Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


4. Die Herstellung des modernen Nationalstaats durch Anpassung der Nationalitäten an den Staat


Ein unentbehrliches Mittel gesellschaftlichen Zusammenarbeitens und Füreinanderarbeitens, also jeder gesellschaftlichen Beziehung und Verbindung ist die Sprache. Gemeinsamkeit der Sprache bildet ein starkes Bindeglied der Menschen, Verschiedenheit der Sprache eine schwer übersteigbare Schranke zwischen ihnen.

Soll in einem Gemeinwesen seine Politik eine demokratische, von der Volksmasse geleitete sein, so bedingt das, daß die Sprache der Politik, der politischen Agitation und Information, der politischen Verhandlungen und Beschlüsse, der Verwaltung und Rechtsprechung die Sprache des Volkes ist, eine Sprache, die jeder im Volke beherrscht. Das war in den Gemeinwesen der ursprünglichen Demokratie selbstverständlich. In den Staaten, die sich über jenen Gemeinwesen erhoben, ging mit der Demokratie auch die Einheit der Sprache verloren. Wir haben schon gesehen, daß der Ausdehnungsdrang der Staaten ein maßloser wurde, nur in den Machtverhältnissen eine Schranke fand. Volkselemente der verschiedensten Sprachen konnten in einem Staate zusammengefaßt werden. Man ließ ihnen zunächst die lokale Selbstverwaltung. Für die staatlichen Aufgaben, die hauptsächlich in der Erhebung von Abgaben und Menschenkräften für Heerwesen, Straßenbauten und ähnliches bestanden, genügte es, wenn einige Vertreter des Staates in den einzelnen Bezirken die dort übliche Sprache verstanden.

Angesichts der Abgeschlossenheit, in der die kleinen urwüchsigen Gemeinwesen lebten, war die Verschiedenheit der Sprachen, die unter ihnen gesprochen wurden, eine große. So gab es auch kaum ein größeres Staatswesen, das nicht Sprachverschiedenheiten in seinem Innern aufwies, nicht nur Verschiedenheiten der Dialekte, sondern auch der Sprachstämme. Selbst in einem Staate, der als ein ausgesprochener Nationalstaat gilt, wie Frankreich, zählte man noch 1872 unter den Staatsangehörigen in den Pyrenäen 160.000, die baskisch, 100.000, die spanisch sprachen; im Südosten 350.000, die italienisch, in der Bretagne über 1 Million, die bretonisch sprachen. In einigen nördlichen Bezirken an der belgischen Grenze ist das Flämische Volkssprache.

Als die moderne Demokratie aufkam, gehörte es zu ihren notwendigen Zielen, die Volkssprache zur Staatssprache, zur Sprache der Politik, der Gesetzgebung und Verwaltung, der Rechtsprechung und des öffentlichen Unterrichts zu machen.

Das war auf zwei Wegen zu erreichen: entweder mußten alle diejenigen im Staate, die eine andere Sprache gebrauchten als die Staatssprache, diese erlernen und zu der ihren machen, oder der Staat mußte eine Begrenzung erhalten, die ihn auf das Gebiet einer Sprache beschränkte, alle in ihm zusammenfaßte, die die gleiche Sprache beherrschten, und alle außerhalb seines Bereichs ließ, die bisher im Staat eine andere Sprache gesprochen hatten. Es war aber nicht mehr die mündlich gesprochene Sprache, sondern die Schriftsprache, die dafür entscheidend wurde. Die Schriftsprache gestaltete sich zum Mittel der Verständigung und des Zusammen- und Auseinanderwirkens von Elementen, deren Dialekte so verschieden waren, daß sie eine mündliche Verständigung vielfach ausschlossen, stets das Gefühl der Verschiedenheit lebendig erhielten.

