Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


7. Die flämische Bewegung


Der belgische Staat wurde eine Monarchie, aber trotzdem blieb es das Ergebnis einer revolutionären Erhebung, ein Nachhall der großen französischen Revolution. Dabei freilich das Werk einer Bevölkerung mit tiefgewurzelten Traditionen, starkem Konservatismus, deren Gemüter in hohem Maße von der katholischen Kirche beherrschr wurden. Er war das Ergebnis einer nationalen Erhebung gegen eine Fremdherrschaft, und doch sprach die Mehrheit der belgischen Nation die Sprache der Fremdherrschaft und verstand nicht die des eigenen, durch Selbstbestimmung der Nation begründeten Staates.

Infolge des revolutionären Ursprungs des Staates war die Regierungsgewalt dem Volke gegenüber nicht sehr stark. „Alle Gewalten gehen von der Nation aus,“ heißt es in der belgischen Verfassung. Das Volk bekam eine Bewegungsfreiheit in Presse, in Versammlungen und Vereinen, wie sie in dem reaktionären, absolutistischen, vom Polizeigeist erfüllten kontinentalen Europa jener Zeit ganz unerhört war. Sie wurde weniger beschränkt als in der französischen Julimonarchie, die doch auch das Produkt einer Revolution war. Als Karl Marx infolge des Drängens der preußischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen wurde, fand er eine Freistatt in Belgien (1845). Ihm folgte dorthin der 1847 aus Frankreich ausgewiesene Bakunin. Bis 1848 lebte Marx in Brüssel im Verein mit Engels. Dort arbeiteten sie die Grundlagen ihrer neuen Lehre aus, dort schufen sie das Kommunistische Manifest. Soweit man ein einzelnes Land das Ursprungsland des Marxismus nennen will, darf Belgien auf diese Bezeichnung Anspruch erbeben. Als Durchzugsland, in dem deutsche, französische, englische Einflüsse und Ideen sich treffen, bot es den richtigen Boden für eine internationale Lehre, die deutsche Philosophie, englische Ökonomie, französischen Revolutionsgeist zu einer höheren Einheit vereinigte.

Die glänzende Medaille der belgischen Freiheit hatte indes ihre dunkle Kehrseite. Diese Freiheit war auch die schrankenloseste Freiheit der Ausbeutung für das industrielle Kapital.

Mächtig wuchs dieses in Belgien an, verhältnismäßig fast ebenso gewaltig wie in England, viel rascher als in Holland, jener vulgären Anschauung zum Trotz, die in einem großen Kolonialbesitz die unentbehrliche Vorbedingung für das industrielle Gedeihen der modernen Völker sieht.

Aber lange fehlte das Gegengewicht, eine machtvolle Bewegung des Proletariats. Beherrscht von der katholischen Kirche, kam es spät dazu, selbständige Regungen zu entwickeln.

Wir haben gesehen, welche Macht die katholische Kirche seit dem Mittelalter in den südlichen Niederlanden besaß. Der Umsturz von 1830 schwächte sie in keiner Weise. Sie wurde durch ihn vielmehr gestärkh die Erhebung gegen die Holländer bedeutete ja die Abwerfung der Herrschaft einer protestantischen Staatsgewalt. Belgien wurde merkwürdigerweise das Idealland nicht nur der liberalen Kapitalisten, sondern auch der schwärzesten Klerikalen. Es war das Land, das wie dem Kapital, so auch der Kirche vollste Freiheit ließ – und zwar nicht eine Freiheit wie in den Vereinigten Staaten, wo der Staat sich um die Kirche nicht kümmert, sie nicht bevormundet, aber auch nicht schützt. „Die Kirche wurde vom Staate getrennt, ... aber die Kirche behielt die Privilegien, die ihr der Staat vor der Trennung zuerkannte.“ (Seignobos, Politische Geschichte des modernen Europa, Leipzig 1910, S. 210) In Belgien hat der Staat nichts in die Kirche dreinzureden, diese aber sehr viel in den Staat. Sie gehört zu den ihn beherrschenden Mächten. Mehr noch als andere dieser Mächte ist die katholische Kirche an der Unwissenheit ihrer Gläubigen interessiert, denn das moderne Wissen ist zu unvereinbar mit den von ihr gepredigten Anschauungen. Die Industriellen und Kaufleute brauchen intelligente Arbeiter, der moderne Militarismus intelligente Soldaten, aber die Kirche hat kein Bedürfnis nach einer intelligenten Volksmasse.

