Lehre, dass der Ertrag des Bodens nicht in demselben Maße steigt, wie die auf ihn verwendete Arbeit, dass er also im Verhältnis zu dieser sinkt. Dass zum Beispiel 10 Arbeiter einen Ertrag von vielleicht 100 erzielen, 20 aber nur von 180, 30 nur von 240 usw.

Leider ist eine Verständigung darüber mit ihm nicht leicht, denn er polemisiert gegen mich, ohne von den Ausführungen meines Buches darüber das geringste zu beachten. Ich brauchte also einfach Maslov nur zu bitten, erst noch einmal aufmerksam das zu lesen, was ich geschrieben, ehe er dagegen zu Felde zieht.

Indes will ich doch versuchen, die Maslovschen Missverständnisse zu berichtigen.

Maslov bildet sich ein, ich verfechte, ähnlich wie Carey, ein Gesetz des zunehmenden Bodenertrags; ich sei der Ansicht, dass vermehrter Arbeitszusatz unter allen Umständen den Bodenertrag nicht bloß absolut, sondern auch relativ steigere.

In Wirklichkeit vertrete ich die Anschauung, dass zwischen Arbeitsaufwand und Größe der Fruchtbarkeit gar kein festes Verhältnis besteht, dass beide in den verschiedensten Richtungen wechseln können.

Zunächst ist unter Umständen eine Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktivität möglich ohne jeden Arbeits- oder Kapitalzusatz durch bloße Erweiterung unserer wissenschaftlichen Einsicht, zum Beispiel durch Anwendung besserer Sämereien, einer rationelleren Fruchtfolge, leistungsfähigeren Viehs, neuer Fütterungsmethoden, die jede Verschwendung vermeiden usw.

Dann aber hängt die Fruchtbarkeit zum Beispiel von einer bestimmten Bodenbeschaffenheit ab. Wie viel Arbeit erforderlich ist, um die nötige Bodenbeschaffenheit zu produzieren, das wird indes zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Bodenarten sehr verschieden sein. Ein bestimmtes Gesetz darüber aufzustellen ist ganz unmöglich. Die Produktivität eines bestimmten Bodens mag sich verdoppeln, wenn ihm eine bestimmte Menge Kalisalze zugeführt wird. Daran ändert sich gar nichts, ob nun das Kalisalz in der Nähe in offenem Tagbau gewonnen wird, also geringen Arbeitsaufwand erheischt, oder ob es aus den Tiefen der Erde mit großer Mühe geholt und dann noch einigetausend Kilometer weit zu dem Boden transportiert werden muss. Der Wert der Produkte wird davon abhängen, nicht aber ihre Menge.

Und das gleiche ist der Fall zum Beispiel mit der Wasserzufuhr. Die Ergiebigkeit eines Bodens hängt unter anderem auch von den Feuchtigkeitsmengen ab, die ihm zugeführt werden. Aber ob diese ohne jede Arbeit vom Himmel fallen oder einem vorbeifließenden Bache durch einfache Rinnsale entnommen oder aus großen, entfernten Staubecken auf langen Wasserleitungen zugeführt werden, das macht für die Fruchtbarkeit keinen Unterschied, Lässt sich also zwischen Arbeitsaufwand und Fruchtbarkeit kein bestimmtes Verhältnis festhalten, das unter allen Umständen eintritt, so kann man auch nicht sagen, dass ein vermehrter Arbeitsaufwand stets nur eine relativ verminderte Fruchtbarkeit Hervorrufen könne. Nehmen wir ein sehr nasses Grundstück, das, von zehn Arbeitern bearbeitet, nur geringe Ertrag liefert. Füge ich weitere zehn Arbeiter hinzu, die den Boden drainieren, so kann der Verdopplung der Arbeit eine Verdreifachung des Ertrags entsprechen. Versuche ich aber das gleiche bei einem anderen Grundstück, das schon von Natur aus vortrefflich gelüftet und entwässert ist, so wird die Drainierungsarbeit vielleicht nur einen kleinen Mehrertrag liefern, der in gar keinen: Verhältnis zum vermehrten Arbeitsaufwand steht. In diesem zweiten Falle könnte man von einen: abnehmenden Bodenertrag sprechen, aber es ginge nicht an, daraus ein allgemeines Gesetz zu machen.

In diesem Sinne lehne ich das Gesetz des abnehmenden Bodenertrags ab, nicht aber etwa in dem Sinne, dass ich leugnete, es kämen Erscheinungen des abnehmenden Bodenertrags vor. Sicher gibt es solche, aber sie berechtigen uns nicht, daraus den allgemeinen Schluss zu ziehen, dass die Zunahme der Bevölkerung stets eine Verringerung der Produktivität der landwirtschaftlichen Produktionsweise mit sich bringe. Diese Schlussfolgerung lehne ich ab, ebenso sehr aber auch die entgegengesetzte Annahme, die viele Gegner des Malthusianismus aufstellen, als gäbe es ein Gesetz des zunehmenden Bodenertrags, als erzeuge schon die bloße Zunahme der Bevölkerung eine Vermehrung der Produktivität der Landwirtschaft.

Maslov scheint aber anzunehmen, dass ich diesen Standpunkt vertrete, er scheint zu glauben, dass die Ablehnung des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag die Behauptung des notwendigerweise zunehmenden Bodenertrags in sich schließe. Denn er fragt mich einmal, warum sibirische Kosaken oder argentinische Kolonisten nicht zur intensivsten Kultur übergehen, „wenn dadurch die Produktivität der Arbeit nur erhöht werden könnte“.

Wir werden uns weiter unten noch mit dieser Frage beschäftigen. Hier bloß soviel, dass ich nie behauptet habe, die intensivere Kultur werfe unter allen Umständen im Verhältnis zur aufgewandten Arbeit einen höheren Ertrag ab als die weniger intensive. Ich wende mich aber allerdings gegen die Behauptung Maslovs, dass sie unter allen Umständen einen relativ geringeren Ertrag abwerfe, als die extensive Kultur.

Wir müssen zweierlei unterscheiden: vermehrten Arbeitsaufwand bei gleich bleibender Betriebsweise und Vermehrung des Arbeitsaufwandes bei Übergang zu einer höheren Betriebsweise.