Der erste der beiden Wege wurde schon vor dem Aufkommen der modernen Demokratie betreten, und zwar von der staatlichen Bureaukratie, die auf allen Gebieten die Uniform, das heißt die Einförmigkeit herbeizuführen sucht, nicht bloß in der Berufskleidung der Soldaten und Beamten. Die Sprache der herrschenden Klasse wird zur Staatssprache, deren Kenntnis nun auch jenen Volksteilen im Staat aufgezwungen werden soll, die andere Sprachen gebrauchen. In der Schule, vor Gericht, im Amt wird der Gebrauch jeder anderen Sprache als der Staatssprache verboten. Das bedeutet nicht nur eine große Bequemlichkeit für die Bureaukraten, sondern auch eine Bevorzugung aller Volksteile im Staate, denen die Staatssprache Muttersprache ist, die sie schon in der Familie erlernen. Auch die unteren Klassen jener Volksteile erlangen so eine gewisse Bevorzugung, bekommen etwas von der Gefühl einer herrschenden Klasse. Gleichzeitig aber werden selbst die oberen Klassen der Volksteile, die eine andere Sprache sprechen, dadurch benachteiligt und in die Position beherrschter Klassen gedrängt. So werden einerseits nationale Gegensätze innerhalb der gleichen Klasse geschaffen, andererseits verschiedene, sonst gegensätzliche Klassen durch die Gemeinsamkeit der Sprache und der daraus hervorgehenden Interessen einander genähert. Auf die eine wie auf die andere Weise werden die Klassenkämpfe verdunkelt und gefälscht. Einen Teil des Kampfes der aufstrebenden Demokratie gegen die Bureaukratie bildet der Kampf gegen deren Methoden gewaltsamer nationaler Uniformierung.

Weniger gewaltsam, aber um so sicherer wirkt der wachsende Verkehr, der aus dem Fortschreiten der kapitalistischen Produktionsweise entspringt. Diese verwandelt den Staat freilich nicht in ein besonderes Wirtschaftsgebiet, das sich im wesentlichen selbst genügt, wie es bei den primitiven Gemeinwesen der Fall war. Die kapitalistische Produktionsweise beruht von vornherein auf zwischenstaatlichem Verkehr. Immerhin, wenn sie den Staat auch nicht in ein besonderes Wirtschaftsgebiet verwandelt, so macht sie doch aus ihm ein besonderes Verkehrsgebiet, den inneren Markt, innerhalb dessen der Verkehr intensiver und geringeren Hemmungen ausgesetzt ist als der Verkehr mit dem äußeren Markt. Die provinzialen und lokalen Zwischenzölle fallen, während mehr oder weniger hohe Zollschranken an den Staatsgrenzen erstehen. Dem Staate wird die Aufgabe zugewiesen, die wichtigsten Verkehrsmittel herzustellen und in Betrieb zu setzen, Landstraßen, Kanäle, schließlich Eisenbahnen. Sie dienen zunächst und in erster Linie dem inneren, nicht dem äußeren Verkehr, werden seinen Bedürfnissen angepaßt. Der Verkehr innerhalb des Staates wird weit intensiver als der internationale, er bringt nicht nur wie dieser die Kaufleute, sondern alle Teile der Bevölkerung in Berührung miteinander, und zwar nicht bloß in gelegentliche, sondern immer mehr in ständige.

Werden im Staate verschiedene Sprachen gesprochen, so erwächst jetzt nicht bloß aus den Bedürfnissen der regierenden Klasse, sondern aus den ökonomischen Bedürfnissen aller Klassen die Notwendigkeit einer von allen gekannten Verkehrssprache. Sie wird von vornherein die Sprache des ökonomisch entwickeltsten Volkes im Staate sein, namentlich dann, wenn dieses gleichzeitig das zahlreichste und das politisch herrschende ist. Jeder einigermaßen rührige Mensch, der es in der Gesellschaft zu etwas bringen will, wird sich nun bemühen, diese Sprache zu erlernen.

Gleichzeitig bringt der wachsende Verkehr auch zunehmende innere Wanderungen mit sich. Die kapitalistische Produktionsweise erzeugt überall die Tendenz nach relativer Abnahme der Arbeiterzahl, das heißt nach ihrer Abnahme im Verhältnis zur Größe des angewandten Kapitals. Doch in der Industrie wird diese Tendenz mehr als wettgemacht durch rapides Zunehmen des Kapitals. In der Landwirtschaft nimmt dieses viel langsamer zu, hier wird die relative Abnahme leicht zu einer absoluten. In allen kapitalistischen Ländern finden wir daher stets Zunahme der industriellen Arbeiterschaft, nicht nur infolge natürlicher Vermehrung, sondern auch infolge starken Zuströmens von der Landwirtschaft in die Industrie. In sprachlich gemischten Gegenden bedeutet das für Nationalitäten, die nur eine agrarische Bevölkerung umfassen, eine stete Abgabe von Mitgliedern an industrielle Gegenden, in denen man eine andere Sprache spricht, die von den Zuziehenden erlernt und angenommen wird. Die rein agrarischen Nationalitäten geben immer mehr ihre energischsten und intelligentesten Elemente an die industrielle Nation ab. So wie das flache Land überhaupt im Gegensatz zur Stadt geistig verödet und verarmt, so gilt das auch für die agrarischen Nationalitäten zugunsten der industriellen, was die Widerstandslosigkeit und die Flucht aller intelligenten Elemente aus ihnen noch steigert. So werden Nationalitäten, die agrarisch bleiben, im Nationalitätenstaat nach und nach aufgesaugt und verschwinden schließlich. Sie sind unrettbar dem Untergang geweiht.