Dank ihrem Einfluß ist heute noch die Volksbildung in Belgien aufs äußerste vernachlässigt. Erst 1914 wurde in Belgien der Schulzwang eingeführt, noch 1866 konnte die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben; 1880 betrug die Zahl der Analphabeten noch 30 Prozent, 1910 13 Prozent.

Zu dieser Unwissenheit gesellte sich die Abhängigkeit weiter Schichten der proletarischen Bevölkerung von der kirchlichen Wohltätigkeit sowie die starke Wirkung bäuerlicher und kleinbürgerlicher Traditionen. So dauerte es lange, ehe eine proletarische Klassenbewegung im modernen Sinne einsetzte. Lange beschränkten sich die proletarischen Gegenwirkungen gegen den Kapitalismus auf gelegentliche gewaltsame Verzweiflungsausbrüche, die brutal niedergeschlagen wurden, und auf kleinbürgerlich-proudhonistische Experimente. Sehr spät erst kam eine politische und gewerkschaftliche Massenbewegung auf, und sie fand in höchst eigenartiger Weise ihren Ausgangspunkt und ihre Grundlage in einem Starken Konsumvereinswesen.

In der ersten Internationale war Belgien wohl schon vertreten, doch schwankte es zwischen Marx und Bakunin. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei Belgiens datiert vom Jahr 1885.

Lange blieben die Kapitalisten Belgiens völlig ungestört im Besitz ihrer politischen Macht, die sie sich durch einen hohen Wahlzensus sicherten, den erst 1894 der proletarische Massenansturm beseitigte.

Fast ebensolange dauerte es, bis Belgien auch nur die dürftigsten Ansätze eines Arbeitsschutzes zuteil wurden. Den Anfang machte eine Verordnung im Jahre 1884, die in den Bergwerken die Beschäftigung von Knaben unter 12 Jahren und Mädchen unter 14 Jahren verbot: welch scheußliche Zustände deckt diese Schutzbestimmung auf, und welch scheußliche Zustände ließ sie bestehen!

In seinem Kapital konnte Marx von Belgien noch 1867 sagen, daß „das Paradies des kontinentalen Liberalismus keine Spur dieser Bewegung (nach Arbeiterschutz) zeigt. Selbst in seinen Kohlengruben und Metallminen werden Arbeiter beider Geschlechter und von jeder Altersstufe mit vollkommener ‚Freiheit‘ für jede Zeitdauer und Zeitperiode konsumiert.“ (Volksausgabe, S. 247)

Erst in den letzten Jahrzehnten ist das unter dem Drucke der Arbeiterbewegung etwas besser geworden.

Die erste Opposition, die das herrschende Regime fand, war nicht eine soziale, sondern eine nationale Bewegung. Die der Flämen setzte früher ein als die der Proletarier.

Nur von dieser nationalen Bewegung wollen wir hier handeln. Wer sich über die sozialistische unterrichten will, den verweisen sir auf das Ergänzungsheft Nr. 9 der Neuen Zeit (März 1911) von L. de Brouckère und H. de Man über Die Arbeiterbewegung in Belgien. Unter den belgischen Fragen, die der Krieg in den Vordergrund gedrängt hat, spielf die sozialistische Bewegung keine Rolle, wohl aber die flämische.

Die französische Herrschaft hat Belgien eine Staatssprache gebracht, naturgemäß die französische. Doch schon vorher war diese die Sprache der Gebildeten auch in den flämischen Teilen, namentlich in den großen Städten geworden.

