Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


16. Der Kongreß von Amsterdam
Der Streik in Italien


Die Artikelserie Allerhand Revolutionäres erschien im Februar und März 1904. Die darin niedergelegten Idee bilden bis heute die Richtschnur meiner Haltung in der Frage des Massenstreiks. Ich habe an jenen Ausführungen trotz aller neuen Erfahrungen und Auffassungen im wesentlichen nichts zu ändern.

Nur in einem Punkte drückte ich mich vielleicht zu absolut aus. Ich bemerkte, daß ein politischer Zwangsmassenstreik nur dann alle zu seinem Erfolg erheischten Arbeiter, namentlich die Transportarbeiter, fortreißen werde, wenn er verspreche, zu einem Umsturz des ganzen Regierungssystems zu führen; das ist auch jetzt noch meine Meinung; aber ich sagte zu viel, wenn ich solchen Umsturz der Erringung der politischer Macht durch das Proletariat gleichsetzte. Ich ging hierbei von den besonderen Verhältnissen Deutschlands aus. Bei uns kann, davon bin ich fest überzeugt, das bestehende Regierungssystem nur noch durch ein proletarisches überwunden werden, für ein bürgerlich-demokratisches fehlen bei uns alle Vorbedingungen. Aber dasselbe braucht nicht in allen Staaten der Fall zu sein. In diesem Punkte würde ich mich heute also weniger unbedingt aussprechen.

Das ist aber auch alles, was ich nicht so sehr an meinem Standpunkt, als an meiner Ausdrucksweise von 1904 zu korrigieren fände.

Ich habe übrigens diese Korrekturen schon bald nach denen Artikeln, im Jahre 1905, wie wir noch sehen werden, vorgenommen. Meine Artikel waren damals bestimmt, ein Präludium für die Verhandlungen des internationalen Kongresses von Amsterdam zu bilden, auf dessen Tagesordnung, wie schon erwähnt, der Generalstreik stand.

Die Kommission des Kongresses, der im August 1904 tagte, nahm mit 36 gegen bloß 4 Stimmen folgende Resolution an, die dem Plenum vorgelegt wurde:

„In Erwägung, daß die notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines Massenstreiks eine starke Organisation und die freiwillige Disziplin der Arbeiterschaft ist, hält der Kongreß den absoluten Generalstreik in dem Sinne, daß alle Arbeit zu einem gegebenen Zeitpunkt niedergelegt wird, für unausführbar, weil ein derartiger Streik jede Existenz, also auch die des Proletariats unmöglich machen würde. In weiterer Erwägung, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse nicht das Resultat einer derartigen plötzlichen Kraftanstrengung sein kann, daß es aber wohl möglich ist, daß ein Streik, der sich über einzelne, für die Wirtschaftsleben wichtige Betriebszweige oder über eine große Anzahl Betriebe ausdehnt, ein äußerstes Mittel sein kann, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen, warnt der Kongreß der Arbeiter davor, sich durch die von anarchistischer Seite betriebene Propaganda für den Generalstreik davon abhalten zu lassen, den ünerläßlichen und bedeutungsvollen täglichen Kleinkampf durch die gewerkschaftliche, politische und genossenschaftliche Aktion zu führen, und fordert sie auf, ihre Einigkeit und Machtstellung im Klassenkampf durch Entwicklung ihrer Organisationen zu stärken, weil das Gelingen des politischen Streiks von deren Kraft abhängen würde, wenn er sich eines Tages als nötig und nützlich herausstellen sollte.“

Das ist genau derselbe Gedankengang, den elf Jahre vorher mein Resolutionsvorschlag auf dem Internationalen Kongreß von Zürich verfolgt hatte. Jetzt wurde dieser Gedankengang fast von der gesamten Internationale akzeptiert. Herrn Briand freilich war sie nicht radikal genug. Er trat für eine Resolution der Allemanisten ein, die erklärte, „die Waffe des Generalstreiks“ sei „das wirksamste Mittel zum Triumph der Arbeiterforderungen sowie zur Sicherung der politischen Rechte“, und in „jeder scharfen Krise“ wende sich „das Bewußtsein der Arbeiter dem Generalstreik zu“. Ferner forderte diese Resolution „alle auf dem Kongreß vertretenen Nationen zum Studium der rationellen und methodischen Organisierung des internationalen Generalstreiks auf, der zwar nicht das einzige Mittel der Revolution, aber doch eine Waffe im Befreiungskampfe ist, die kein bewußter Sozialist das Recht hat zu verkennen oder herabzusetzen“.

Für diese Resolution stimmten bloß ein Teil der französischen Delegation sowie die russischen Sozialrevolutionäre, die Schweiz und Japan.