Das sind jene „Völkerabfälle“, deren „gänzliche Vertilgung oder Entnationalisierung“ Marx und Engels 1849 für unvermeidlich erklärten, wie zum Beispiel die Gälen in Schottland, die Bretonen in Frankreich, die Basken in Spanien, die Ladiner in Tirol, die Sorben oder Wenden in Preußen und Sachsen. Um das Jahr 1870 zählte man in Preußen noch 86.000 Wenden, 1905 63.000. Es liegt hier nicht etwa wie bei den Indianern Nordamerikas ein Aussterben der Rasse vor. Im Gegenteil. Gerade jene ökonomisch rückständigsten Nationen erweisen sich in der Regel als äußerst fruchtbar. Was als Aussterben der Nation erscheint, ist bloß das Aufgeben einer Sprache, die für den Verkehr unnütz geworden ist.

Dieser Prozeß des Aufsaugens kleiner „Völkerabfälle“ durch große Nationen innerhalb eines Staates darf nicht verwechselt werden mit der Aufsaugung kleiner Staaten durch große. Beide Vorgänge werden nicht selten einander gleichgesetzt, der zweite ebenso wie der erste als notwendiges Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise bezeichnet, die auf allen Gebieten vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb übergehe. Das klingt ganz marxistisch, wird auch für Marxismus ausgegeben, ist aber keiner. Statt in der Ökonomie bloß die letzte Ursache der Politik zu sehen, macht diese Auffassung die Gesetze der Ökonomie ohne weiteres zu Gesetzen, von denen auch die Politik beherrscht wird, was nicht minder verkehrt ist wie jene Auffassung, die die Gesetze des tierischen Organismus unterschiedslos auf den gesellschaftlichen Organismus anwendet.

Wir haben gesehen, daß das stete Streben nach Ausdehnung des Staates durch Aufsaugung kleinerer Gemeinwesen verschiedener Nationalitäten nicht die kapitalistische Produktionsweise besonders kennzeichnet, sondern vielmehr dem Staate seiner Natur nach von Anfang an innewohnt. Insoweit die kapitalistische Produktionsweise die Tendenzen der modernen Demokratie schafft, setzt sie sogar jenem Ausdehnungsdrang der den Staat beherrschenden Klassen Schranken, indem sie die Form des Nationalstaats zur zweckmäßigsten Form des Staates macht und bewirkt, daß erneute zwangsweise Angliederung nationsfremder Gebiete, wenn diese bereits ein starkes politisches Leben in einem modernen Staat entwickelt haben, höchst gefährlich und schädlich für den annektierenden Staat wird.

Wohl setzt sich die Tendenz zum Nationalstaat nicht überall durch – wir werden noch die Hindernisse kennenlernen, die sie unter Umständen hemmen. Aber in keinem modernen Staate, der zu einem Nationalstaat geworden ist, haben wir bis zu dem jetzigen Kriege die Tendenz entdecken können, sich zu einem Nationalitätenstaat zu erweitern. Und in keinem modernen Nationalitätenstaat die Tendenz, die Zahl der Nationen, die er umfaßt, durch Angliederung einer neuen zu vermehren und dadurch seine nationalen Schwierigkeiten zu vergrößern. Die Ursachen, die in entgegengesetztem Sinne zu sprechen scheinen, sind entweder nur scheinbar oder zu unbedeutend, um die Gesamttendenz aufzuheben. Und selbst diese unbedeutenden Abweichungen liegen den Staaten, die sie sich erlaubten, schwer im Magen. Wir sehen hier ab von der Kolonialpolitik, die in ein ganz anderes Kapitel gehört. Hier sprechen wir von der Annexion von modernen Staaten mit einer entwickelten Demokratie, deren Bevölkerung an dem politischen Leben des Staates entweder tatsächlich teilnimmt oder doch auf das entschiedenste daran teilzunehmen verlangt.