Im Mittelalter, als das flämische Belgien der ökonomisch fortgeschrittenste Teil Nordeuropas war, erlangte es auch in der Kunst und Literatur eine führende Rolle, wurde seine Sprache als Kultursprache anerkannt. Mit seiner wirtschaftlichen Kraft ging auch seine geistige Bedeutung zurück. Und damit die seiner Sprache. Diese wurde nur noch con unwissenden Bauern und Kleinbürgern angewendet und verlor jede Fähigkeit, Begriffe und Ideen auszudrücken, die über deren engen Gesichtskreis hinausgingen. Daß traf gerade in der Zeit ein, in der das Lateinische aufhörte, die Sprache der Wissenschaften zu sein, indes diese gleichzeitig mächtig anwuchsen, Welthandel und Technik sowie soziale und politische Umwälzungen den geistigen Horizont Europas gewaltig erweiterten und die Nationen, die an diesem Prozeß tatkräftig teilnahmen, Schriftsprachen entwickelten, die tauglich waren, die Flut neuer Ideen In Worte zu fassen, zu bemeistern, zu verbreiten.

Die flämische Sprache blieb von dieser Umwälzung völlig unberührt. Die andere der beiden sprachen Belgiens dagegen, die französische, war die Sprache jenes Staates, der im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in Europa politisch, ökonomisch und auch intellektuell am mächtigsten wurde, die Sprache, die von der Aristokratie und der internationalen Politik ganz Europas angenommen wurde. Kein Wunder, daß je mehr die flämischen Dialekte zur Sprache der Bauern wurden, desto mehr zum Französischen alle Belgier griffen, die über das bäuerliche oder kleinbürgerliche Dasein hinaus wollten.

Während im dreizehnten Jahrhundert die Flämen für Deutschland in der Kultur und Literatur tonangebend waren und „Vlaeminc“ einen „feingebildeten Mann“ bezeichnete, änderte es seine Bedeutung, nachdem Adel und Patriziertum in Flandern französiert waren und nur noch der Bauer und Kleinbürger flämisch redete. Nun, bedeutete „Vlaeminc“ sogar in Flandern selbst soviel wie Bauer oder Tölpel, und als solcher war es eine stehende Figur in Schauspielen bis ins neunzehnte Jahrhundert. (F. Jostes, Die Vlaamen im Kampf um ihre Sprache und ihr Volkstum, Kriegsvorträge der Universität Münster, Heft 15/16, Münster 1915, S. 7)

Als Belgien holländisch wurde, setzte das neue Regime an die Stelle des französischen die niederländische Schriftsprache als Staatssprache. Diese berührte aber sogar die Flämen selbst vielfach als fremde Sprache, da sie in ihrer Unwissenheit nur ihre provinzialen Mundarten kannten. Das Französische hatte dagegen so feste Wurzeln auch in den flämischen Provinzen gesetzt, daß das holländische Regime dem Rechnung tragen mußte.

Die offiziellen Dokumente wurden in den wallonischen Provinzen französisch, in den flämischen holländisch und französisch abgefaßt. Im Jahre 1822 führte die Regierung das Holländische als Gerichtssprache für die flämischen Teile ein, stieß aber dabei auf dem erbitterten Widerstand der Advokaten, die auch in jenen Gebieten französisch sprachen. Sie erreichten schließlich, daß ihnen gestattet wurde, französisch zu plädieren, wenn ihre Klienten damit einverstanden waren.

Nach der Trennung von Holland wurde das Französische wieder vollständig die Sprache der Behörden, der Armee, der Gerichte, der höheren Schulen. Allerdings stand nach dem Gesetz jedermann der Gebrauch des Flämischen frei. Aber was nutzte es ihm, wenn die Offiziere, die Richter, die Behörden ihn nicht verstanden und ihm französisch antworteten, alle offiellen Dokumente französisch lauteten!

