Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


2. Die Trennung der nördlichen von den südlichen Niederlanden


Die Grundursache der Trennung durfte in den geographischen Bedingungen liegen, die für die nördlichen Niederlande ganz andere sind als für die südlichen.

Die ganze Meeresküste der südlichen Niederlande von Dünkirchen bis zur Scheldemündung entbebrt natürlicher großer Häfen für tiefgehende Schiffe. Was an Häfen vorhanden war, so zum Beispiel der Hafen für Brügge, versandete seit dem fünfzehnten Jahrhundert. Die Schiffe aber wurden immer größer und tiefergehend gebaut, je mehr sich die Technik entwickelte und die Kolonialpolitik seit dem sechzehnten Jahrhundert dahin führte, daß die Seereisen immer weiter gingen und länger dauerten.

Dagegen sind die nördlichen Niederlande von der Scheldemündung an ausgezeichnet durch eine Reihe vortrefflicher und großer Häfen.

IfBis heute ist die belgische Schiffahrt geringfügig geblieben, indes die holländische eine sehr ansehnliche im Weltverkehr spielt. Kolb (Handbuch der vergleichenden Statistik, 1875) gibt für 1857 bezw. 1858 die Tonnenzahl der belgischen Handelsmarine auf 42.400, die ihrer niederländischen auf 587.000 an. Seitdem hat sich allerdings der Unterschied vermindert, da die holländische seitdem zurückging. Neumann Spallart gibt für 1882 den Stand der belgischen Handelsmarine auf 66.000, den der niederländischen auf 335.000 Tonnen an. Für 1912 wird die belgische auf 182.000, für 1911 die niederländische auf 565.000 angegeben.

Früh wagten sich die Holländer auf die hohe See hinaus, schon im dreizehnten Jahrhundert gehörte der Heringsfang zu einer ihrer wichtigsten Erwerbsquellen. als im sechzehnten Jahrhundert die überseeischen Entdeckungen Quellen märchenhaften Reichtums in Ostindien und Südamerika für jede Seemacht erschlossen, beeilten sich auch die Seefahrer der nördlichen Niederlande, daran teilzunehmen. Dabei aber stießen sie auf das Hindernis der monopolistischen Verbote Spaniens. Das gab einer so seegewaltigen Bevölkerung wie der der nördlichen Niederlande den gewaltigsten Antrieb, das spanische Joch abzuwerfen, die spanische Seeherrschaft niederzukämpfen.

Ein so starker Antrieb fehlte den südlichen Niederlanden. Dort wollte das Volk bloß die traditionellen Freiheiten gegen den Absolutismus der Fremdherrschaft sichern.

Dabei waren die südlichen Niederlande ökonomisch weiter entwickelt als die nördlichen. Im fünfzehnten Jahrhundert kamen sie schon an die Schwelle des Kapitalismus, hatten sie ein zahlreiches Proletariat aufzuweisen. Sollten die herrschenden Klassen, der Adel und das städtische Patriziat den Kampf gegen den Absolutismus mit voller Kraft führen, dann mußten sie das Proletariat kampffähig machen. Dazu fehlte ihnen der Mut. Überdies hatte die katholische Kirche im reichen Süden viel größeren Besitz angehäuft und damit viel größeren Einfluß erworben als im ärmeren Norden. Dieser Einfluß kam naturgemäß den spanischen Habsburgern, den Vorkämpfern der katholischen Kirche, zugute.

Endlich wurden die nördlichen Niederlande bei ihrem militärischen Widerstand durch die Natur ihres Landes mehr begünstigt als die südlichen. Die letzteren boten ein sehr günstiges Terrain für kriegerische Operationen. Dies zusammen mit der Lage Belgiens als Durchgangsland zwischen großen Reichen hat es bewirkt, daß kaum irgendwo so viele Schlachten geschlagen worden sind wie in dem kleinen Belgien.

Die nördlichen Niederlande sind dagegen zum Teil erst künstlich von Menschen dem Meere abgerungen, ein Terrain, auf Schritt und Tritt von Kanälen durchschnitten, mit zahlreichen Niederungen, die durch einen bloßen Dammdurchbruch unter Wasser gesetzt werden können. Ein großer Teil der Bevölkerung lebte auf Inseln. Da kamen die spanischen Armeen nur schwer vorwärts. Es war eine fast insulare Lage, die Seeland, Holland, Friesland schützte.