Welches sind die Annexionen, durch die europäische Staaten sich in den letzten hundert Jahren vergrößerten?

Da haben wir Frankreich, das sich 1860 Savoyen und Nizza angliederte, nachdem eine Volksabstimmung sich mit großer Mehrheit für den Anschluß ausgesprochen. Die Sprache Savoyens war die französische. Das hart an der französischen Grenze liegende kleine Nizza war gemischtsprachig.

Dann der große Erobererstaat Rußland. Es ist von den Großstaaten Europas derjenige, der von modernen Tendenzen und namentlich der Demokratie am längsten unberührt geblieben war. Trotzdem hat auch er sich im Laufe der letzten hundert Jahre gehütet, das Gebiet einer weiteren europäischen Nationalität zu den von ihm schon eroberten hinzuzufügen. Seine ganzen Besitzwechsel im Laufe dieses Zeitraums in Europa betrafen ein Zipfelchen Beßarabiens. Rußland hatte fast das ganze Beßarabien 1812 annektiert. Einen kleinen Streifen an der Donaumündung gewann es 1829 noch hinzu, um es 1856 wieder an Rumänien abtreten zu müssen, von dem es ihn 1878 wieder zurückgewann. Das war alles, was es in den letzten hundert Jahren seit dem Wiener Kongreß 1815 an europäischem Boden eroberte.

Bedeutender war 1878 der Gewinn Österreichs, das damals Bosnien und die Herzegowina „okkupierte“. Es bekam dadurch einen Bevölkerungszuwachs von 1.300.000 Köpfen, die aber keine neue Nationalität in den Staat einführten, sondern nur seine 3 Millionen Serbokroaten vermehrten.

Das alles war höchst unbedeutender Natur und führte nirgends dazu, einem der bestehenden Staaten eine neue Nationalität zuzuführen. Die wirklich bedeutenden Grenzverschiebungen und Annexionen, die in den letzten hundert Jahren in Europa vollzogen wurden, in Italien, Deutschland, auf dem Balkan, bewegten sich in der Richtung des Nationalstaats, nicht über ihn hinaus. Es war nur eine bedeutungslose Nebenerscheinung, wenn dabei in Nordschleswig etwa 150.000 Dänen und in Lothringen etwa 300.000 Franzosen annektiert wurden. Die Gegend um Metz herum umfaßt die meisten Franzosen der Reichslande und stellt ein geschlossenes französisches Sprachgebiet dar; Bismarck wünschte die Annexion dieses Teiles gar nicht Sie wurde ihm aus strategischen Gründen vom Generalstab aufgedrängt.

Jedem Gedanken, einmal fremdsprachiges Gebiet für Deutschland zu erwerben, war Bismarck nicht nur abhold, sondern direkt feindlich, so daß er im Versailler Frieden selbst Metz nur sehr ungern auf Andrängen Moltkes genommen hat. (Delbrück, Bismarcks Erbe, S.169.)

Außer der Bildung der Nationalstaaten Deutschland und Italien sowie der Balkanstaaten und den eben erwähnten kleinen Annexionen, die keinem der Staaten, der sie vollzog, eine neue fremde Nation einverleibten, haben sich aber in den letzten hundert Jahren nur noch drei große Veränderungen im zwischenstaatlichen Leben Europas vollzogen, die hier zu bemerken sind: die Lostrennung Belgiens von den Niederlanden 1830, die halbe Trennung Ungarns von Österreich 1867 und die ganze Trennung Norwegens von Schweden 1905. Sie gehen durchaus nicht in der Richtung der Aufsaugung eines Staates durch einen anderen. Die Tendenz der modernen Demokratie, ein Ergebnis des fortschreitenden Kapitalismus, wirkt hier vielmehr in entgegengesetzter Richtung.

