Karl Kautsky

Der politische Massenstreik


24. Der Weg zur Macht


Als die russische Revolution unter dem Triumphgeheul aller Feinde des Proletariats zusammenbrach, da hofften diese wieder einmal, jede Revolution sei für immer begraben. Aber derselbe Faktor, der die Befestigung der Reaktion in Rußland erlaubte, der russische Landwirtschaft und den russischen Finanzen zu Hilfe kam, machte in Westeuropa jenen Verhältnissen ein Ende, die dem Revisionismus einen Boden bereitet hatten. Das Steigen der Preise der Nahrungsmittel nahm gerade seit der Zeit des Niedergangs der russischen Revolution ein Tempo an, das zu einer ständigen und stets wachsenden Teuerung führte. Der Fortschritt der Lebenshaltung kam zum Stillstand, nachdem er seit Mitte der neunziger Jahre durch die Gewerkschaften ein rasches Tempo erreicht hatte. Diese selbst wurden in die Defensive gedrängt: die Erhöhung der Geldlöhne, die sie errangen, wurde weit geringfügiger als früher und war meist nicht imstande, die Erhöhung der Lebensmittelpreise zu überbieten. Sie blieb vielfach dahinter zurück. Noch schlimmer erging es natürlich den unorganisierten Arbeitern.

Die Gewerkschaften verloren also keineswegs an Bedeutung für die Arbeiterschaft. Aber die Illusion hörte immer mehr auf, daß die gewerkschaftliche Aktion für sich allein imstande sei, den Arbeitern dauernd eine befriedigende Stellung in der kapitalistischen Welt zu erringen. Die Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht trat wieder in den Vordergrund.

In gleicher Richtung wirkte die enorme Konzentration des Kapitals, die weit mehr noch als durch die statistisch erfaßbare Vergrößerung der Betriebe durch deren Zusammenfassung bewirkt wurde, nicht nur durch Kartelle und Trusts, sondern auch durch die Großbanken. Für das große Kapital wurden dadurch die Gefahren und Schädigungen der Krisen bedeutend herabgemindert, gleichzeitig aber auch den Arbeitern die Möglichkeit immer mehr erschwert, Zeiten der Prosperität zu erheblicher Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen auszunutzen.

Immer erbitterter wird jetzt die Stimmung der Arbeiter, immer schroffer werden die Klassengegensätze.

Derselbe Faktor, der die russische Revolution herbeigeführt hatte, der Sieg der Japaner, brachte aber auch den ganzen Orient in Aufruhr, revolutionierte die Türkei, Persien, China, verstärkte die Unruhe in Aegypten und Indien und verschärfte die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Großstaaten, die sich bereits als Herren und Erben jener orientalischen Staaten fühlten und sich darauf rüsteten, den Streit um die Erbschaft zu führen. Die Rüstungen vermehren den Steuerdruck, die Erbitterung der Massen. Die ewige Unruhe des Orients beschwört aber auch immer wieder neue Situationen herauf, in denen die Interessen seiner kapitalistischen Ausbeuter und Herren gegensätzlich aufeinanderstoßen und die Gefahr eines Weltkriegs in beängstigende Nähe tritt. Welche Konsequenzen ein großer Krieg in Europa heute für den unterliegenden Teil in sich birgt, hat bereits die Pariser Kommune von 1870 und die jüngste russische Revolution gezeigt. Indes selbst für die siegreiche Regierung kann er verhängnisvoll werden, wenn der Siegespreis den Opfern des Ringens nicht entspricht. Der russisch-türkische Krieg förderte seit 1877 mächtig die revolutionäre Bewegung in Rußland.

Diesmal aber würden die Kriegsfolgen in weit vorgeschrittenen industriellen Staaten mit einer hochentwickelten und kraftvoll organisierten, in jahrzehntelangen parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kämpfen geschulten Arbeiterschaft eintreten – da müßten die Resultate ganz andere sein, als ehedem: nicht nur ein vorübergehender revolutionäre Aufschwung, dem Zusammenbruch und Konterrevolution folgt, sondern die Eroberung einer dauernden Basis für den raschesten Ansturm des Proletariats gegen die ganze kapitalistische Herrlichkeit, wenn nicht schon deren sofortige Ersetzung durch ein proletarisches Regime.

Unter diesen Umständen müssen wir wieder mit der Möglichkeit des Eintritts revolutionärer Situationen rechnen, also auch mit der Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines politischen Massenstreiks auch in Deutschland, wo in normalen Zeiten die Bedingungen für ihn höchst ungünstig liegen.

Diese Auffassung entwickelte ich im Oktober 1908 in einer Polemik mit Maurenbrecher in der Neuen Zeit, die ich dann erweitert als besondere Schrift unter dem Titel Der Weg zur Macht herausgab.

Was ich damals erwartet, ist seitdem vollständig eingetroffen. Die Teuerung rebelliert immer mehr die Gemüter der Arbeiter, die Unternehmerverbände knechten sie immer rücksichtsloser, der Aufstieg der Arbeiterklasse kommt ins Stocken, Wettrüsten und Steuerdruck wachsen und beginnen selbst in den besitzenden Klassen Proteste auszulösen. Der Weltkrieg ist freilich noch nicht da, aber die Kriegsgefahr will in den letzten Jahren nicht mehr schwinden, und wir hätten sicher schon längst den Krieg, bestünde nicht die Furcht vor der Sozialdemokratie. Ob der Krieg kommt, das ist heute zum großen Teil eine Frage der Macht der Sozialdemokratie.

Da aber der Krieg heute gleichbedeutend ist mit der Revolution, so haben wir die paradoxe Lage, daß die rascheste Erstarkung der revolutionären Partei am ehesten die Revolution hinausschiebt. Freilich kann dadurch bloß die eine Form der Revolution verhindert werden, jene, die wir am wenigsten wünschen: unser Sieg auf Trümmern: ein Sieg, der uns als erste Aufgabe statt der Ueberführung der privaten Schätze des Kapitalismus in den Besitz der Gemeinschaft und die Befruchtung gesellschaftlicher Produktion dadurch die Heilung des aus tausend Kriegswunden blutenden Volkskörpers auferlegte. Lieber sehen wir unseren Sieg für einige Jahre hinausgeschoben, als daß wir ihn unter solchen Bedingungen und um solchen Preis wünschen.

Doch unsere Wünsche entscheiden nicht den Gang der tatsächlichen Entwickelung.

Wie immer sich unter diesen Umständen die nächste Zukunft gestalten mag, die Gegenwart bringt offenbar eine stete Erschwerung und Verschlechterung der Lage der arbeitenden Klassen, was vorübergehend hier und da Mutlosigkeit in ihnen erzeugen kann, auf die Dauer überall verstärkten revolutionären Drang in ihnen auslöst.


Zuletzt aktualisiert am: 10.9.2011