Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


1. Die Anfänge des politischen Massenstreiks


Der Streik, die einmütige Verweigerung der Arbeit durch eine Anzahl Lohnarbeiter, ist die ihrer Klasse eigentümliche Waffe. Wo es Lohnarbeiter gibt, gibt es auch Streiks. Wir finden solche schon im alten Aegypten. Bei den Handwerksgesellen des Mittelalters und der neueren Zeit spielten sie eilte große Rolle. Von ihnen hat sie das moderne Proletariat übernommen.

Sie sind seine schärfste Waffe, aber keineswegs ein unfehlbares Zwangsmittel. Wohl ist es richtig, daß die Ausbeuter des Proletariats von seiner Arbeit leben, ohne sie nicht existieren können. Aber von derselben Arbeit leben auch die Proletarier selbst, sie können die Kapitalisten durch Arbeitsverweigerung nicht aushungern, ohne sich selbst auszuhungern. und dabei hat der Kapitalist die Aussicht, länger auszuhalten als der Arbeiter. Seine Klassenlage beruht ja darauf, daß er über Kapital verfügt, über Geld, mit dem er Produktions- und Lebensmittel kaufen kann, indes der Arbeiter erst durch den Verkauf seiner Arbeitskraft zu Ge1d und Lebensmitteln kommt.

Indes, wenn der Streik auch kein unfehlbares Zwangsmittel ist, so kann er doch ein sehr erhebliches Uebel für den Kapitalisten werden. Ob er unter dem Druck des Streiks den Arbeitern nachgibt, hängt davon ab, ob die Bewilligung ihrer Forderungen ihm als das kleinere Uebel erscheint.

In den Anfängen der proletarischen Bewegung gehen die Streiks der Arbeiter in der Regel verloren, auch dann, wenn sie nicht von den Behörden unterdrückt werden. Und doch wiederholen sie sich immer wieder, wenigstens dort, wo die neue Fabrikindustrie große Arbeitermassen in einigen Zentren zusammenballt, aus ihren alten Verhältnissen herausreißt und in neue versetzt, die noch unerträglicher sind als die alten, und um so revoltierender wirken, je mehr sie der Macht der Gewohnheit entbehren. Mögen die Streiks auch verloren gehen! Die Arbeiter verlieren dadurch nichts, sie müssen streiken, es ist die einzige Form des Protestes, die einzige Form der Betätigung als freie Menschen, die ihnen übrig bleibt und die sie moralisch hebt, selbst wenn sie ohne materielle Erfolge bleibt.

Doch die Situation bessert sich für die Arbeiter, sobald sie sich gewerkschaftlich organisieren. Solange ihnen eine Organisation fehlt, treten sie zu gemeinsamem Handeln nur dann zusammen, wenn irgendein starker Anstoß sie alle gleichzeitig erregt. Es ist großenteils Sache des Zufalls, ob dieser Anstoß gerade in eine Zeit fällt, in der für die Arbeiter ein Erfolg möglich ist. Oft fehlt da auch den Streikenden die richtige Einsicht bei der Aufstellung ihrer Forderungen, und selbst wenn sie etwas erreichen, geht es leicht wieder verloren, sobald der Anstoß aufhört, der die Arbeiter vereinigt.

Alles das ändert sich zugunsten der Arbeiter, sobald sie zu einer Vereinigung zusammentreten, die über die Zeit des Arbeitskampfes hinaus bestehen bleibt und ständig die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmarkt überwacht.

Durch die Gewerkschaft werden die Lohnbewegungen nicht nur .plaumäßiger und sachkundiger und dadurch ihre Erfolge größer, es wird auch jeder Erfolg nun zu einem dauernden.

Dazu kommt die große Verstärkung der Arbeiter gegenüber den Kapitalisten, daß sie nun in die Lage kommen, über Fonds zu verfügen. Der Rat liberaler Sozialreformer, die Arbeiter sollten sparen, um Kapitalisten zu werden, war Unsinn. Aber damit ist nicht jedes Sparen der Arbeiter verurteilt. Sie können nichts Zweckmäßigeres tun, als sparen, und ihre Kriegskasse zu füllen.

