Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


Vorwort


Nach den Diskussionen über den Massenstreik, die dem jüngsten Parteitag sein Gepräge gaben, wurde mir von befreundeter Seite der Wunsch ausgesprochen, ich möge meine älteren Artikel über den Massenstreik, die in der Neuen Zeit erschienen waren, den jüngeren Genossen durch einen Neudruck wieder zugänglich machen.

Daraufhin nahm ich mir jene Artikel wieder einmal vor und fand zu meiner Ueberraschung, daß sie an Aktualität nichts verloren hatten. Tatsächlich sind seit der russischen Revolution in der Frage des politischen Massenstreiks keine neuen Gesichtspunkte zutage getreten. Unsere Diskussionen seither haben uns nicht Fleck gebracht. Ja, mancher von uns hat vergessen, was wir schon vor einem Jahrzehnt und früher gewußt hatten.

An meinen früheren Artikeln fand ich nicht nur im allgemeinen, sondern auch in Details kaum etwas zu revidieren, wenn man absieht von den Erwartungen, die ich an die russische Revolution geknüpft. Diese erwiesen sich freilich als zu hoch gespannt. Es liegt eben im Wesen einer jeden revolutionären Bewegung, das Kraftbewußtsein und die Hoffnungen der Revolutionäre aufs höchste zu steigern.

Immerhin, trotzdem meine theoretische Stellung zum Massenstreik früher die gleiche war wie heute, entstammen meine alten Artikel einer anderen Situation als der heutigen, manches in ihnen hätte befremdet, wenn ich sie einfach abdruckte. Ich mußte sie entweder umarbeiten oder mit einem Kommentar versehen. Ich zog das letztere vor, da mir daran lag, zu zeigen, wie alt die verschiedenen Richtungen sind, die heute in der Diskussion des Massenstreiks aufeinanderstoßen.

Als Vorarbeit zu diesem Kommentar stellte ich die Aeußerungen über den Massenstreik zusammen, die vom Beginn seiner Erörterung au von deutschen Sozialdemokraten oder unter ihrer Mitwirkung an die Oeffentlichkeit gelangt waren und prinzipielle Bedeutung hatten – das heißt, alle Aeußer1mgen, soweit sie mir leicht zugänglich, in Artikeln der Neuen Zeit, in Broschüren, in Protokollen der Parteitage und der internationalen Kongresse niedergelegt waren. Von der Tagespresse sah ich ab.

Jene Aeußerungen trug ich zunächst nur zu meiner Selbstverständigmg als Grundlage meines Kommentars zusammen. Als sie mir vereinigt vorlagen, fand ich jedoch, daß eine Uebersicht darüber von großer Nützlichkeit nicht nur für mich, sondern für jeden wäre, der sich mit der Frage des Massenstreiks befaßt und erfahren will, in welcher Weise sich unsere Anschauungen darüber entwickelt haben. Diese Zusammenstellung herauszugeben, erschien mir noch weit zweckmäßiger als der bloße Neudruck meiner alten Artikel.