Zu Wasser aber erwiesen sich die Holländer den Spaniern überlegen. und der Seekrieg war damals ein Mittel der Bereicherung für die stärkere Seemacht während der Landkrieg in jenen Zeiten schon, wenn auch noch nicht in demselben Maße wie heute, nicht nur dem Besiegten, sondern auch dem Sieger die schwersten Wunden schlug.

Im Seekrieg wurden in jenen Tagen die feindlichen Schiffe, auf die man traf und die man niederkämpfte, nur zum geringsten Teil zerstört. In der Regel wurden sie gekapert, als gute Prise mit ihrem Inhalt angeeignet und in die Heimat gebracht. Ein erfolgreicher Seekrieg vermehrte so die Reichtümer des eigenen Landes. Dieses konnte dabei gedeihen und Kapitalien akkumulieren.

Dies galt für England, es galt gleichzeitig für die nördlichen Niederlande, solange sie die See beherrschten. Daher ihre unglaubliche Zähigkeit im Kampfe gegen die Spanier. Ihre Seebeute gab ihnen nicht nur die Mittel, wie zur See, so auch zu Lande den Krieg erfolgreicher zu führen, sondern dabei noch Industrie und Handel zu entwickeln.

Fast hundert Jahre lang führten sie den Krieg um ihre Unabhängigkeit, on 1568 bis 1648. Als ein armes, unbedeutendes Ländchen waren sie in ihn eingetreten. Als eine Großmacht, als reichstes Land Europas beendeten sie ihn.

So lange hielten es die südlichen Niederlande nicht aus. Später als die nördlichen traten sie in den Freiheitskampf ein. Frühzeitig wendeten sie sich von ihm ab. Durch Zusicherung der herkömmlichen Rechte gelang es Spanien, einen großen Teil von ihnen wiederzugewinnen. Andere wurden durch Feuer und Schwert „bekehrt“. Schon 1579 kam es zur Spaltung zwischen Nord und Süd. Die Provinzen Artois, Hennegau und Flandern schlossen damals ein Bündnis zur Erhaltung der katholischen Religion. Ihnen gegenüber vereinigten sich die Provinzen Holland, Seeland, Geldern, Utrechf und Friesland zur Utrechter Union, die 1587 ihre Unabhängigkeit erklärte und der Keim der Republik der Vereinigten Staaten der Niederlande wurde. Einer Republik mit dem Großherzog an der Spitze. Sie stand unter erblichen „Statthaltern“ aus dem Hause Oranien. Doch kam sie zeitweise auch ohne Statthalter ganz gut aus.

Wenn auch die südlichen Niederlande bald danach trachteten, ihren Frieden mit Spanien zu machen, und dieses schließlich einsehen mußte, daß es der nördlichen Niederlande nicht mehr Herr werden könne, deren Selbständigkeit Philipp II. selbst noch vor seinem Tode (1598) indirekt anerkannte, so ging der Krieg doch noch lange fort. In seinem Verlauf gestaltete sich das Schicksal des Südens in jeder Weise gegensätzlich zu dem des Nordens. war dieser, wie schon bemerkt, als armes, ökonomisch zurückgebliebenes Gebiet in ihn eingetreten, als reichster und ökonomisch fortgeschrittenener Staat Europas aus ihm hervorgegangen, so hatte der Süden bei seinem Beginn eines der reichsten und höchstentwickelten Gebiete Europas gebildet. Der Friede mit dem Absolutismus besiegelte seine völlige Stagnation, in der es zwei Jahrhunderte lang blieb.