Wenn wir nun die besonderen Arbeiten ansehen, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb zu leisten sind, so finden wir, dass jede Betriebsweise ein gewisses Maximum an besonderen Betriebsmitteln und besonderen Arbeiten er-heischt und von jedem Betriebsmittel und jeder Arbeitsart über dies Maximum hinaus weitere zusätzliche Betriebsmittel und Arbeiter mit Nutzen überhaupt nicht beschäftigen kann. Andererseits liefert sie aber auch nicht das Maximum dessen, was sie zu liefern vermag, wenn sie nicht über eine bestimmte Menge Arbeiter und Betriebsmittel verfügt. Jede landwirtschaftliche Betriebsweise erheischt also eine bestimmte Volksdichtigkeit; ehe diese erreicht ist, kann sie nicht ihre volle Produktivität entfalten, über ein bestimmtes Maß hinaus kann sie aber eine Volksmenge nicht ernähren, ist eine weitere Bevölkerungsvermehrung auf der gleichen Bodenfläche nur noch möglich, wenn die Bedingungen eines Übergangs zu höheren, produktiveren Betriebsmethoden gegeben sind.

Als Illustrierung der Tatsache, dass über ein gewisses Maß hinaus bestimmte Arbeiter und Betriebsmittel in einem Betrieb bei gegebener Betriebsweise mit Nutzen nicht anzuwenden sind, gebe ich einige drastische Beispiele: Wenn ein Pflug einen Mann erfordert, wird die Zugabe eines zweiten ganz nutzlos sein, nicht etwa einen abnehmenden, sondern gar keinen weiteren Bodenertrag erzielen. Genügen zwei Pflüge, so kann der Zusatz eines dritten gar nichts mehr verbessern. Ebenso haben Dünger und Viehfutter ihre Maximaldosen, über die hinaus weitere Gaben nutzlos sind, ja schädlich wirken können. [7] (S. 71).

Ich dachte, mich da klar genug ausgedrückt zu haben. Zu meinem Erstaunen hält mir jetzt Maslov diese Ausführungen vor, um zu beweisen, „dass Kautskys sich den Übergang von einem Wirtschaftssystem zu einem anderen ungenau vorstellt“, was mein Grundfehler hier sein soll. Um das zu beweisen, druckt er die eben erwähnten Ausführungen ab, jedoch nur bis zu dem Satz, der sagt, dass ein dritter Pflug nutzlos ist, wenn zwei genügen.

Hätte er weiter zitiert, so wäre er auf den Hinweis gestoßen, dass jede Kuh nur eine bestimmte Menge Futter fressen kann und was darüber ist, keinen Mehrertrag an Milch mehr liefere. Darin hätte er unmöglich die Vorstellung eines „Übergangs von einem Wirtschaftssystem zum anderen“ sehen können. Wie ungenau ihm auch meine Vorstellungen von einem solchen Übergang erscheinen mögen, er wird mir doch nicht die Vorstellung zumuten, man könne zu einer intensiveren Wirtschaft dadurch aufsteigen, dass man die Kühe überfüttert!

Ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren, als ich sah, wie Maslov mir mit ernster Miene auseinandersetzt, dass es sich „mit der landwirtschaftlichen Arbeit ganz anders verhält“.

Seine Beispiele beweisen gegen mich gar nichts. Oder wird meine Auffassung deshalb falsch, weil man den Ertrag des Ackers steigern kann, wenn man ihn nicht bloß einmal, sondern zwei- bis dreimal pflügt, mitunter bis fünfmal eggt? Beweist das, dass man auf einem bestimmten Acker über ein bestimmtes Maximum an Pflug- und Eggenarbeit beliebig hinausgehen und dadurch immer weitere, wenn auch relativ abnehmende Mehrerträge erzielen kann? Dass etwa der Ertrag noch weiterwächst, wenn man sechsmal pflügt und zehnmal eggt?

Was Maslov in diesem Zusammenhang weiter beschreibt, ist aber der Übergang von einer Betriebsweise zur anderen, von wilder Feldgraswirtschaft zur Dreifelderwirtschaft und Fruchtwechselwirtschaft. Das ist jedoch wieder eine Sache für sich.

Der Übergang von einer Betriebsweise zu einer anderen, höheren, bedeutet wohl eine höhere Produktivität entweder des Bodens oder der Arbeit oder beider, sonst würde er nicht vorgenommen, aber ein solcher Übergang ist nur unter bestimmten historischen Bedingungen möglich. Und ob und wie viel er zusätzliche Arbeit erheischt, das hängt auch wieder von besonderen Bedingungen ab, die sehr verschiedenartig sein können und die man in keine Schablone zu pressen vermag, weder die des zunehmenden noch die des abnehmenden Bodenertrags.

Maslov ist allerdings anderer Meinung. Er sagt:

„Wäre eine intensive Kultur vorteilhafter, so sehen wir nicht ein, warum diese nicht auch in dünn bevölkerten Gegenden eingeführt wird. Was hindert einen reichen Bauern oder Kosaken jenseits des Uralgebirges oder aus Nordsibirien oder den Kolonisten in Argentinien, die intensivste Kultur zu betreiben, wenn dadurch die Produktivität der Arbeit nur erhöht werden könnte?“

Er meint also, die genannten Landwirte blieben bloß deshalb bei der extensiven Kultur, weil diese produktiver. Nichts hindere sie, zu einer intensiveren Kultur überzugehen.

Aber ich habe schon darauf hingewiesen, dass jede Betriebsweise eine bestimmte Bevölkerungsdichte zur Voraussetzung hat. „Intensivste Kultur“ „in dünn bevölkerten Gegenden“ scheitert schon daran, dass sie mehr Arbeitskräfte erheischt, als diese liefern.