Die Erscheinung der Konzentration der Großstaaten durch Aufsaugen der kleineren, die aus den Gesetzen der Akkumulation des Kapitals erklärt werden soll, besteht also gar nicht und bedarf deshalb auch keiner Erklärung. Die Appetite, denen durch jenes angebliche Gesetz des modernen Völkerlebens eine Rechtfertigung gegeben wird, sind erst während des jetzigen Krieges rege geworden. Was der fortschreitende Kapitalismus braucht, ist wachsende Ausdehnung des Verkehrs, nicht des Staatsgebiets. Eine Vergrößerung des Staates, die bestehende Zollgrenzen aufhebt, kann ebenfalls in dieser Richtung wirken, aber sie ist nur zu erreichen durch zermalmende Kriege, die erdrückende Kriegsrüstungen voraussetzen. Weit sicherer und ohne jede Belastung und Hemmung des ökonomischen Lebens, ja unter seiner lebhaftesten Anregung wird die wachsende Ausdehnung des Verkehrs erreicht durch Eisenbahnbauten und Handelsverträge, in denen die Zollgrenzen möglichst erniedrigt werden.

Das und nicht die stete Ausdehnung des Staatsgebiets ist ein Gebot der ökonomischen Entwicklung.

Anders steht es freilich mit der Aufsaugung nicht kleiner Staaten durch große, sondern kleiner, rückständiger Nationen durch größere oder höherentwickelte innerhalb eines Staates. Sie geht für manche kleine Nationen unhemmbar vor sich. Aber nicht für alle.

Der Prozeß der Entnationalisierung einer kleinen, agrarischen Völkerschaft findet eine starke Gegentendenz dort, wo sie dahin gelangt, von der Bewegung der modernen Demokratie ergriffen zu werden. Im Zusammenhang mit dieser Bewegung entwickelt sie eine eigene Klasse von Intellektuellen und eine eigene Schriftsprache mit starker Literatur, eine Sprache, die nicht bloß die Sprache der Poesie wird, sondern auch die der Prosa. Eine belletristische Literatur kann auch der Dialekt haben. Erst die Anwendung im Alltag, in den Zeitungen, in den Briefen, im Unterricht, der populärwissenschaftlichen Literatur macht die Schriftsprache zur Sprache der Volksmasse, zu einem politischen Faktor, macht aus den Volksmassen, die sie gebrauchen, eine moderne Nationalität. Ist ein Volk einmal auf diese Höhe gelangt, dann vermag es im Festhalten seiner Sprache eine unglaubliche Zähigkeit zu entwickeln.

Die Schrift hat stets einen konservierenden Charakter. Sie ist das beste Mittel, die Vergangenheit und ihre Produkte lange in unserem Bewußtsein lebendig zu erhalten. Das beweist unter anderem der Einfluß, den sich die Bibel bis heute bewahrt hat. Wo ein Volk zu einer eigenen Schriftsprache kommt, wirkt sie konservierend, erschwert sie die Assimilierung des Volkes an ein anderes.

Als Marx und Engels 1849 der Überzeugung waren, daß die österreichischen Slawen ein ähnliches Schicksal erwarte wie etwa die Basken und Bretonen, da besaßen jene Slawen noch keine Literatur, die der Rede wert war. Selbst bei den Tschechen stand die Anwendung ihrer Sprache als Schriftsprache der Massen noch in sehr dürftigen Anfängen. Weit mehr noch bei den Südslawen, die ja Analphabeten waren.

Das ist heute erheblich anders geworden, Tschechen und Südslawen haben Universitäten, eine starke Presse, eine reiche Literatur. Heute noch sich auf die Worte von 1849 als Richtschnur für unsere Zeit, nicht als Kennzeichen jener Tage berufen, bezeichnet entweder völlige Unkenntnis der Verhältnisse oder dreiste Spekulation auf solche Unkenntnis.

Wo in einem gemischtsprachigen Staat ein Agrarvolk zu einer eigenen Schriftsprache gelangt und damit ein Mittel festeren nationalen Zusammenhalts gewinnt, kann sich sogar das Blättchen wenden. Die agrarischen Massen, die den industriellen Gebieten zuwandern, brauchen jetzt ihre Nationalität dort nicht zu verlieren. Ist ihre Zuwanderung stark genug, können sie die überlieferte Sprache des industriellen Gebiets immer weiter zurückdrängen und schließlich die ihrige dort herrschend machen. Das ist ein Prozeß, der sich heute in den Städten Böhmens und Mährens vollzieht.

