Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


2. Die primitive Demokratie


Die Sozialdemokratie muß als internationale und demokratische Partei stets für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung eintreten. Aber wie die Sozialdemokratie selbst das Produkt besonderer historischer Bedingungen ist und dort nicht aufkommen kann, wo jene Bedingungen fehlen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse –, so ist auch die Selbstbestimmung der Völker an bestimmte historische Bedingungen geknüpft. Sie bedeutet bei verschiedenen Völkern und innerhalb des gleichen Volkes zu verschiedenen Zeiten etwas sehr Verschiedenes.

Wenn man daher dagegen auftritt, bei der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts alle Völker über einen Kamm zu scheren, so ist das wohl berechtigt. Nicht berechtigt aber ist es, dieses Argument uns entgegenzuhalten, da gerade wir diese Schablonenhaftigkeit stets bekämpft haben.

Seit meiner Schrift über den Parlamentarismus und die Sozialdemokratie, die in erster Auflage 1893 erschien, habe ich immer wieder auf den Unterschied zwischen moderner und primitiver Demokratie hingewiesen. Er ist für das Verständnis der Form, die die Selbstbestimmung der Völker unter bestimmten historischen Bedingungen annehmen kann, von grundlegender Bedeutung, also auch von größter Wichtigkeit für das Friedensprogramm der Sozialdemokratie. Darum sei er hier nochmals kurz skizziert, ehe wir weiter gehen. Den Leser, der sich mit dem Gegenstand näher beschäftigen will, verweise ich neben der genannten Schrift auf meine Abhandlung über Nationalität und Internationalität (Ergänzungsheft zur Neuen Zeit, Nr.1, 1908).

Der Mensch ist von Natur aus nicht nur ein soziales, sondern auch ein demokratisches Wesen oder vielmehr, der Drang nach demokratischer Betätigung ist eine der Seiten seines sozialen Wesens, das er von seinen tierischen Vorfahren übernommen hat.

Die Existenz, das Gedeihen jedes einzelnen hängt von der Existenz, dem Gedeihen der Gesellschaft ab, in der er lebt. Jeder einzelne hat daher das größte Interesse an den gesellschaftlichen Angelegenheiten, sie beschäftigen ihn, er sucht auf sie einzuwirken. Dabei sind ursprünglich die einzelnen wenigstens des gleichen Geschlechts und der gleichen Altersstufen einander so gut wie völlig gleich. Wohl gibt es natürliche Unterschiede der Individuen, die einen sind stärker oder klüger als die anderen und haben dadurch einen größeren Einfluß in der Gesellschaft. Aber diese Unterschiede bewegen sich doch unter primitiven Verhältnissen in sehr engen Grenzen. Alle leben unter den gleichen Bedingungen, Produktionsmittel und Waffen sind einfach und von jedem zu erlangen oder herzustellen, keiner kann ein Wissen erwerben, das den anderen dauernd verborgen bliebe, keiner vermag sich andere dienstbar zu machen und seine eigenen Kräfte durch die ihren zu verstärken. Wie hoch das Ansehen des einzelnen durch seine persönlichen Leistungen in der Gesellschaft steigen mag, er bleibt doch immer abhängig von der Gesamtheit, sie ist weit stärker als er, keiner vermag sie zu beherrschen, jeder muß ihr dienen, die Gesamtheit bleibt die höchste Instanz. Sie macht sich geltend in der Versammlung der Gesamtheit, die mindestens alle erwachsenen Männer umfaßt.

Diese urwüchsige Demokratie erhält sich während des weitaus größten Teiles der bisherigen Geschichte der Menschheit, bis zur Gewinnung der Seßhaftigkeit, der Entwicklung des Ackerbaues, dem Erstehen der Städte. Die Markgenossenschaften und die Dorfgemeinden wie die städtischen Gemeinden sind ursprünglich demokratisch organisiert.

Diese Demokratie beruhte auf dem mündlichen Verfahren. Alle öffentlichen Angelegenheiten wurden nur mündlich erörtert, die Wahlen durch Zuruf vollzogen, Gesetz und Recht sowie Geschichte des Gemeinwesens mündlich überliefert, alle Nachrichten, die für die Öffentlichkeit von Belang sein konnten, mündlich weitergegeben.