Kaum waren die Amsterdamer Verhandlungen vorbei, da brach ein neuer Massenstreik aus, im September. Diesmal in Italien. Auch das war wieder ein eigenartiger Streik unter eigenartigen Bedingungen und zu eigenartigen Zwecken. Es war ein Proteststreik, ein rein spontaner, ganz unorganisierter Streik, oder vielmehr, eben weil nicht organisiert, eine „Anzahl lokaler, neben- und nacheinander stattfindender Streiks, die nur durch das moralische Band der gleichen mächtigen Erregung verknüpft waren“. (Roland-Holst)

Eine Reihe polizeilicher Arbeitermetzleien hatte schließlich die Arbeiter Italiens in einem Maße empört, daß sie sich wie mit einem Schlage zur Einstellung der Arbeit erhoben, als am 15. September die Nachricht eintraf, die Polizisten hätten schon wieder auf Arbeiter geschossen und zwei getötet. Zuerst stellten sie die Arbeit in Monza und Mailand ein, Genua, Rom, die anderen Städte folgten.

Wohl griff sofort der Parteivorstand ein, billigte den Ausstand und empfahl seine breiteste Ausdehnung. Aber der Streik selbst verhinderte die Verbreitung des Aufrufs. Die Streikbewegung war also in keiner Weise organisiert, sie war, wie Oda Olberg schrieb, „so chaotisch, so überwältigend, daß sie in allen, die sie durchlebten, den Eindruck eines Elementarereignisses hervorrief, das lawinenhaft über uns fortrollte“. (Neue Zeit, XXIII., 1, S. 19)

Sie war aber nur ein Ausbruch der Empörung, stellte keine Forderungen auf und endete nach wenigen Tagen von selbst, ohne etwas erreicht zu haben, aber auch ohne Niederlage, gerade deshalb, weil sie keine bestimmte Forderung erhoben hatte. Die einzige sichtbare Folge des Streiks waren zahlreiche schwere Verurteilungen einzelner „Exzedenten“ durch die Gerichte.

Giolitti hatte wohl versprochen, die bewaffnete Macht solle bei wirtschaftlichen Konflikten nicht mehr aufgeboten werden, aber diesen Erfolg schätzte Oda Olberg mit Recht gleich Null ein:

„Giolittis Versprechungen als solche scheinen mir eine kümmerliche Bürgschaft. Was hat der gute Mann nicht schon alles versprochen! Er ist kein Spezialist im Einlösen, wir haben das so oft erfahren, daß wir kein Recht haben, es zu vergessen.

Der Streik hat für das Proletariat nur das gefruchtet, was es täglich erobern kann, indem es ihn wiederholt. Nicht, daß Giolitti versprochen hat, gegen den Mißbrauch der Waffen – was übrigens ist ihm Mißbrauch? – aufzutreten, nicht das ist eine Errungenschaft, sondern daß das Proletariat, in Verteidigung seines Rechts auf Sicherstellung der Gewalt, jederzeit die Massen zu Hunderttausenden aus den Fabriken und von den Feldern, aus den Bergwerken und von den Bauten wegrufen kann. Enrico Leone sagt mit Recht im Avanti, daß es das Wichtigste und Wesentlichste an dem Streik ist, daß er sich wiederholen kann.“

Indes erwartete Oda Olberg selbst nicht seine rasche Wiederholung:

„In der Wiener Arbeiterzeitung vom 22. September finden wir die Besorgnis ausgesprochen, daß die Einschätzung des Generalstreiks als einer „regulären Waffe“ die Phantasie der Masse ablenken könne von der „täglichen, schweren, unscheinbaren Organisationsarbeit“. Ja, eine reguläre, bei jedem größeren Anlaß aus der Scheide zu ziehende Waffe daraus zu machen, davor sollte man sich allerdings hüten. Die ungeheuren Opfer, die jeder Generalstreik für alle, die ihn beschließen müssen, mit sich bringt, scheint mir der beste Schutz gegen willkürlichen, frivolen Gebrauch. Für die höchste Tat, für die Verteidigung der heiligsten Rechte soll man ihn aber bereit halten, und da wir mit absoluter Sicherheit wissen, daß diese höchste Not wiederkehren, daß man diese heiligsten Rechte antasten wird, so dürfen wir, so müssen mir den Generalstreik diskutieren und vorbereiten. Er ist nicht so zart, daß er durch die Diskussion abgegriffen würde, und wir sind auch nicht so dumm, daß wir bei der Besprechung der Vorbereitungen unsere Betriebsgeheimnisse ausplauderten.

Was heißt denn überhaupt, einen Generalstreik vorbereiten? Das heißt, die Massen organisieren. Und zwar ist die gründlichste, am tiefsten sozialistische, die am breitesten angelegte Organisation gerade gut genug.“

Also auch hier führt der Massenstreik zur Erkenntnis, er sei nur als äußerstes Mittel in höchster Not anwendbar, und auch hier klingt das Bedürfnis nach seiner Vorbereitung in den Ruf aus: Organisiert Euch!

Mit der raschen Wiederholung des Generalstreiks hatte es aber in Italien seine guten Wege! Wieder in einem September, im Jahre 1911, wurde ein solcher nötig, als Protest gegen den Einfall in Tripolis. Doch diesmal war er nur ein schwächliches Spiegelbild der großartigen Bewegung von 1904. Die Masse ist eben unberechenbar, und ihre Empfindungen fallen nicht notwendig mit den Ergebnissen der Reflexionen der überlegenden Sozialisten zusammen.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011