Diesen Zustand konnten die Flämen nur ertragen, solange sie in ihrer Rückständigkeit keinen Anteil am Staatsleben nahmen. Aber so sehr auch ihr Unterricht vernachlässigt war, so wenig ihre Dörfer und kleinen Städte von der industriellen Umwälzung berührt warben, die hauptsächlich den wallonischen Teil und die französierten größeren Städte traf, sie blieben doch vom modernen Verkehr und von dem Drang nach Volksbildung nicht völlig unberührt, und mit deren Vordringen erwacht auch das Interesse am Staatsleben, an der modernen Demokratie. Seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts ersteht nicht nur eine belletristische, sondern auch eine politische Literatur in flämischer Sprache, und rasch erstarkt eine Bewegung um die Gleichberechtigung der flämischen Sprache im Staate. Ursprünglich war sie radikal demokratisch, aber bald erkannten die Klerikalen, wie wertvoll ihnen diese wesentlich kieinbürgerlich-bäuerlich-partikularistische Bewegung werden konnte, die ihre Kraft aus der Verherrlichung der Vergangenheit zu ziehen suchte, und sie bemächtigten sich ihrer.

Die Wandlung des Vorkämpfers der flämischen Bewegung, Conscience, bezeugt diesen Vorgang in anschaulicher Weise.

Im Jahre 1837 schrieb H. Conscience seinen Roman: Im Wunderjahr 1566, den „ersten großen Roman, der eine neue flämische Literatur nach einem Stillstand von mehr als zweihundert Jahren einleitete ... In leidenschaftlicher Sprache schilderte er den Freiheitskampf gegen spanischer Herrschaft und römisch-katholische Inquisition und erweckte zuerst in seinem Volke das Gefühl von Stolz auf die Taten früherer Geschlechter.“ (P. Oßwald, Der Nationalitätenkampf der Flämen und Wallonen, Preußische Jahrbücher, Mai 1914, S. 223)

Aber man begründet nicht ungestraft eine demokratische Bewegung auf dem Sehnen nach einer großen Vergangenheit, statt auf dem nach einer größeren Zukunft.

Seine Schwärmerei für das Mittelalter machte Conscience reif für die katholische Sache.

Die klerikale Partei sah sich durch die neue flämische Bewegung in ihrem eigenen Lager bedroht. Mit großem Geschick wußte sie sich an die Spitze dieser Bewegung zu bringen, um sie in ihrem Sinne zu lenken, die liberalen Regungen im Flämenland zu unterdrücken und doch zugleich die ganze Bewegung als Kampfmittel gegenüber der herrschenden wallonischen Rasse zu haben. Die Zahl der Anhänger der neuen flämischen Bewegung war noch nicht groß. Glückte es, die Führer zu gewinnen, so war das Ziel erreicht. Und tatsächlich gelang es, Conscience in den Schoß der klerikalen Partei zurückzuführen, so daß er in der zweiten Ausgabe seines Romans Im Wunderjahr 1566 alle Stellen ausmerzte, die sich gegen die Inquisition und die Herrschaft der römischen Kirche gerichtet hatten. In dieser Form ist der Roman dann fast in allen europäischen Sprachen übersetzt worden. Andere Werke von sich stellte Conscience direkt unter die geistliche Zensur. (Oßwald, a. a. O., S. 224)

Dafür widerfuhr ihm die Ehre, das es der Fürstbischof von Breslau selbst war, der 1846 seinen kastrierten Roman ins Deutsche übersetzte, daß ihm ein preußischer, ein bayerischer, ein holländischer Orden zuteil wurden.

Das verlieh dem Dichter frischen Mut und dem flämischen Volke Selbstbewußtsein. (Jostes, a. a. O., S. 13)

Auf solche Grundlagen wurde bald die flämische Bewegung gestellt. Sie entwickelte sich zur Hauptstütze des klerikalen Kampfes gegen den Liberalismus, der den Flämen direkt als „die Partei Frankreichs“ denunziert wurde. Dabei blieb jedoch die flämische Bewegung ein Ausdruck demokratischer Bedürfnisse politisch aufstrebender Volksmassen, ein Ausdruck von Bedürfnissen, die mit der Entwicklung des Kapitalismus und seines Verkehrs unaufhaltsam wuchsen, aber auch an Kraft zunahmen. So vermochte der Klerikalismus Belgiens, ganz im Gegensatz zu dem Frankreichs, durch seine Beherrschung des Flämentums zugleich mit diesem zu erstarken. Beide haben sich gegenseitig gehoben. Die letzten Jahrzehnte sind für Belgien eine Zeit dauernder Herrschaft des Klerikalismus, aber auch wachsender Gleichberechtigung der flämischen Sprache.