Ferner ist bei entwickelter Warenproduktion noch eine Kleinigkeit zu intensiverer Kultur erforderlich: Geld. Der Hausweber weiß sehr wohl, dass der Dampfwebstuhl weit produktiver ist als der Handwebstuhl; wenn er sich nicht des ersteren bemächtigt, sondern beim zweiten bleibt, beweist dies nur seine Armut und nicht seinen Glauben an die Überlegenheit des Handwebstuhls. Für die Bauern Sibiriens dürfte der Mangel am nötigen Kleingeld ein sehr wirksames Hindernis der Einführung intensiverer Wirtschaft sein. Auch die reicheren Bauern verfügen dort über wenig Bargeld.

Wären aber alle Bedingungen einer intensiveren Wirtschaft vorhanden, so brauchte diese noch immer nicht vorteilhaft zu sein, auch wenn sie produktiver ist. Nehmen wir einen Bauernhof, der mit 100 Arbeitstagen im Jahre 40 Zentner Getreide produziert. Ebenso viel verbrauche er. Bei dem gegebenen Zustand der Straßen sei keine Möglichkeit vorhanden, Getreide auszuführen und zu verkaufen. Nehmen wir weiter an, der Bauer könne durch Übergang zu intensiverer Kultur den Arbeitsertrag bedeutend steigern. Wenn er zu den 100 Arbeitstagen noch 50 Arbeitstage im Jahre mehr aufwendete, würden diese ebenso viel produzieren wie die ersten 100. Mit 150 Arbeitstagen könnte er 80 Zentner Getreide erzeugen. Würde der Bauer sich beeilen, zu dieser intensiveren Kultur überzugehen, die doch sicher erheblich produktiver wäre? Sicher nicht. Die zusätzlichen 50 Arbeitstage wären hinausgeworfen, weil er für das Mehrprodukt keinen Absatz fände. Er müsste es verfaulen lassen.

Der Übergang zu produktiverer Kultur setzt also auch eine Erweiterung des Bedarfes, des Marktes voraus. Das gilt ja ebenso für die Industrie. In einer mittelalterlichen Kleinstadt mit beschränktem lokalen Markt wäre eine moderne Spinnerei unmöglich gewesen, selbst wenn die moderne Technik schon erfunden und ihre Überlegenheit anerkannt war. Für den kleinen Absatz konnte nur das kleine Handwerk in Betracht kommen, trotz der relativ jämmerlichen Produktivität seiner Arbeit.

Das sind Gründe genug, den Kosaken in entlegenen Gegenden Sibiriens vom Übergang zu intensiverer Kultur abzuhalten, ohne dass daraus geschlossen werden muss, bei seiner Art zu wirtschaften sei die Arbeit produktiver.

Nach alledem komme ich für die Ausdehnung des Nahrungsspielraums zu einem Schlusse, der jenem entspricht, den ich in der Frage der Bevölkerungszunahme ziehe. Weder für die eine noch die andere Bewegung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gibt es ein „abstraktes“ Gesetz für alle Zeiten und Länder. Es gibt ebenso wenig ein Gesetz des stetig abnehmenden Bodenertrags wie ein Gesetz steten Übervölkerungsdranges. Aber auch ein Gesetz, das in entgegengesetzter Richtung ständig wirkt, wie viele Antimalthusianer meinen, gibt es nicht. Die Gesetze der Ausdehnung des Nahrungsspielraums müssen ebenso wie die der Volkszunahme für jede historische Epoche besonders erforscht werden.

Das habe ich auch für die kapitalistische Produktionsweise versucht und bin dabei zu dem Resultat gekommen, dass sie die Möglichkeiten wachsender Produktivität der Arbeit in der Landwirtschaft ebenso wie in der Industrie gewaltig steigert, gleichzeitig aber auch wachsende Hemmnisse der Verwirklichung dieser Möglichkeiten hervorruft, so dass der Gegensatz zwischen möglicher und wirklicher Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit immer größer wird.

Aus dem Wachstum dieses Gegensatzes, das vor unseren Augen vor sich geht, schließe ich, dass das Zeitalter des Sozialismus für lange hinaus die Nahrungsmittelmenge rapid zu steigern vermag, da in der sozialistischen Gesellschaft die Möglichkeit gegeben ist, alle die Hemmnisse zu beseitigen, die der Kapitalismus der Verwirklichung der heute schon bestehenden Möglichkeiten im landwirtschaftlichen Betrieb entgegensetzt. Also auf der Erforschung der besonderen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise beruhen meine Anschauungen von der Erweiterung des Nahrungsspielraums in der sozialistischen Gesellschaft, nicht auf phantastischen Erwartungen über mögliche Erfindungen der Zukunft, aber auch nicht auf einem optimistischen Naturgesetz eines mit wachsender Bevölkerung stets zunehmenden Bodenertrags.

Maslov braucht meinen Standpunkt nicht zu teilen, aber es wirkt etwas befremdend, wenn er meine Ausführungen über den abnehmenden Bodenertrag be mängelt, ohne diesen Standpunkt auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu widerlegen, und wenn er gegen mich zur Verteidigung seiner Lieblingstheorie [8] in einer Weise zu Felde zieht, als verträte ich das abstrakte Naturgesetz zunehmenden Bodenertrags.
 

5. Die Bodenerschöpfung

Nicht minder befremdend wie die theoretischen Einwände wirken die statistischen Zahlen, die mir Maslov entgegenhält. Einmal, weil sie, selbst wenn sie etwas bewiesen, nichts gegen mich, sondern nur etwas gegen das Gesetz zunehmenden Bodenertrags beweisen würden. Dann aber, weil sie überhaupt nichts beweisen.

Er hält mir folgende Tabelle entgegen:

 

Bevölkerungsdichte
pro
Quadratkilometer

Ernteertrag
in Pud Weizen
nach Abzug
der Aussaat
pro Desjatine

Getreidemenge
pro Kopf der
Bevölkerung
in Tonnen

Großbritannien

181   

124   

    0,15

Deutschland

112   

  77   

    0,4  

Frankreich

  78   

  70   

418     

Vereinigte Staaten

  10,8

  60,3

    1,16

Maslov fügt hinzu:

„Die angeführte Tabelle beweist also, dass mit der Zunahme der Bevölkerungsdichte die Bodenerträge steigen, dass aber die Produktivität der Arbeit gleichzeitig sinkt.“

Eine seltsame Tabelle, in der Kilometer und Desjatinen, Pud und Tonnen, Weizen und Getreide in sonderbarer Weise gemischt sind!