Diese Ausschließlichkeit des mündlichen Verfahrens entsprang der Einfachheit eines sich nicht wesentlich verändernden Produktionsprozesses, der geringe Kenntnisse voraussetzte, die durch Beispiel und mündliche Belehrung vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter überliefert wurden, ohne sich seit Menschengedenken zu ändern. Sie entsprang der Beschränktheit der ökonomischen Beziehungen, die sich in engem Kreise vollzogen, so daß sie alle durch persönliche Besprechung zu erledigen waren. Die Volksmasse bedurfte nicht des Lesens und Schreibens für ihre Ökonomie. Ihr blieben diese Kenntnisse fremd, auch für die Zwecke der Politik. Die urwüchsigen demokratischen Gemeinwesen fanden darin ihre Schranke. Sie konnten ihr Gebiet nur so weit ausdehnen, daß jedem Mitglied die Möglichkeit blieb, die souveräne Volksversammlung zu erreichen, in ihr zu sprechen, ihre Verhandlungen zu verstehen, an ihren Entscheidungen und Wahlen durch mündliche Abstimmung teilzunehmen.

Jede Ausdehnung der Gemeinwesen über diese Schranke hinaus erfolgte auf Kosten der Demokratie. Die Zusammenfassung der urwüchsigen Demokratien, der Markgenossenschaften und Gemeinden zu einer größeren Gemeinschaft, zum Staat geschah durch Schaffung einer über diesen Demokratien stehenden Gewalt, die sie beherrschte. Diese Zusammenfassung konnte erst geschehen, als eine solche Gewalt möglich geworden war. Der Staat ist von seinem Anfang an eine Herrschaftsorganisation, er ist der Gegner der Demokratie. Das gilt auch von den sogenannten demokratischen Staaten des Altertums. Auch sie waren Organisationen der Beherrschung und Ausbeutung einer Volksmasse durch eine Klasse, die sich der Staatsgewalt bemächtigt hatte. Das Demokratische an ihnen war nur der Umstand, daß es eine demokratisch organisierte Gemeinde war, die als Herrscherin über andere Gemeinden (sowie über unfreie und rechtlose Arbeiter innerhalb der eigenen Gemeinde) auftrat.

Indes haben sich demokratische Staaten dieser Art nirgends lange erhalten. Weder das Wissen der Volksmassen noch die Organisationsformen, auf denen die urwüchsige Demokratie beruhte, reichten aus für die Aufgaben, die dem Staate aus seinem Herrschaftscharakter erwuchsen. Zu diesen Aufgaben gehörten auch die der äußeren Politik und des Krieges.

Die Gemeinwesen der urwüchsigen Demokratie fanden ihre Schranke in ihren eigenen Bedingungen, wie wir schon gesehen. Wo ein solches einmal seßhaft geworden war, empfand es kein Bedürfnis, sein Gebiet auszudehnen. Natürliche Fruchtbarkeit konnte seine Bevölkerung zeitweise über diese Schranke hinaus anwachsen lassen. Das Ergebnis war nicht das Streben nach Ausdehnung des Gebiets des Gemeinwesens, sondern die Aussendung des Überschusses der Bevölkerung zur Begründung eines eigenen neuen Gemeinwesens. Das dafür erforderliche Gebiet konnte der Natur abgerungen werden, etwa durch Rodungen im Walde, oder es wurde einem schwächeren Volke abgenommen. So kam es zu zeitweisen Kriegen aus natürlichen Ursachen infolge des Wachstums der Bevölkerung.

Anders steht es in den Staaten, die aus der Zusammenfassung primitiver Gemeinwesen gebildet werden. Sie finden keine Schranke in sich selbst. Die neue Herrschaftsorganisation kann ins Ungemessene ausgedehnt werden, sie erzeugt den Drang zu steter Ausdehnung, da Reichtum und Macht der den Staat beherrschenden Klassen mit seiner Größe wachsen; ja der Drang nach Ausdehnung wird in jedem Staate in dem Maße stärker, in dem der Staat größer ist, da um so gewaltiger seine Macht den anderen Staaten gegenüber. Die Folge ist stete Kriegslust der starken Staaten, stete Notwendigkeit der Abwehr für schwache Staaten, die ununterbrochene Kriegsgefahr und häufiger Krieg. Dieser geht nicht mehr hervor aus natürlicher Notwendigkeit infolge starker Volksvermehrung, sondern aus maßlosem Drang nach Reichtum und Macht der herrschenden Klassen. Mit dem Aufkommen des Staates erstirbt die Demokratie, erwächst die ewige Kriegsgefahr. Diese bildet keineswegs ein besonderes Kennzeichen des Kapitalismus oder Imperialismus. Die letzteren führen in jenen alten Drang jeder Staatsgewalt nur neue Momente ein.

Wohl aber erzeugt der industrielle Kapitalismus die Elemente, die jener Entwicklung ein Ende machen werden. Er erzeugt seine eigenen Totengräber: das industrielle Proletariat und die Bedingungen der modernen Demokratie.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009