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Wir haben gesehen, daß der moderne Staat, die moderne Demokratie – im Gegensatz zur primitiven – und die moderne, auf der Gemeinsamkeit der Schriftsprache basierende Nationalität sowie das Streben nach dem Nationalstaat alle aus derselben Wurzel entspringen, dem modernen Verkehrswesen, einem der wichtigsten und wesentlichsten Faktoren der kapitalistischen Produktionsweise. Wir haben weiter gesehen, daß das Streben nach dem Nationalstaat ebenso wie das nach staatlicher Demokratie sich nicht unterdrücken läßt, da es in den Verhältnissen tief begründet ist, daß es das politische Leben unserer Zeit beherrscht. Dabei zeigte sich’s jedoch, daß das eine wie das andere Streben auf große Hindernisse stößt, so daß man sie innerhalb des kapitalistischen Staates zu den Idealen zählen kann, denen man sich ununterbrochen zu nähern sucht und die man nie vollständig erreicht.
Dabei besteht aber ein großer Unterschied zwischen dem Streben nach Demokratie und dem nach dem Nationalstaat. Der proletarische Sieg bringt dem ersteren vollständige Erfüllung, indes er das letztere zum großen Teil gegenstandslos macht, da er den Charakter des Staates als Herrschaftsinstitution aufhebt. Und schon in der heutigen Gesellschaft unterscheiden sich beide Bestrebungen darin, daß das Streben nach Demokratie in allen modernen Staaten, unter allen Bedingungen austritt und nur an den Machtverhältnissen der Klassen eine Schranke findet, indes das Streben nach dem Nationalstaat nicht unter allen Bedingungen auftritt und nicht bloß durch Machtverhältnisse, sondern auch durch andere natürliche und historische Bedingungen gehemmt werden kann.
Allgemein ist allerdings das Streben nach Selbstbestimmung der Nationalitäten. Für das Proletariat aber hat das Interesse der Nationalität nur so weit Bedeutung, als es zusammenfällt mit dem Interesse der Demokratie.
Als zweckmäßiges Mittel, der Demokratie und der Selbstbestimmung der Nationen Geltung zu verschaffen, kommt nur das Erstarken und der schließliche Sieg der demokratischen Volksmassen und in diesem Sinne die Revolution für den internationalen Sozialismus in Betracht. Nicht aber der Krieg, der heute nur ein Krieg bürgerlicher Machthaber sein kann. Ein solcher dient stets anderen Zwecken als der Befreiung unterdrückter Nationen. Sie kann höchstens sein Nebenresultat bilden, wird im besten Falle unvollkommen sein und droht, da sie nur auf dem Rechte des Stärkeren beruht, mit neuen Verletzungen der Selbständigkeit der Nationen verbunden zu sein, die unter Umständen schlimmer sind als das übel, dem sie abhelfen sollen.
Insofern hat die Sozialdemokratie keine Kriegsziele. Sie befürwortet keinen Krieg, sie befürwortet aber auch keine Verlängerung eines einmal ausgebrochenen Krieges zu Zwecken nationaler Befreiung.
Die internationale Sozialdemokratie hat keine Ziele, die sie durch das Mittel des Krieges zu erreichen sucht. Sie hat im Kriege nur Stellung zu nehmen zu den Kriegszielen der anderen. Verwirft sie auch unter allen Umständen das Mittel des Krieges, so bedeutet das nicht, daß sie allen seinen Zielen gleich ablehnend gegenübersteht. Manche davon können mit ihren Grundsätzen vereinbar sein, andere nicht.
So sucht sie nicht die Befreiung der Nationen durch das Mittel des Krieges herbeizuführen. Sollte aber der Krieg zur Befreiung einer Nation führen, wird sie sich dagegen keineswegs wehren, sondern es willkommen heißen.
Die Befreiung einer Nationalität oder eines ihrer Teile bedeutet keineswegs notwendigerweise, daß man der Nationalität einen eigenen Nationalstaat gewährt oder einen vom Nationalstaat abgetrennten Nationsteil ihm angliedert. Es kann natürliche oder historische Bedingungen geben, die diese Veränderung für die davon betroffene Bevölkerung zu einem Nachteil gestalten und von ihr abgelehnt werden. Wohltaten darf man aber bekanntlich nicht aufdringen. So widerstrebt es auch den Grundsätzen der Demokratie, die Bevölkerung eines Gebiets gegen ihren Willen zu „befreien“. Eine derartige Befreiung wird stets als gewalttätige Annexion empfunden werden, auch wenn die „befreite“ Bevölkerung die Sprache des sie annektierenden und befreienden Staates spricht.