In der Zeit von 1830 bis 1846 finden wir in Belgien 15 Jahre lang liberal-klerikale Koalitionsministerien und 1840 ein liberales Ministerium. Von 1846 bis 1884 treten dort drei klerikale Ministerien auf, die zusammen 11 Jahre im Amte sind, und drei liberale, die zusammen 27 Jahre behaupten. Da überwiegen also die Liberalen. Seitdem finden wir dagegen ein ununterbrochenes klerikales Regime.

In den wallonischen Gebieten wurde der Liberalismus zurückgedrängt durch die Sozialdemokratie, die gleich jenem in den Französisch sprechenden Teilen der Bevölkerung ihren Schwerpunkt findet. In der Sozialdemokratie entstand aber dem Streben der Flämen nach Gleichberechtigung ihrer Sprache ein neuer Helfer, da die internationalen und demokratischen Grundsätze des Sozialismus von vornherein diese Gleichberechtigung erheischen.

So machte die flämische Sache ununterbrochene Fortschritte. Das erste Sprachengesetz wurde 1873 erlassen. Es läßt für die flämischen Provinzen das Flämische als Gerichtssprache in dem Falle zu, daß der Angeklagte kein Französisch versteht. Unaufhaltsam folgten weitere Fortschritte der Gleichberechtigung in den Ämtern und in der Armee. Im Jahre 1898 kam das erste Gesetz, das eine Doppelsprachigkeit für ganz Belgien festsetzt. Alle Gesetze und Verordnungen müssen seitdem französisch und niederländisch erscheinen. Noch unmittelbar vor dem Kriege 1913, wurde ein Sprachengesetz angenommen, das für alle Offiziere und Unteroffiziere in der Armee Kenntnis der beiden Ladessprachen obligatorisch macht.

Nicht so rasch wie in der Gesetzgebung sind die Fortschritte der Gleichberechtigung in der Verwaltung. Aber auch hier unverkennbar.

Wohl haben bei alledem die Flämen noch nicht die völlige Gleichheit erlangt. So sind sie zum Beispiel im Schulwesen noch benachteiligt. Im Jahre 1913 besaß Belgien 7.590 Elementarschulen – staatliche, kommunale, freie. In 4.224 von ihnen ist das Französische, in 3.261 das Flämische, in den Rest das Hochdeutsche Unterrichtssprache. Als zweite Sprache wird das Französische in 2.985 Schulen getrieben, in 472 das Flämische. (Jostes, a. a. O., S. 86)

Darin liegt sicher eine starke Benachteiligung der Flämen, die die Mehrheit im Lande ausmachen, aber man würde sehr irren, wollte man darin ein Zeichen staatlicher Vergewaltigung sehen.

Im Reichstag hat sich schon Haase in der Sitzung vom 30. März 1917 darüber geäußert. Er sagte:

Auch andere Handlungen der Regierung aus letzter Zeit haben uns nicht dem Frieden nähergebracht sondern haben die auswärtige Situation verschärft. Es war der Admiral Tirpitz, der in einem Neujahrsgruß an de Direktor Otto Händler in Koblenz schrieb: für 1917 sei Flandern das Losungswort. Auch dieses Losungswort des Herrn Tirpitz ist zur Parole des Reichskanzlers geworden. Der Rat der Flämen ist von ihm empfangen worden. Der Rat der Flämen – eine merkwürdige Gesellschaft – ohne jedes Ansehen und im eigenen Lande und wahrscheinlich schon vergessen, bevor der Krieg zu Ende ist.