Der Krieg und die Unterwerfung unter den Absolutismus hatte den ökonomischen Niedergang freilich nicht geschaffen, sondern nur schon vorhandene Tendenzen rascher und stärker zur Wirkung gebracht. Mit dem Zeitalter der Entdeckungen beginnt auch das des überseeischen Welthandels. In dem eine Rolle zu spielen, dazu waren die südlichen Niederlande bei ihrem Mangel an Häfen schlecht geeignet. Der lokale Durchgangshandel verlieh aber keine ökonomische Bedeutung mehr, Belgiens Nachbarn, die nördlichen Niederlande, Frankreich, England waren durch ihre natürlichen Bedingungen weit besser befähigt, den Welthandel zu sich zu ziehen, damit aber auch ihre Großindustrie – damals noch vornehmlich Textilindustrie –zu entwickeln und die benachbarte Konkurrenz zurückzudrängen. So verloren die spanischen

Niederlande ihren Vorrang auch auf dem Gebiet der Industrie. In Ypern zum Beispiel gab es 1517 noch 600 Webstühle, 1554 nur noch 100. Gent, das um das Jahr 1200 20.000 Weber gezählt haben soll, hatte 1543 gar nur noch 25 Webstühle im Betrieb. Ein Rückgang wäre auf jeden galt eingetreten. Doch wurde er unzweifelhaft verstärkt durch die spanische Politik, die sich überall als eine der Industrie feindliche erwiesen hat, überall die tüchtigsten und selbständigsten Arbeiter vertrieb. Der Gegensatz zwischen Nord und Süd der Niederlande äußerte sich nicht bloß als Gegensatz zwischen Absolutismus und Republik, zwischen Stagnation und stürmischem Aufschwung, sondern auch als Gegensatz in der Religion zwischen Katholizismus und Kalvinimus, zwischen Inquisition und Toleranz.

Wie wir schon wiederholt bemerkt haben, war der Kalvinismus die Religion rebellischer Adligen und Städte. Ihn akzeptierten auch die Mehrzahl der rebellischen Niederländer. Mit dem spanischen Regime blieb dagegen der Katholizismus im Süden siegreich. Die ökonomische Stagnation trug dazu bei, nicht nur seine Macht, sondern auch sein Ansehen bei der Bevölkerung zu heben. Sie war ökonomisch schon so weit gekommen, ein zahlreiches Proletariat zu entwickeln. Die Stagnation raubte diesem immer mehr seine industrielle Beschäftigung. Es wurde abhängig von der öffentlichen Wohltätigkeit und damit von der Kirche, deren großer Reichtum ihr gestattete, den Arbeitslosen und den verhungernden Heimarbeitern mit Almosen zu Hilfe zu kommen. Seitdem beherrschte sie einen großen Teil des belgischen Proletariats.

Natürlich dudete der Staat in den spanischen Niederlanden nur die katholische Kirche, Die Republik der vereinigten Niederlande wurde dagegen das erste europäische Gemeinwesen, das noch während der Religionskriege den Grundsatz der religiösen Toleranz verkündete, in seiner kalvinistischen Mitte Katholiken, Juden, Mennoniten usw. duldete, allerdings nicht ohne gelegentliche Rückfälle in Glaubenskampf.

Wenn in dem spanisch gebliebenen Teil der Niederlande der Absolutismus siegte, so ist das nicht so zu verstehen, daß ihnen ihre alten Freiheiten sämtlich genommen wurden. Deren Anerkennung war vielmehr unerläßlich gewesen, den Aufstand zu dämpfen. Aber nur die lokalen, provinziellen und städtischen Rechte und Freiheiten wurden auf diese Weise gewahrt. Das politische Leben der Gesamtheit hörte völlig auf. Das Organ der Gesamtheit der Provinzen, die Generalstaaten, wurden 1600 zum letzten Male versammelt. Auf die Politik des spanischen Staates, dem sie angehörten, hatte nicht einmal der Adel der spanischen Niederlande den mindesten Einfluß. In beschränkter und tatloser Kleinstädterei und Provinzlerei verkam das ganze politische und geistige Leben. Das wurde nicht besser dadurch, daß der ganze spanische Staat verfiel, der sich in dem Streben erschöpfte, gleichzeitig die stärkste Land- und Seemacht der Welt zu sein und zu bleiben.

Ein schreienderer Gegensatz ist kaum denkbar als der zwischen den nördlichen und den südlichen Niederlanden seit ihrer Trennung im Freiheitskampf. Unter dem Regime der siegreichen Revolution frisch pulsierendes Leben, rastlose Bewegung, glänzender ökonomischer und geistiger Aufschwung. In dem Gebiet der mißlungenen Revolution dagegen Stumpfsinn, Trägheit, Versumpfung und Beschränktheit auf allen Gebieten, der Pflanzenschlaf des Philistertums.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019