Dabei erscheinen mir die Zahlen durchaus nicht einwandfrei, wenn man sie mit den Zahlen vergleicht, die das englische landwirtschaftliche Amt für den Zeitraum von 1902 bis 1907 und das Statistische Jahrbuch des Deutschen Reichs für das Jahr 1908 geben. Stellen wir die englischen Zahlen des Weizenertrags mit den deutschen und den Maslovschen zusammen, dann erhalten wir folgende Tabelle:

 

Bushel
pro Acre

Tonnen
pro Hektar

Pud pro
Desjatine

Großbritannien

81,32

2,3

124   

Deutschland

29,69

2,0

  77   

Vereinigte Staaten

13,57

0,9

  80,3

Setzen an Stelle der absoluten Zahler: relative mit dem gleichen Ausgangspunkt, so finden wir

 

Englische Statistik
1902 bis 1907

Deutsche Statistik
1908

Maslovs
Statistik

Großbritannien

115

127

124

Deutschland

109

111

  77

Vereinigte Staaten

  50

  50

  60

Man sieht, die Zahlen, die Maslov, er gibt nicht an aus welcher Quelle, für Deutschland vorführt, bleiben hinter den gutbeglaubigten der letzten Jahre weit zurück.

Aber selbst wenn wir Maslovs Zahlen als richtig anerkennen wollten, bewiesen sie nichts. Vor allem ist zu bemerken, dass Unterschiede in der Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit nicht bloß aus Unterschieden der Betriebsweise, sondern auch aus solchen der natürlichen Fruchtbarkeit herrühren. Die Angabe der Getreidemengen pro Kopf oder pro Flächeneinheit lässt uns nicht im Geringsten erkennen, inwiefern die Unterschiede dem einen oder anderen Faktor zuzuschreiben sind.

So finden wir zum Beispiel zwischen Großbritannien und Irland folgendes Verhältnis:

 

Großbritannien

Irland

Bevölkerungsdichte pro Quadratkilometer

160

88

Ernteertrag des Weizens pro Acre [9]

31 Bushel

33 Bushel

Ernteertrag des Hafers pro Acre

39 Bushel

46 Bushel

In Irland ist die Betriebsweise sicher nicht eine vollkommenere, die Produktivität der Arbeit im Allgemeinen keine größere als in England. Der höhere Ertrag Irlands ist offenbar der größeren Fruchtbarkeit des Bodens zuzuschreiben. Das „Gesetz“, „dass mit der größeren Bevölkerungsdichte die Bodenerträge steigen“, wie Maslov sagt, wird im Verhältnis zwischen England und Irland in sein Gegenteil verwandelt.

Die eben gegebenen Zahlen zeigen aber auch, dass jede Fruchtart einen anderen Ertrag bei gleicher Betriebsweise abwirft. Die erzielte Getreidemenge hängt also nicht allein von der Produktivität der Arbeit und der Fruchtbarkeit des Bodens, sondern auch von dem Verhältnis ab, in dem die verschiedenen Getreidearten angebaut werden. So liefert der Mais zum Beispiel ein viel höheres Erträgnis als der Weizen, 1909 betrug in den Vereinigten Staaten der Ertrag pro Acre in Bushel bei Weizen 16, bei Mais 26. Mit Mais war aber dort mehr als doppelt so viel Boden bebaut wie mit Weizen: 109 Millionen Acres gegen 47 Millionen, würde das Verhältnis der Anbauflächen umgekehrt, so sänke die Gesamtmenge des Getreideertrags erheblich ohne die mindeste Veränderung der Produktivität der Arbeit. Während aber Mais in den Vereinigten Staaten in großen Massen gebaut wird, kommt er in England gar nicht zum Anbau.

Also ohne weiteres lassen sich die verschiedenen Verhältnisse gar nicht miteinander vergleichen.

Aber sind schon die Ernteerträge der verschiedenen Länder nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar, so lässt uns Maslovs Tabelle vollends im Stich, wenn sie zeigen soll, wie groß der landwirtschaftliche Arbeitsaufwand in den verschiedenen Ländern ist.

Genau genommen müsste die Tabelle erkennen lassen, wie bloße Verschiedenheiten des Arbeitsaufwands ohne Verschiedenheiten der Werkzeuge, Maschinen, Dünger usw. auf die Landwirtschaft wirken. Er führt sie ja vor, um zu zeigen, dass die Arbeitsproduktivität mit der Vermehrung der angewandten Arbeit sinkt, indes er zugibt, dass die Maschine die Produktivität der Arbeit steigert. Wo ist aus seiner Tabelle zu ersehen, dass die Verschiedenheiten der Ernteerträge nur Verschiedenheiten in der Menge der angewandten Arbeit und nicht Verschiedenheiten der angewandten Maschinerie entspringen? Ist es nicht bekannt, dass in Amerika die Maschinen in der Landwirtschaft eine weit größere Rolle spielen als in Deutschland oder Frankreich?

Am erstaunlichsten aber ist es, dass Maslov als Kriterium der Produktivität der Arbeit nicht das Verhältnis zwischen Landarbeitern und Erntemenge, sondern das zwischen dieser und der Gesamtbevölkerung annimmt!

Auch das Verhältnis zwischen Getreidemengen und Landarbeiterzahl wäre noch nicht entscheidend, da ja Getreidebau und Landwirtschaft nicht gleichbedeutend sind. So waren in Deutschland zum Beispiel 1909 nur 1.800.000 Hektar mit Weizen besät, in den Vereinigten Staaten dagegen 19 Millionen. Dagegen widmeten diese nur 1.400.000 Hektar dem Kartoffelbau, Deutschland dagegen mehr als das Doppelte, 3.300.000.

Aber geradezu ungeheuerlich ist es, die Produktivität der Arbeit aus dem Verhältnis zwischen Gesamtbevölkerung und erzielter Getreidemenge zu berechnen.