Allerdings findet er nur dort statt, wo die fremde Einwanderung geschlossen und überwältigend ist. Die tschechische Einwanderung in Wien oder die polnische im Ruhrrevier vermögen den deutschen Charakter dieser Gebiete nicht zu erschüttern. Daß die slawische Einwanderung jetzt von Massen vollzogen wird, die lesen und schreiben können und über eine eigene Presse und Literatur verfügen, kann ihre Aufsaugung dort bloß verlangsamen. Die alte Generation bleibt ihrer Sprache noch einigermaßen treu, die neue Generation, die am Orte geboren und erzogen wird, spricht die Sprache des Ortes, nicht die der Einwanderer.

Jede Hemmung eines unvermeidlichen Prozesses wirkt schädlich. Die Verlangsamung der Aufsaugung der Zuwanderer, ihres Erlernens der Ortssprache erschwert es, daß die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten am Orte sich verständigen und gemeinsam den Klassenkampf führen. Am geringsten sind die Änderungen der Sprachgrenzen dort, wo die bäuerliche Bevölkerung dem Analphabetentum entwächst und zum Gebrauch der Schriftsprache ihrer Nationalität gelangt. Die konservierende Wirkung der bäuerlichen Wirtschaft wird da gesteigert durch die konservierende Wirkung der Schrift. Unter diesen Bedingungen erweist sich eine Nationalität als besonders zäh. So war es im Deutschen Reiche bisher nicht möglich, im nördlichen Schleswig oder in Lothringen sowie im östlichen Posen die deutsche Sprache zur Volkssprache zu machen.

Man sieht, die Ausdehnung einer Nationalität ist nicht etwas Konstantes, sondern sehr Variables. Nicht bloß natürliche Vermehrungsbedingungen, sondern auch ökonomische und politische Bedingungen, die im Laufe der Geschichte beständig wechseln, beeinflussen ihre Verbreitung aufs tiefste.

Jeder der größeren neueren Staaten ist zur Zeit des Aufkommens der modernen Produktionsweise und Demokratie aus sehr verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt, die sehr verschiedene Sprachen sprechen. Ein Teil dieser Elemente wird von der im Staat an Zahl, ökonomischer und politischer Kraft überwiegenden Sprachgemeinschaft assimiliert und geht in ihr auf. Bei einem anderen Teile gelingt es nicht. Je mehr der erste Prozeß gelingt, desto näher kommt der Staat dem Typus der Nationalstaats. Je weniger jener Prozeß in Wirksamkeit tritt, desto ausgesprochener wird der Staat den Typus des Nationalitätenstaats tragen. In den allen kapitalistischen Staaten überwiegt der erstere Typus. Bei ihnen konnten die assimilierenden Tendenzen des modernen Staates und der modernen Produktionsweise wirken, ehe die moderne Demokratie aufkam und ehe die Volksbildung auch in kleineren Nationen die Grundlagen für eine Schriftsprache und Literatur der Massen schuf. In den Staaten, in denen sich die kapitalistische Produktionsweise erst spät entwickelt, indes sich manche der Tendenzen der modernen Demokratie in ihnen schon geltend machen, wird die Bildung des Nationalstaats durch Assimilierung der beherrschten Nationen an die herrschende schwerer. Doch geht dieser Prozeß auch dort vor sich. Von den 142 Völkerschaften, die Rußland zählen soll, werden sich gewiß nicht alle zu modernen Nationen entwickeln, die meisten den Weg der Sorben und Basken gehen, die Osseten, Wogulen, Tscheremissen, Kalmücken, Samojeden usw. Doch eine Reihe hat sich bereits zu modernen Nationen entwickelt, andere werden folgen.

Wo immer sich eine moderne Nationalität bilden mag, überall fordert sie ungestüm das Recht der Selbstbestimmung, wozu auch die Erhebung der Volkssprache zur politischen Sprache, zur Staatssprache gehört. Vermag die aufsteigende Nationalität nicht das Staatswesen, in dem sie erwächst, in ihren Nationalstaat zu verwandeln, dann sucht sie es zu zertrümmern oder sich von ihm loszureißen, und als selbständige Nation einen selbständigen Staat zu bilden.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009