Was aber die Grundlage des Kommentars hätte bilden sollen, erforderte nun erst recht einen ausgedehnten Kommentar. So ist mir unter den Händen die vorliegende Schrift nach und nach angewachsen, sehr wider meinen Willen, da meine Zeit durch andere, dringende Arbeiten genügend besetzt war. Ist so meine Arbeit weit größer geworden, als ich ursprünglich beabsichtigte, so durfte ich sie unter den gegebenen Umständen doch nicht so weit ausdehnen, daß sie zu einer erschöpfenden Darstellung wurde. Die außerdeutsche Literatur über den politischen Massenstreik habe ich hier nicht dargestellt. Die deutsche ist ebenfalls, wie schon erwähnt, nicht vollständig benutzt, da die Tagespresse nicht herangezogen wurde. Auch bei der Geschichte der bisherigen Praxis des Massenstreiks habe ich mich aus einige Andeutungen beschränkt. Wer mehr darüber in der deutschen Parteiliteratur erfahren will, den verweise ich auf die Berichte in der Neuen Zeit und das Buch der Genossin Roland-Holst über: Generalstreik und Sozialdemokratie, von dem in meiner Arbeit noch gehandelt wird. Es reicht freilich nur bis zur russischen Revolution, deren Erfahrungen es auch in seiner zweiten Auflage, die zu Ende des Jahres 1905 erschien, nur unvollkommen verwerten konnte. Ueber die russische Revolution selbst orientieren uns verschiedene Schriften, unter denen die der Genossin Luxemburg über den Massenstreik, von der im folgenden noch die Rede sein wird, und die Tscherewanins: Das Proletariat und die russische Revolution, die beide Extreme darstellen, zwischen denen, wie mir dünkt, die Wahrheit in der Mitte liegt.

Die Entstehung der vorliegenden Schrift und ihr ursprünglicher Zweck rechtfertigt es wohl, daß meine eigenen Arbeiten hier ausführlicher wiedergegeben werden als die anderer; ausführlicher als am Platze wäre, wenn es sich, bloß und eine historische Darstellung des Werdens der Idee vom Massenstreik handelte.

Ich verfolge hier eben nicht einen, sondern drei Zwecke. Einmal die Neuausgabe meiner alten Artikel. Dann die Wiedergabe der wichtigsten Ausführungen in den Schriften und Reden deutscher Genossen, die in der Diskussion des Massenstreiks einen neuen Gesichtspunkt entwickeln oder eine Wendung anzeigen. Und endlich die Skizzierung der Wandlungen in den tatsächlichen Verhältnissen, durch die unsere Anschauungen vom Massenstreik gewandelt wurden.

Die Ausführungen letzterer Art sind in anderer Schrift gesetzt als die Wiedergabe älterer Publikationen. Wer diese Publikationen schon kennt, kann sie hier in ihrem Abdruck leicht überschlagen und die parteigeschichtlichen Partien allein lesen.

Andererseits habe ich das Inhaltsverzeichnis so gestaltet, daß meine Schrift auch als Nachschlagewerk benutzt werden kann in Fällen, wo es gilt, die Haltung einzelner Genossen oder einzelner Kongresse in der Frage des Massenstreiks festzustellen.

So hoffe ich, meinem Buche eine Gestalt gegeben zu haben, in der es jedem Genossen, der künftighin an einer Diskussion über den Massenstreik teilnehmen will, viele Arbeit erspart und manche vergessene Erkenntnis neu erschließt. Diese Diskussion zum Abschluß zu bringen, wird mir freilich, nicht gelingen. Das will ich auch gar nicht erreichen. Man kann heute noch sagen, was ich am Schluß meiner Vorrede zum Buch der Genossin Roland-Holst über den Generalstreik im Juli 1905 aussprach:

„Die Diskussion über den Massenstreik abzuschließen, ist ganz unmöglich einer Kampfmethode gegenüber, deren Praxis erst begonnen hat, und die uns ... jeden Tag neue Aufschlüsse bringt und neue Gesichtspunkte eröffnet.“

Das wurde zwar unter dem Eindruck der russischen Revolution geschrieben, gilt aber auch heute noch. Der Massenstreik bildet immer noch den meist umstrittenen Punkt unserer Taktik und er wird es bleiben so lange, bis entweder seine Stunde schlägt oder unsere Kraft so überwältigend wächst, daß er überflüssig wird.

Ich bin zufrieden, wenn man von meiner Schrift dasselbe sagen kann, was ich 1905 von dem Buch der Genossin Roland-Holst mit Recht erwartete, als ich es mit den Worten einleitete:

„Es wird ... die Diskussion auf ein höheres Niveau erheben und sie fruchtbringend gestalten.“

 

Berlin, Februar 1914
Karl Kautsky


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011