Also nicht die bloße Sprachenkarte hat zu entscheiden, ob die internationale Sozialdemokratie einer Grenzveränderung zustimmen kann, sondern nur der Wille der betroffenen Bevölkerung.
Kein Gebiet soll gegen den Willen seiner Bevölkerung gezwungen werden, seine staatliche Zugehörigkeit zu ändern.
Das ist ein absolutes Gebot internationaler Demokratie. Die Völker sollen aufhören, Schafherden zu sein, über die die Machthaber nach Belieben verfügen.
Doch kommt dieser Grundsatz nicht allein für uns in Betracht. Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß die Völker nicht bloß durch die Sprache zusammengehalten werden, sondern auch durch historische und natürliche Verhältnisse. Die Naturbedingungen schaffen mitunter ein einheitliches Verkehrsgebiet, von dem sich ein Teil nicht losreißen läßt, ohne den Produktionsprozeß im gesamten Gebiet zu hemmen und seine ganze arbeitende Bevölkerung schwer zu schädigen. In einem solchen Falle müßte die internationale Sozialdemokratie die Grenzveränderung bekämpfen, selbst wenn sie dem Willen der Bevölkerung des abzulösenden Teils entspräche.
Das sind die zwei Gesichtspunkte, die vom Standpunkt des internationalen Sozialismus bei der Beurteilung angestrebter Grenzveränderungen in Betracht kommen. Wir müssen einmal fragen, ob die Bevölkerung des betroffenen Gebiets damit einverstanden ist, und dann, ob es für den Fortgang des Produktionsprozesses und damit für die arbeitende Bevölkerung des Staates, dem das Gebiet bisher zugehörte, entbehrlich ist oder nicht. Das Bedürfnis der Machthaber, ihren Machtbereich unverkürzt zu erhalten, kommt für uns natürlich nicht in Betracht.
Wie aber den Willen der betroffenen Bevölkerung feststellen? Dafür gibt es bloß ein Mittel, man befragt sie. Man hat dieses Mittel verdächtigt, weil es von Napoleon III. für seine dynastischen Zwecke ausgebeutet worden war, aber ein anderes Mittel, den Willen der Bevölkerung zu erkunden, ist nicht genannt worden und kann nicht genannt werden. Wer es ablehnt und doch Grenzveränderungen fordert oder rechtfertigt, redet der bloßen Eroberungspolitik das Wort.
Daß Napoleon es ausnutzte, beweist noch nichts; er wußte auch das allgemeine Wahlrecht auszunutzen.
So wie dieses kann auch die Volksabstimmung zu verschiedenen Zeiten sehr Verschiedenes bedeuten.
Die Volksabstimmung, nicht in der Gemeinde, sondern im Staat, wird um so verständnisvoller und richtiger ausfallen, je mehr die Bedingungen der modernen Demokratie gegeben sind. Wo die Bevölkerung noch aus Analphabeten besteht, keine Post, keine Eisenbahnen sie in Verkehr miteinander bringen, keine Zeitungen sie über das Geschehen der Welt auf dem laufenden halten, da wird sie neuen staatlichen Problemen verständnislos gegenüberstehen und ihre Abstimmung Sache des Zufalls oder schlauer Leitung sein.
Andererseits wird auch in einer entwickelten Demokratie die Gesetzgebung und die Kontrolle der Regierung nie durch Volksabstimmungen, sondern stets nur durch Parlamente besorgt werden. Die Volksabstimmung kann bloß den unerläßlichen äußeren Druck auf das Parlament in ein System bringen.
Aber bei der Abstimmung über eine Annexion handelt es sich nicht um ein kompliziertes Gesetz, sondern um einen klaren Sachverhalt, der jedermann ohne weiteres klar, auf den bloß mit Ja oder Nein zu antworten ist.
In einem Lande wie Mexiko bedeutete vor fünfzig Jahren eine Volksabstimmung etwas ganz anderes als in Europa und namentlich in Westeuropa.
Als Napoleon Mexiko besetzt und dem österreichischen Erzherzog Max 1863 die mexikanische Krone angeboten hatte, machte dieser ihre Annahme davon abhängig, daß eine Volksabstimmung sich für ihn entscheide. Schon im Februar 1864 konnte man ihm nach der gewaltsamen Verjagung des Präsidenten Juarez melden, daß fast 2.000 Gemeinden sich für ihn ausgesprochen hätten. Aber kein Jahr war vergangen, da forderten die Vereinigten Staaten, daß Napoleon seine Truppen zurückrufe und das mexikanische Volk das Recht der Selbstbestimmung über seine Regierungsform erhalte, und nach dem Abzug der Truppen Napoleons nahm diese „Selbstbestimmung“ bald eine Wendung gegen den Kaiser Max. Drei Jahre nach der Volksabstimmung, die ihn anerkannte, wurde ihm von den siegreichen Republikanern dasselbe Schicksal bereitet, das er über so manchen „Rebellen“ verhängt hatte. Nach seiner Gefangennahme wurde er am 19. Juni 1867 erschossen.