Wir sehen von den sonstigen Vorteilen ab, die die Gewerkschaften den Arbeitern bieten. Doch sonderbar, je stärker sie werden, je mehr sie die Lage der Arbeiter verbessern, um so vorsichtiger werden sie bei jeder Streikbewegung – aber freilich, um so gewaltiger und zäher wird der Kampf, wenn es einmal zu einem solchen kommt. Das heißt, sonderbar erscheint es nur auf den ersten Blick, daß mit der wachsenden Stärke der Organisation nicht auch ihre Lust, jeden Kampf aufzunehmen, in gleichem Maße zunimmt. Wenn man näher zusieht, ist diese Erscheinung ganz natürlich. Die Organisationen haben jetzt etwas zu verlieren: die Errungenschaften, die sie bisher den Unternehmern abgetrotzt, den Kriegsschatz, auf dem ein gut Teil ihrer Kampfesfähigkeit beruht, und endlich, und das ist das wichtigste, das Vertrauen ihrer Mitglieder.

Wie immer aber der Streik sich gestalten mag, ob organisiert oder unorganisiert, zunächst hat er nur ökonomischen Charakter. Es ist ein Kampf der Arbeiter gegen den 1mteruehmer. Der Gegensatz zwischen ihnen ist ein rein ökonomischer. Rein ökonomische Forderungen bilden den Kampfpreis. Daran ändert sich nichts, auch wem der Kampf nicht mit einem einzelnen Unternehmer, sondern mit einer ganzen Gruppe ausgefochten wird.

Indes auch hier kann schließlich die Quantität in die Qualität umschlagen. Eine Streikbewegung kann eine solche Ausdehnung und Bedeutung gewinnen, daß sie ein neben nicht bloß für die Beteiligten, sondern für die ganze Gesellschaft wird und dadurch den Staat zum Einschreiten auffordert. Damit bekommt sie einen politischen Charakter.

Der kann mm auch wieder von zweierlei Art sein.

Die Streikbewegung kann ihrem Ziele nach eine ökonomische bleiben, aber ihre Wirkungen werden politische. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn etwa ein Bergarbeiterstreik zur Erringung des Achtstundentages zwar die Grubenbesitzer kalt läßt, dagegen das ganze ökonomische Leben so schädigt, daß es die gesetzgebenden Faktoren für das kleinere Uebel halten, wenn sie den Grubenbesitzern den Achtstundentag gesetzlich aufzwingen, den diese freiwillig nicht gewähren wollen.

Das ist eine Art des Streiks, die in dem Maße an Bedeutung zunehmen dürfte, in dem die Unternehmerverbände an Macht wachsen. Doch kann man sie nicht einen politischen Streik im eigentlichen Sinne des Wortes nennen. Als solcher ist nur jener zu bezeichnen, der auf die Gesetzgebung nicht um einer ökonomischen, sondern um einer politischen Wirkung willen einen Druck auszuüben sucht, vor allem der Streik zur Gewinnung oder zum Schutz eines politischen Rechts. Nur mit dem politischen Streik dieser Art haben wir es hier zu tun.

Er ist von vornherein nur als Massenstreik denkbar. Bloß dort kann er in Frage kommen, wo das Proletariat einen energischen Kampf um ein politisches Ziel führt, dessen Erreichung seine große Mehrheit als Lebensnotwendigkeit erkennt und nur dort, wo das industrielle Proletariat bereits für das ökonomische Leben, nicht bloß einzelner Industriezweige, sondern der ganzen Nation, entscheidende Bedeutung gewonnen hat, wo es in großen Massen in den Industriezentren konzentriert und daran gewöhnt ist, den Streik als wirksame Waffe zu gebrauchen.

Der politische Streik selbst kann wieder verschiedene Formen annehmen. Er kann ein bloßer Proteststreik sein oder ein sogenannter Demonstrationsstreik. Diese wollen nur eine moralische Wirkung erzielen, dauern nur kurze Zeit, mitunter nur einen Tag, und können auf kleine Gebiete im Lande, oft auf eine einzelne Stadt beschränkt sein.