Nach der Zählung von 1901, der letzten, die uns zu Gebot steht, betrug in Großbritannien mit Irland die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen 2.109.812 bei einer Gesamtbevölkerung von 41.468.721, also 5 Prozent der letzteren. Im Deutschen Reich dagegen zählte man 1907 9.883.257 in der Landwirtschaft tätige Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 61.720.529. Hier machen also die Arbeitskräfte der Landwirtschaft 16 Prozent der Bevölkerung aus, über dreimal so viel als in England. Die produzierte Getreidemenge pro Kopf der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung beträgt in England fast 3 Tonnen, in Deutschland nur 2,5 Tonnen. Dagegen kommt nach Maslov auf den Kopf der Gesamtbevölkerung eine produzierte Getreidemenge von 0,15 Tonnen in England und 0,4 Tonnen in Deutschland. Nach Maslovs Maßstab wäre die landwirtschaftliche Arbeit in Deutschland mehr als doppelt so produktiv wie in England. In Wirklichkeit ist sie weniger produktiv. Setzen wir also statt der Gesamtbevölkerung die landwirtschaftliche Bevölkerung, wie sich’s gebührt, so purzelt die ganze Maslovsche Tabelle über den Haufen.

Die Tabelle ist für unsere Zwecke absolut wertlos. Damit möchte ich jedoch nicht behaupten, dass in den Vereinigten Staaten die landwirtschaftliche Arbeit nicht relativ ein höheres Produkt liefert als in Europa, aber Maslov irrt sehr, wenn er glaubt, damit werde die Überlegenheit des extensiven Betriebs bewiesen. Was in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten bisher herrschte, ist tatsächlich der intensivste Raubbau. Rücksichtslose Erschöpfung jungfräulichen Bodens, betrieben mit den modernsten und vollkommensten Maschinen. Die Maschinenanwendung ist in Amerika größer als in irgendeinem Land der Welt; dasselbe gilt auch von der Bodenaussaugung. Rasch wurde dem Boden von seinem Bearbeiter Ernte auf Ernte entzogen, ohne jegliche Düngung oder sonstige Verbesserung. Ließ die Fruchtbarkeit nach, dann zog es der Landmann vor, den Betrieb aufzugeben, weiterzuziehen und in anderer Gegend neuen, unerschöpften Boden in Angriff zu nehmen.

Eine derartige Wirtschaft liefert sicher größere Arbeitserträge als die Englands, Frankreichs, Deutschlands. Aber nicht wegen größerer Produktivität der Arbeit, sondern wegen Verschwendung der vorgefundenen Bodenschätze. Wenn Maslov diese Wirtschaft produktiver nennt als die Westeuropas, dann ist auch der Verschwender, der von seiner Million im Jahre Hunderttausende ausgibt, ohne etwas einzunehmen, produktiver als der Arbeiter, der einen Wert von 10.000 Mark im Jahre neu produziert, wovon 3.000 Mark Arbeitslohn. Der erste verausgabt 200.000 Mark im Jahre für seinen Konsum, der andere bloß 3000. Also ist die Wirtschaft des Ersteren produktiver!

Maslov fühlt selbst, dass der Raubbau in den Vergleich zwischen der Produktivität intensiver und extensiver Wirtschaft nicht hineingehört. Er sagt selbst:

„Jahrtausendelang wurde eine extensive Wirtschaft geführt, ohne dass darunter die Bodenerträge gelitten haben. Folglich führt die äußerst extensive Wirtschaftsweise, trotz der geringen Arbeitsaufwände, nicht zur Erschöpfung des Bodens.“

Er möge uns erst einmal eine derartig extensive Wirtschaft ohne Bodenerschöpfung zeigen und ihre Erträge mit denen einer westeuropäischen Wirtschaft vergleichen. Dann wollen wir weiter über die geringere Produktivkraft der intensiveren Wirtschaft reden.

Der amerikanische Raubbau beweist nichts für die Lehre vom abnehmenden Bodenertrag, aber er gehört zu jenen Erscheinungen, die es erklärlich machen, dass diese Lehre Annahme findet. Keine Lehre, und mag sie noch so falsch sein, ist völlig aus der Luft gegriffen. Jede stützt sich, auf wirkliche Beobachtungen, ihr Irrtum liegt nur darin, dass sie diese nicht im richtigen Zusammenhang sieht.
 

6. Die Teuerung der landwirtschaftlichen Produkte

Die Lehre vom abnehmenden Bodenertrag entsprang der Beobachtung des steten Wachsens der Preise landwirtschaftlicher Produkte während des achtzehnten Jahrhunderts in England. Dieses Wachsen erfährt im neunzehnten Jahrhundert zeitweise Unterbrechungen, die namentlich mit der Ausdehnung des Seeverkehrs und der Erschließung neuer überseeischer Lebensmittelquellen zusammenhängen, setzt aber nach diesen Unterbrechungen immer wieder ein. Seit einigen Jahren sind wir wieder in eine solche Periode des Steigens der Preise, der Teuerung, eingetreten, und damit gewinnt auch die Theorie vom abnehmenden Bodenertrag wieder an Bedeutung, die Lehre, dass in dem Maße, in dem die Bevölkerung zunimmt, die Produktivität der auf den Boden angewandten Arbeit naturnotwendig abnehmen muss.

In Wahrheit liegen die Wurzeln der Teuerung anderswo.

Drei große Gebiete landwirtschaftlicher Produktion kommen während der letzten Jahrzehnte in Europa für die Preisgestaltung der landwirtschaftlichen Produkte in erster Linie in Betracht: Amerika, Russland und die einheimische Landwirtschaft.

Amerika senkte den Preis der Lebensmittel im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, weil es plötzlich durch großartige Eisenbahnbauten riesige Flächen jungfräulichen und von niemand besessenen Bodens der Bebauung erschloss. Das Monopol des Privateigentums am Boden und damit jede absolute Grundrente war dort aufgehoben. Aber das Privateigentum am Boden blieb, es ward nicht ersetzt durch das Gemeineigentum, nicht durch eine Bodenbebauung, die das dauernde gesellschaftliche Interesse im Auge hatte. Die Landwirtschaft ward dort also nicht unter Bedingungen betrieben, die die stete Erhaltung der Fruchtbarkeit sicherten. Die Ausbeutung des Bodens blieb dem Unternehmungsgeist privater Warenproduzenten überlassen, die mit unerschöpflichen Reserven neuen Bodens rechneten. Daraus ging eine Raubwirtschaft hervor, die, weil sie maßlose und rücksichtslose Verschwendung bedeutete, allerdings mit ihrer Arbeit ein sehr großes Produkt zutage förderte.