Hier war also die Volksabstimmung eine bloße Posse gewesen.
Anders verhielt es sich mit den Volksabstimmungen, durch die Napoleon und sein Verbündeter Viktor Emanuel ihre Annexionen nach dem Kriege von 1859 zu sanktionieren suchten. Obwohl die Bevölkerung der Gebiete, um die es sich handelte – Savoyen und Nizza, dann Toskana, Parma, Modena und die Romagna –, in bezug auf Volksbildung, Verkehrswesen und politische Schulung noch sehr zurückgeblieben war, hat sie nie auch nur einen Moment daran gedacht, ihre Abstimmung zu widerrufen. Oder richtiger: gerade weil man der Volksmeinung so sicher war, ließ man sich daraus ein, die Annexion durch eine Volksabstimmung bestätigen zu lassen.
Bismarck, der Napoleon in vielen Dingen nachahmte, machte ihm die Volksabstimmungen nicht nach. Doch war es Napoleon, auf dessen Anregung 1866 in den Prager Frieden die Bestimmung aufgenommen wurde, die nördlichen Distrikte Schleswigs sollten an Dänemark zurückfallen, wenn sie sich in freier Abstimmung dafür aussprächen. Zur Durchführung dieser Bestimmung des Friedensvertrags ist es nie gekommen. Österreich verzichtete schließlich ausdrücklich darauf, im Jahre 1878.
Merkwürdigerweise kam es über die Annexion Elsaß-Lothringens zu einer Art Volksabstimmung, aber nicht zu einer sanktionierenden. Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich war von einer französischen Nationalversammlung zu bestätigen, die am 12. Februar 1871 zusammentrat. Elsaß und Lothringen entsandten auch ihre Vertreter, und diese stimmten gegen den Frieden, gegen die Abtretung Elsaß-Lothringens. Man darf sich wundern, daß Bismarck bei der bekannten Stimmung jener Gebiete diese Art Volksabstimmung zugelassen hatte, die doch seinen Absichten nicht förderlich war. Wenn man Bismarcks Intimus Busch glauben darf, geschah die Zulassung nur durch ein Versehen. In seinen Tagebuchblättern berichtet Busch vom 11. Februar 1871:
Er (Bismarck) bemerkte, als Henckel (Präfekt von Metz) von der schlechten Stimmung im Elsaß sprach: dort hätte man die Wahlen eigentlich gar nicht zulassen sollen, und er hätte das auch nicht gewollt. Aber durch Versehen wäre die Instruktion an die dortige deutsche Oberbehörde abgefaßt worden wie für die anderen. (Tagebuchblätter, 1899, II, S.162.)
Wir müssen natürlich verlangen, daß Abstimmungen nicht bloß vorgenommen, sondern auch beachtet werden.
Entschieden muß aber die internationale Sozialdemokratie den Grundsatz ablehnen, der eine Annexion zu rechtfertigen sucht mit dem historischen Recht. Gerade in bezug auf Elsaß-Lothringen geschah das jetzt wieder von französischer Seite.
Dieses selbe historische Recht wies Marx 1870 in der zweiten Adresse des Generalrats über den Krieg für Elsaß-Lothringen zurück, das damals von deutscher Seite verlangt wurde:
Jawohl! Der Boden dieser Provinzen hatte vor langer Zeit dem längst verstorbenen Deutschen Reich angehört. Es scheint daher, daß das Erdreich und die Menschen, die darauf erwachsen sind, als unverjährbares deutsches Eigentum konfisziert werden müssen. Soll die alte Karte einmal umgearbeitet werden nach dem historischen Recht, dann dürfen wir auf keinen Fall vergessen, daß der Kurfürst von Brandenburg seinerzeit für seine preußischen Besitzungen der Vasall der polnischen Republik war.
Das richtete sich damals gegen die deutschen Ansprüche. Aber es gilt natürlich für jedes historische Recht, von wem immer es beansprucht werden mag.
Marx liebte es, sich über den Ausspruch lustig zu machen – er zitierte ihn auch im Kapital (Volksausgabe, S.527) –, den der Fürst Lichnowsky in der Deutschen Nationalversammlung 1848 bei der Polendebatte tat:
Das historische Recht hat keinen Datum nicht (Gelächter). Es gibt für das historische Recht keinen Datum, welches einem früheren Datum gegenüber ein größeres Recht vindizieren könnte.
