Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


5. Belgien französisch


Was England so lange verhindert und Ludwig XIV. vergeblich erstrebt hatte, das gelang der Republik: die Einverleibung Belgiens in Frankreich. Aber es gelang ihr noch mehr. Der spanische und der österreichische Absolutismus hatten über dreihundert Jahre lang, von Maximilian I. bis zu Josef II., vergebens gesucht, die lokalen Sonderrechte ihrer niederländischen Untertanen aufzuheben oder zu beschränken. Vor der Revolution verschwanden diese Sonderrechte auf einem Schlage. An Stelle der historisch überlieferten niederländischen Provinzen trafen neue Departements. Alle Sonderrechte der Provinzen, des Adels, der Zünfte hörten auf, alle Belgier waren unterschiedslos Franzosen, für alte galt das gleiche Recht. Sie alle wurden in der gleichen Sprache verwaltet, der französischen, die allein im Staatsleben galt.

Am wunderbarsten aber ist folgendes, und es bezeugt die große werdende Kraft, die von einer von der Volksmasse getragenen, ihren Bedürfnissen dienenden Revolution ausgeht: die Belgier, die bisher so unbotmäßig jedem fremden Regiment gegenübergestanden hatten, sie fügten sich willig dem französischen Regime, ja es gewann sogar ihre Anhänglichkeit selbst unter den Flämen, unter denen der Gebrauch der französischen Sprache, wenigstens in den Städten, nun rasche Fortschritte machte.

Wir finden dort unter den flämischen Belgiern dieselbe Erscheinung wie bei den Deutsch sprechenden Elsässern und Rheinländern. Als die letzteren 1815 an Preußen kamen, waren unter ihnen die französischen Sympathien noch ungemein stark. Diese erloschen erst in dem Zeitraum von 1848 bis 1870. Diese Erscheinung ist nur zu verstehen, wenn man den nationalen Drang, das Bedürfnis, mit den Sprachgenossen politisch vereint und von allen Sprachfremden politisch getrennt zu sein, als eine Naturerscheinung betrachtet, die unter allen sozialen und politischen Verhältnissen wirkt. Sie ist nur zu verstehen, wenn wir diesen Drang als eine Erscheinungsform des Bedürfnisses der Volksmassen nach Demokratie im modernen Staate erkennen. Sie empfinden den nationalen Drang nur unter Verhältnissen, in denen er die Demokratie, die Selbstbestimmung des Volkes fördert. Wo die Demokratie durch das Nationalitätenprogramm beeinträchtigt wurde, haben sie wenig dafür übrig.

Die|französischen Sympathien unter den Belgiern wurden indes nicht bloß durch politische Erwägungen gefördert. Außer nach Freiheit verlangen die Menschen auch nach Wohlfahrt. Dadurch, daß der Alp des Feudalismus von den Belgiern genommen und der große französische Markt ihnen ohne alle Schranken eröffnet wurde, begann die wirtschaftliche Stagnation endlich wieder von ihnen zu weichen, unter der sie jahrhundertelang gelitten. Ein Ära raschesten kapitalistischen Aufschwungs begann für sie.

Dieser wurde allerdings nicht wenig gefördert durch einen Umstand, der nicht der französischen Revolution zu danken ist. Fast gleichzeitig mit ihr beginnt das Zeitalter der Maschine, die das Handwerk und die auf Handgeschicklichkeit beruhende Manufaktur verdrängt, und beginnt die Anwendung des Dampfes als Triebkraft der Maschine. Neben der Massenproduktion und der Massenverkehr kommen aber jetzt auch die Massenheere auf, wird unter den Industriezweigen die Waffenindustrie immer wichtiger. Alles das bewirkt, daß von nun an Eisen und Kohle an Bedeutung im Produktionsprozeß stetig zunehmen, der Besitz von Eisen und Kohle den industriellen Kapitalismus enorm fördert. Kein Land in Europa außer England produziert im Verhältnis zu seiner Bevölkerung so viel Kohle wie Belgien. Eine Zeitlang förderte es sogar mehr Kohle als jeder andere Staat auf dem europäischen Festland. Noch 1845 betrug seine jährliche Förderung 5 Millionen Tonnen, dagegen die Deutschlands nur 3,5 Millionen, die Frankreichs (1851) nur 3,4 Millionen. Die Englands hatte freilich schon 1800 10 Millionen erreicht, 1845 45 Millionen. Belgien verfügt aber auch über Eisenerze. Schon im Mittelalter blühte in Lüttich die Metallverarbeitung. Nun wurde Belgien durch den Aufschwung seiner Kohlen- und Metallindustrie aus einem Aschenbrödel wieder zu einer glänzenden Erscheinung unter den Völkern Europas.

Doch zeigten sich in dem Zeitraum, in dem Belgien französisch war, nur die Ansätze zum Regime der Dampfmaschine in der Industrie. Erst Dampfschiff und Lokomotive ebneten ihrem raschen Siegeszug die Wege. Beide erhielten praktische Anwendung gerade zur Zeit, als Belgien von Frankreich losgelöst wurde (1815), die Lokomotive zunächst in EngJanb. Sie erste Eisenbahn in Belgien und auf dem Festland Europas überhaupt, mit Ausnahme der kleinen Strecke Lyon–St-Etienne (1832) wurde im Mai 1835 eröffnet.

Bis heute ist Belgien das an Eisenbahnen reichste Land der Welt. Auf 100 Quadratkilometer zählt es 29,3 Kilometer Eisenbahnen, Großbritannien nur 12,2, Deutschland 11,6 Kilometer.

Diesem glänzenden industriellen Entwicklungsgang wurde der Weg gebahnt durch die französische Revolution. Er wäre unmöglich gewesen auf der politischen und sozialen Grundlage, die in Belgien bis zur Revolution bestand.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019