Aber eine solche Wirtschaft kann nicht lange dauern, und sie ist jetzt zu Ende gelangt, weil die Reserven neuen Bodens, der noch von niemand okkupiert ist, aufhören. Dadurch erhält der Boden auch in den Getreideregionen Amerikas einen Monopolcharakter, der es den Grundbesitzern erlaubt, die Preise der Bodenprodukte über ihren Wert hinaus zu erhöhen, was umso leichter geht, je mehr diese Besitzer organisiert sind. Und in den letzten Jahrzehnten haben ja nicht bloß die Organisationen der Lohnarbeiter rapide Fortschritte gemacht, sondern auch die der Grundbesitzer ebenso wie die der Kapitalisten.

Gleichzeitig steigt aber auch der Wert der Bodenprodukte, weil ihre Produktionskosten wachsen. Das rührt nicht, wie Maslov weint, daher, dass intensive Produktion stets im Verhältnis zum Arbeitsaufwand geringeren Ertrag liefert als extensive, sondern daher, dass eine Betriebsweise relativ mehr Arbeit erheischt, die aus dem Boden nicht bloß Erträge herausholt, sondern auch ihm die entzogenen Stoffe wieder zuführt, um jenes Gleichgewicht zwischen Ausgabe und Einnahme aufrechtzuerhalten, ohne welches jede Landwirtschaft raschem Bankrott entgegengeht. Der dazu nötige Arbeitsaufwand ist umso größer, je rücksichtsloser vorher die Aussaugung des Bodens vor sich ging, je miserabler der Zustand, in dem er sich zur Zeit des Überganges zu rationeller Wirtschaft befindet.

Die Kosten der Produktion von Lebensmitteln und Rohmaterialien wachsen noch, wenn Kartelle und Eisenbahnmonopole die Arbeitsmittel und die Frachten verteuern.

Dies die Ursachen der Teuerung in Amerika und anscheinenden Abnahme seines Bodenertrags.

In Russland wieder wird Raubwirtschaft erzeugt durch die Anforderungen des Absolutismus, der dem Bauern alles erpresst oder erlistet – das Schnapfmonopol! –, was dieser über die bare Notdurft hinaus produziert. So verkommt seine Wirtschaft, sie verliert ihr Vieh, vermag nicht gehörig zu pflügen und zu düngen. Immer größerer Arbeitsaufwand wird nötig, ohne entsprechende Zunahme der Erträge. Um die Konkurrenz auf dem Weltmarkt aushalten zu können, verkauft der russische Bauer seine Produkte vielfach unter ihrem Wert. Gehen auf dem Weltmarkt die Preise in die Höhe, so erleichtert ihm das etwas seine Lage, aber ohne den Charakter seiner Wirtschaft im Wesentlichen zu ändern. Auch hier verteuern sich mit der fortschreitenden Verschlechterung des Bodens die Produktionsbedingungen.

In Westeuropa endlich war seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter dem Druck des amerikanischen Getreides, das geringen Wert hatte und mit keiner absoluten Rente belastet war, und des russischen Getreides, das unter seinem Werte verschleudert werden musste, der Preis des Getreides und anderer landwirtschaftlichen Produkte eine Zeitlang heruntergegangen. Die eben beschriebenen Wandlungen der Eigentums- und Produktionsbedingungen in Amerika und die fortschreitende Bodenverschlechterung in Russland trieben die Preise der Bodenprodukte auf dem Weltmarkt in die Höhe, stärkten dadurch wieder den Monopolcharakter des europäischen Grundbesitzes und erlaubten ihm, auch seinerseits die Preise seiner Produkte über ihren Wert hinauszuschrauben. Das geschah am leichtesten und meisten dort, wo der Staat den Grundbesitzern beisprang und ihr Monopol durch Förderung ihrer Organisationen und durch Schutzzölle noch künstlich verstärkte.

Der Arbeitsaufwand, den die Produkte erheischen, braucht bei dieser Wandlung dagegen in Westeuropa nicht zu wachsen. Die westeuropäische Landwirtschaft treibt nicht Raubbau, weder nach russischer noch nach amerikanischer Art, sie sorgt dafür, ihren Feldern dauernde Fruchtbarkeit zu erhalten, ja diese noch zu erhöhen; sie steigert ihre Erträge bei gleichbleibender und sogar abnehmender landwirtschaftlicher Bevölkerung.

Aber auch da gibt es einen Faktor, der die Tendenz hat, die Produktionskosten zu steigern. Dieser Faktor ist das Anwachsen der Städte. Ehedem lebte die Masse der Bevölkerung auf dem Lande. Es kostete keine Mühe, die Produkte ihres Stoffwechsels wieder dem Boden zuzuführen. Für die städtische Bevölkerung ist dies schwer möglich. Ihre Abgänge fließen entweder den Strömen zu, die dadurch verpestet werden, oder sie befruchten im günstigsten Falle nur ein paar tausend Hektar Rieselfelder. Der Landwirtschaft gehen alle diese Stoffe verloren.

Dieser Verlust steigert sich von Jahr zu Jahr, je mehr die Bevölkerung sich in den Städten konzentriert und je weniger der Landwirt von seinen Produkten selbst konsumiert, je mehr er davon an die städtische Bevölkerung verkauft. Trotzdem weiß er in Westeuropa bisher das Gleichgewicht zwischen Einnahme und Ausgabe zu erhalten, ja die Bodenfruchtbarkeit noch etwas zu erhöhen, aber mit stets steigenden Kosten. Diese Tendenz wird allerdings von Zeit zu Zeit durchbrochen durch die Fortschritte der Technik, die billigere oder ausgiebigere Dünger, vorteilhaftere Maschinen und Verfahren liefern, aber dadurch wird die erstere Tendenz nur abgeschwächt, nicht ausgehoben, und die Kartellierungen in Bergbau und Industrie, die Thomasmehl, Kalisalze, Maschinen usw. verteuern, wirken auch hier in stetigem Maße im Sinne einer Erhöhung der Produktionskosten.