Die Neue Rheinische Zeitung lachte über diese Aussprüche eines konservativen preußischen Junkers, einmal deswegen, weil „der edle Ritter kein Deutsch spreche, sondern Preußisch“, dann aber, weil
alle die Schrecken der blassen Finanznot die preußische Ritterschaft mit unaufhaltsamem Ruin bedrohen müssen, ehe es dahin kommen konnte, daß ein Lichnowsky dasselbe historische Recht bekämpft, für das er sich in der Tafelrunde der edlen Don Carlos die Sporen verdient.
So schnurrig das alles war, so ist doch nicht zu leugnen, daß wir für das historische Recht kein Datum festsetzen können, wann es beginnt und wann es aufhört. Man geriete in endlose Verwirrung, wollte man heute anfangen, alle historischen Rechte geltend zu machen. Das will auch niemand. Das Geltendmachen des historischen Rechtes bloß für einen einzelnen Fall ist aber bloße Willkür.
Die Sache wird nicht besser dadurch, daß man sie umdreht und statt von der Wiederherstellung des alten Rechtszustandes von dem Gutmachen begangenen Unrechts spricht. Auch dafür gibt es „kein bestimmtes Datum nicht“. Und was ist begangenes Unrecht? Die Eroberung? Aber nicht nur die jetzigen, sondern auch die früheren Grenzen der Staaten beruhen überwiegend auf Eroberungen. Von welchem Datum an wird Unrecht zu Recht? Die Franzosen betrachten die deutsche Eroberung des Elsaß als Unrecht, die Deutschen seine früheren Annexionen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch Frankreich.
Nur vom demokratischen Standpunkt aus wird die Eroberung ein Unrecht, das heißt ein Verstoß gegen die Gebote der Demokratie, in dem Falle, in dem eine Bevölkerung wider ihren Willen einem fremden Staat einverleibt wird. In diesem Falle ist es aber doch der Wille der Bevölkerung, der als entscheidend angesehen wird, und nicht das historisch überlieferte Besitzverhältnis. Von diesem Standpunkt aus bleibt das Unrecht allerdings Unrecht, solange der Wille der Bevölkerung gegen die Annexion protestiert, diese nur gewaltsam festgehalten wird. Dagegen würde sich die Rückkehr der Bevölkerung des umstrittenen Gebiets an den Staat, dem sie ehedem angehörte, zu einem Unrecht gestalten, wenn die Volksmasse sich an den neuen Zustand gewöhnt hätte und sich durch seine gewaltsame Veränderung bedrängt und bedrückt fühlen würde.
Also auch in diesem Falle können wir als internationale Sozialdemokraten mit einer Grenzveränderung nur dann einverstanden sein, wenn sie von der betroffenen Bevölkerung in freier Abstimmung gebilligt wird. Immer und unter allen Umständen ist in der äußeren wie in der inneren Politik der Wille der Volksmasse die höchste Autorität, der wir uns beugen. Das gilt natürlich nicht für unsere wissenschaftliche Überzeugung und nicht für die Ziele, die wir anstreben, für die wir wirken. Die lassen wir uns nicht durch die Abstimmungen des Volkes vorschreiben. Wir wissen, daß das Volk nicht minder irren kann wie seine Regierungen; daß es je nach seiner Klassenzusammensetzung, seinen Informationen, seinen historischen Bedingungen in seiner Mehrheit unter Umständen sehr reaktionär sein kann.
Aber wir wissen, daß die Befreiung der Arbeiterklasse ihr eigenes Werk sein muß, daß sie sich nur dort befreien kann, wo sie die Mehrheit des Volkes bildet, wo die Mehrheit des Volkes die Staatspolitik entscheidet, sowie daß die Aufklärung und Organisierung des Proletariats und damit die Entwicklung seiner Fähigkeiten zur Gewinnung und zweckmäßigen Ausübung der Staatsgewalt am ausgiebigsten möglich ist – unter sonst gleichen Bedingungen – unter demokratischen Zuständen.
Darum muß die Partei des Proletariats unter allen Umständen eine demokratische Partei sein in allen ihren Beziehungen. Sie schädigt den proletarischen Emanzipationskampf, wo sie von der Demokratie abweicht. Das gilt für ihre auswärtige Politik ebenso wie für ihre innere. Sie muß daher grundsätzlich, nicht bloß unter Umständen aus Gründen der Zweckmäßigkeit, jede Eroberungspolitik ablehnen, und sie darf dort, wo der von ihr abgelehnte Krieg Grenzveränderungen herbeiführt, nur solche gutheißen, die von der betroffenen Bevölkerung gewünscht oder doch wenigstens nicht als Vergewaltigung empfunden werden.
Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009