Anderer Art ist der politische Zwangs- oder Pressionsstreik, auch Kampfstreik genannt, der so wie ein ökonomischer Streik 0nsbricht, um die Gewährung einer bestimmten Forderung dnrchzusetzeu oder um eine bestimmte proletarierfeindliche Maßregel zu verhindern. Er kann also, wie der ökonomische Streik, ein Angriffs- oder Abwehrstreik sein. Seine Dauer ist unbestimmt, umfaßt meist eine längere Periode. Er endet, wie auch ein ökonomischer Streik, mit einem Sieg, einer Niederlage oder einem Vergleich. Er kann ebenfalls, so wie dieser, unter Umständen unentschieden abgebrochen werden, was aber in der Regel wie eine Niederlage wirken wird.

Wenn man an den politischen Massenstreik denkt, hat man vorwiegend die letztere Art, den Zwangsstreik, im Auge. auch im folgenden ist stets dieser verstanden, wenn vom Massenstreik ohne nähere Kennzeichnung gesprochen wird.

Politische Massenstreiks traten schon früh in der Arbeiterbewegung, wenigstens Englands, auf, das lange vor den anderen Staaten eine starke und konzentrierte Fabrikbevölkerung aufwies. Im Anfang der Bewegung, in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, geht es dabei noch etwas bunt durcheinander. Die einzelnen Streikarten treten keineswegs streng gesondert auf. Diese Sonderung ist erst das Werk einer langen Entwickelung, die eine Arbeitsteilung in der Arbeiterbewegung herbeiführte, ökonomischen und politischen Kampf, ökonomische und politische Organisationen trotz ihrer inneren Zusammengehörigkeit trennte, und auch innerhalb der einzelnen Organisationen mit wachsender Erfahrung eine methodische Untersuchung, Sonderung und Anwendung der einzelnen Kampfmittel, über die sie verfügen, herbeiführte. So wird auch die Streiktaktik der Gewerkschaften den besonderem Verhältnissen der einzelnen Gewerbe und Situationen angepaßt.

Der großartigste politische Massenstreik der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war der von 1842. Die Löhne der Arbeiter Englands waren aufs tiefste gesunken; was sie noch aufrecht hielt, war ein erbitterter Kampf ums allgemeine Wahlrecht. In dieser Situation gewann der Gedanke eines Massenstreiks rasch an Boden. Schon 1839 war der Generalstreik, der „heilige Monat“ propagiert worden, doch kam es damals nur zu einem umfassenden Demonstrationsstreik am 12. August. Im Augnst 1842 aber verbreitete sich der Streik mit Blitzesschnelle, fast vollständige Arbeitsruhe über das ganze nördliche Industriegebiet Englands wurde erreicht. Zunächst galt der Streik, der ganz spontan ausbrach, nur der Erhöhung der Löhne, als er aber solche Ausbreitung fand, wurde ihm ein politisches Ziel gegeben, die „Volkscharter“, das heißt ein demokratisches Wahlrecht. Doch alle Begeisterung half nichts. Es fehlten Fonds zur Unterstützung der Feiernden und es fehlte eine zentralisierte Organisation, die sie hätte leiten können. Diejenigen, die durch das Vertrauen der Arbeiter als ihre Führer in Betracht kamen, waren uneinig. Daher erreichte der Streik nichts. So wie er ohne festes Ziel und sichere Leitung begonnen hatte, hörte er durch allmähliches Abbröckeln einzelner Arbeiterschichten von der vierten Woche an auf, bis Ende September auch die letzte Streikbewegung erloschen war.

Die Rache der Bourgeoisie für die Angst, die sie ausgestanden, tobte sich nun in den wüstesten Verfolgungee aus. Noch schlimmer aber war die Erschütterung des Vertrauens der Arbeitermassen Englands zum Chartismus, diesen Vorläufer der Sozialdemokratie, das nie wieder völlig wiederhergestellt wurde. Wohl erlebte der Chartismus noch einmal einen kurzen Aufschwung 1847, jedoch nach neuerlichem Versagen 1848 hörte er für immer als Massenbewegung auf.

Diese Erfahrung war nicht geeignet, für den politischen Massenstreik einzunehmen. Als sich in Europa anfangs der sechziger Jahre die Demokratie von den Schlägen der Reaktion, die nach 1848 hereingebracht war, wieder erholte und nun die Arbeiterbewegung mit neuer Kraft lind auf höherer Stufe wieder einsetzte, da wollte die junge Sozialdemokratie vom politischen Massenstreik nichts wissen. Ihre Abneigung wurde noch vermehrt dadurch, daß sich jetzt die Anarchisten des Gedankens bemächtigten.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011