Das sind die Ursachen der Teuerung, die sich seit einigen Jahren wieder bemerkbar macht – Ursachen, die nicht einem Naturgesetz des abnehmenden Bodenertrags, sondern den Gesetzen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung entspringen. Nicht durch die Zunahme der Bevölkerung wird sie erzeugt, sondern in letzter Linie durch das Privateigentum an Grund und Boden und die Gesetze der kapitalistischen Konzentration; Ursachen, die in ihrem Wirken noch verschärft werden durch die Organisationen der Kapitalisten und Grundbesitzer und durch die Schutzzölle.
 

7. Der Kampf gegen die Teuerung

Je mehr die Teuerung die Volksmassen erbittert, desto notwendiger wird es, sie aus diese Ursachen der Preissteigerung hinzuweisen, sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass nur der Sieg der Sozialdemokratie, nur die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, damit aber auch des Privateigentums am Boden jede Ursache von Teuerung und Not zu beseitigen vermag.

Sicher müssen wir im Kampf gegen die Teuerung jeder neuen Volksbelastung durch Militarismus und Steuern entgegengetreten, welche zu Mitteln werden, die schon bestehende Teuerung vollends unerträglich zu machen. Wir müssen uns auch gegen die agrarischen Schutzzölle mit aller Macht wenden, namentlich gegen die Getreidezölle, Denn diese sind der Angelpunkt des agrarischen Schutzsystems, wenn auch die Teuerung in den Fleischpreisen viel mehr zum Vorschein kommt als in den Brotpreisen. Wie man die Zölle auf Eisenfabrikate nicht aufheben kann ohne gleichzeitige Aufhebung der Eisenzölle, so kann man auch die Viehzölle nicht aufheben, solange die Getreidezölle fortbestehen, die die Produktionskosten des Viehes erhöhen. Sie bewirken das in doppelter Weise. Nicht nur steigen die Preise der Getreidearten, die das Vieh verzehrt, es steigt damit auch der Preis des gesamten Bodens, ohne Unterschied, ob darauf Getreide gebaut wird, und damit wachsen auch die Preise der anderen Futtermittel, zum Beispiel Klee und Heu.

Aber die Teuerung ist eine internationale Erscheinung. Einschränkung des Militarismus, Erleichterung der Steuerlast, Aufhebung der Schutzzölle können und werden sie mildern, nicht aber sie völlig beseitigen. Dazu ist unerlässlich vor allem die Aufhebung des Privateigentums am Boden.

Man erschrickt selbst in Parteikreisen manchmal vor der Propagierung dieser Forderung, da man fürchtet, dadurch die gesamte Bauernschaft gegen uns mobil zu machen. Aber ich glaube, es ist möglich, den Bauern diese Forderung eher noch plausibel zu machen, als die der Aufhebung des Schutzzolls.

Denn dieser bedeutet zunächst eine künstliche Erhöhung einer Einnahme, die freilich durch das Steigen der Bodenpreise schließlich wieder wettgemacht wird. Sind aber einmal die Bodenpreise gestiegen, dann bedroht den Grundbesitzer das Sinken der Lebensmittelpreise bei gleichbleibenden Eigentumsverhältnissen mit einem Einnahmeverlust.

Ganz anders die Verstaatlichung des Bodens.

Zunächst bedeutet sie selbstverständlich keine Konfiskation, sondern eine Ablösung, bei der kein Bauer etwas verlieren soll. Dann aber bedeutet sie auch gar nicht, dass der Bauer feinen Betrieb aufgibt. Es handelt sich ja um eine Maßregel gegen die Teuerung, also eine Maßregel zur Förderung der Lebensmittelproduktion. Das erheischt, dass die bisherigen Lebensmittelproduzenten ihre Betriebe weiterführen. Wer sollte denn an ihre Stelle treten?

Es ändert sich zunächst nichts, als dass die Bauern zu Staatspächtern werden.

Diejenigen, die bisher schon Pachter waren, können dabei nur gewinnen. Wie gesagt, soll der Boden verstaatlicht werden, um der Teuerung entgegenzuwirken. Das erfordert die möglichste Herabsetzung der landwirtschaftlichen Produktionskosten. Zu diesen herabsehbaren Kosten gehört auch die Grundrente, soweit sie absolute, nicht Differentialrente ist. [10] Der demokratische Staat, der im Interesse der Konsumenten den Boden verstaatlicht, wird die Pachtzinsen seiner Pächter so weit reduzieren, dass die absolute Rente ausfällt, bloß die Differentialrente übrig bleibt.

Das muss aber auch jenen Bauern zugutekommen, die bisher aus eigenem Boden wirtschafteten. Denn der Boden gehört nur scheinbar ihnen, in Wirklichkeit ihren Hypothekengläubigern. Die Verstaatlichung ihres Bodens bedeutet die Aufhebung ihrer Hypothekenschuld, die der Staat übernimmt. An Stelle der Hypothekenzinsen tritt der Pachtzins an den Staat. Da aber dieser Zins sehr niedrig bemessen wird, ist zu erwarten, dass er im Allgemeinen weniger ausmachen wird als der heutige Hypothekenzins. Die Höhe der Hypothekenverschuldung richtet sich ja nach dem Bodenpreis und dieser nach der Grundrente. Je höher diese, desto höher in der Regel auch die Verschuldung. Geht die Herabsetzung der Pachtzinsen so weit, dass sie die absolute Grundrente aufhebt, dann wird auch der heute verschuldete Bauer geringeren Pachtzins zahlen, als er jetzt Hypothekenzinsen zahlt. Wer aber deckt den Ausfall? Vollzieht sich die Verstaatlichung des Bodens nicht als Konfiskation, sondern als Ablösung, dann muss der Staat die Differenz decken, die zwischen den heutigen Pacht- und Hypothekenzinsen und den geringeren Pachtzinsen der Staatspächter eintritt. Es hängt dann vom Charakter des Staates ab, wer die Kosten dieser Differenz zu tragen hat. Da wir von der Voraussetzung eines demokratischen Staates ausgehen, in dem Proletarier und Bauern die große Mehrheit bilden, werden es offenbar die reichen Elemente sein, die man durch hohe progressive Einkommens- und Vermögenssteuern dazu heranzieht. Man mag das eine Konfiskation nennen, aber es wäre nicht eine Konfiskation bäuerlichen, sondern kapitalistischen Eigentums, eine Konfiskation, die ebenso den verschuldeten Bauern nützen müsste wie den Proletariern.

Für den verschuldeten Bauern ist die Bodenverstaatlichung nichts als die rationellste Form der Verstaatlichung und Reduzierung seiner Hypotheken. Solche Verstaatlichung wurde von bäuerlicher Seite schon oft gewünscht. Aber ihre Wirkungen wären nur vorübergehender und zweifelhafter Natur bei Aufrechterhaltung des Privateigentums am Boden. Dauernd und ohne störende Nebenwirkungen kann die Verstaatlichung und Reduzierung der Hypotheken dem Landwirt nur helfen bei Verstaatlichung des Bodens. Ich spreche hier nur von der Eigentumsfrage, die rasch zu lösen ist. Ohne jede Überstürzung und Gewaltsamkeit könnte die Verstaatlichung etwa in der Form vorgenommen werden, dass ein Vorkaufsrecht des Staates für jede Bodenfläche und jede Wirtschaft festgestellt wird, bei der ein Besitzwechsel eintritt – Zwangsverkauf, freiwilliger Verkauf, Vererbung. Die verschuldeten Bauern brauchten indes nur zu sehen, wie vorteilhaft die Verstaatlichung für sie wirkt, und sie würden sich massenhaft selbst dazu drängen. Bloß von den wohlhabenden wäre vielleicht Widerstreben zu erwarten.

Eine andere, schwierigere Frage als die der Verstaatlichung ist die der Förderung höherer Betriebsformen in der Landwirtschaft an Stelle der irrationalen Kleinbetriebe. Auch daran ist die landwirtschaftliche Bevölkerung aufs lebhafteste interessiert; dabei handelt es sich für sie um die Befreiung von der drückenden Arbeitsfron, die heute auf ihr lastet. Aber das kann nicht mit einem Schlag vor sich gehen, sondern nur allmählich.

Jetzt kommen zunächst nur jene Maßregeln in Betracht, die sich gegen die Teuerung richten, Maßregeln, die im Interesse der selbstarbeitenden Landwirte ebenso liegen wie in dem des Proletariats in Stadt und Land. Maßregeln, die die Sozialdemokratie heute schon durchzuführen vermöchte, wenn sie die nötige Macht besäße.

Mit diesem Gedanken die Massen vertraut zu machen, ihnen zu zeigen, dass die Sozialdemokratie, und nur sie allein, die Ursachen der Teuerung und des Notstands gründlich und rasch zu beseitigen vermochte, wenn sie am Staatsruder wäre; in einer Weise beseitigen, bei der nicht nur die Proletarier, sondern auch die verschuldeten Bauern gewonnen und nur die Kapitalisten und großen Grundbesitzer verloren; dass die Frage der Beseitigung von Not und Elend nur noch eine Frage der Macht ist – dies zu zeigen, darin besteht eine Hauptaufgabe der Agitation unserer Partei.

Diese Aufklärung wird nicht gefördert, wenn wir mit dem Sieg der Sozialdemokratie erst nach hundert Jahren rechnen, wenn wir den Arbeitern beweisen, dass ihre Notlage dem Wachstum der Bevölkerung und dem notwendig daraus hervorgehenden Abnehmen des Bodenertrags geschuldet ist.

So sind also diese Fragen für uns nicht bloße Doktorfragen; ihre Untersuchung hat eine große, praktische Bedeutung gerade für die brennendste Streitfrage unserer Zeit.

* * *

Anmerkungen

1. Karl Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf., 1910.

2. Ludwig Quessel, Karl Kautsky als Bevölkerungstheoretiker, Die neue Zeit, 29. Jg., 1. Bd. (Januar 1911), H. 16, S. 559–565.

3. Karl Marx, Das Kapital, I, 2. Auflage, S. 656. Ich habe den Wortlaut etwas nach der französischen Ausgabe modifiziert.

4. Gustav Eckstein, Zur Bevölkerungsfrage, Der Kampf, Jg. 3., 11. Heft 1. August 1910, S. 486–494.

5. Karl Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart: J. H. . Dietz Nachf., 1910, S. 158 und 173.

6. Paul Mombert, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit, Karlsruhe: G. Braun, 1907, 280 S.

7. Karl Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf., 1910, S. 71.

8. [Justus Freiherr von Liebig (1803–1873) was a German scientist who made major contributions to the theory, practice, and pedagogy of chemistry, as well as to agricultural and biological chemistry; he is considered one of the principal founders of organic chemistry. He has been described as the “father of the fertilizer industry” for his emphasis on nitrogen and minerals as essential plant nutrients.]

9. In Durchschnitt der zehn Jahre von 1896 bis 1905.

10. Die Unterschiede der beiden Rentenarten hier darzulegen, würde zu weit führen. Populär und kurz gesprochen kann man sagen, die Grundrente (und der ihr entsprechende Bodenpreis) ist Differentialrente, soweit sie der höheren Fruchtbarkeit des Bodens, über den schlechtesten hinaus, entspringt und sie zum Ausdruck bringt. Diese Rente ist umso höher, je fruchtbarer der Boden. Absolute Rente ist jener Teil der Grundrente und des Bodenpreises, der dem Monopolcharakter des Bodens entspringt. Die Differentialrente wächst, wenn die Verschiedenheiten der Fruchtbarkeit des Bodens wachsen. Die absolute Rente wächst, wenn der Monopolcharakter des Bodens zunimmt. Die wirkliche Rente setzt sich aus beiden Rentenarten zusammen. Die kapitalisierte Rente ist der Bodenpreis.


Zuletzt aktualisiert am 17. Juni 2025