Man spricht so viel davon, daß wir die Flämen, die unterdrückte Nation befreien müßten. Ist denn das wahr? (Zuruf.) Ja, Herr Kollege, widerlegen sie mich. Wie liegen denn die Verhältnisse? Waren nicht die Flämen im belgischen Parlament in der Mehrheit? Und sollte die flämische Mehrheit im Parlament die Unterdrückung der eigenen Stammesangehörigen beschlossen haben? Wer glaubt denn das? Die Gleichberechtigung beider Sprachen galt auf allen Gebieten, und wenn die Flämen noch nicht die Universität haben, die sie jederzeit haben konnten, so aus einem sehr einfachen Grunde, nämlich deshalb nicht, weil flämische Bourgeoisie seit jeher Französisch sprach und gar kein Interesse nach einer flämischen Universität bekundete.

Erst als die Intelligenz im flämischen Volke sich regte, also Sprößlinge aus dem flämischen Bauernvolk in die Intelligenz verpflanzt wurden, wurde die Forderung nach einer Universität laut und sie stand kurz vor Kriegsausbruch vor ihrer Verwirklichung.

Meine Herren, wir gerade sollten berufen sein, unterdrückte Nationen zu befreien? Man fange mit der Befreiung doch zunächst im eigenen Hause an. Wenn Sie das, was Sie den Flämen versprechen, ja nur das, was die Flämen schon längst hatten, den Polen, den Dänen, den Elsaß-Lothringern geben würden, deren Klagen wären mit einem Schlage beseitigt.

Dies Haases Ausführungen. Dem wurde entgegnet, daß wohl „eine flämische Mehrheit im belgischen Parlament rein wahlkreisgeometrisch herausgerechnet werden“ könne, daß aber „Begriffe wie flämische Mehrheit oder wallonische Mehrheit im belgischen Parlament überhaupt keine Begriffe sind, weil die Nationalitätsfragen den parteipolitischen Programmen bis jetzt immer untergeordnet waren“.

Das heißt aber doch nichts anderes, als daß den Flämen selbst ihre nationalen Schmerzen bisher weniger wichtig erscheinen als die allgemeine Politik, sonst würden sie sie doch dieser nicht unterordnen. Diese Bemerkung widerlegt nicht Haases Ausführungen, sie bekräftigt sie.

Wir haben im belgischen Parlament die Tatsache zu verzeichnen, daß es dort trotz vorkommender nationaler Kämpfe keine nationalen Parteien gibt. Die wallonischen und flämischen Klerikalen bilden zusammen eine Partei, ebenso wie die wallonischen und flämischen Liberalen, von den Sozialisten nicht zu reden. Man ist dort nicht zu den unglückseligen Zuständen gelangt, wie sie zum Beispiel in Böhmen zu finden sind, wo nicht bloß deutsche und tschechische Liberale, deutsche und tschechische Agrarier einanber unversöhnlich gegenüber stehen, sondern auch die deutschen und die tschechischen Sozialdemokraten gesondert und mitunter sogar gegensätzlichen Parteien bilden.

Woher sollte die staatliche Unterdrückung der Flämen kommen? Bilden sie doch die Mehrheit im Lande, liefern sie doch tatsächlich die Mehrzahl der Wähler. Und sie sind nicht bloß die Mehrheit, sie werden noch immer zahlreicher dank ihrer größeren Fruchtbarkeit. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vermehrten sich allerdings noch die Wallonen rascher als die Flämen. J. C. Horn gibt in seinen Bevölkerungswissenschaftlichen Studien aus Belgien (Leipzig 1854) für 1846 noch die Zahl der Geburten auf 1.000 Einwohner in den flämischen Provinzen auf 30, in den wallonischen auf 31, in den wallonisch-flämischen allerdings auf 33, für den ganzen Staat auf 31 an. Aber seitdem hat wie im benachbarten Frankreich, so auch im benachbarten Belgien der „Geburtenstreik“ eingesetzt. Sie relative Zahl der Geburten erreichte ihren Höhepunkt im Jahrzehnt 1861 bis 1870 mit 31,6 pro 1.000 Einwohner. Seitdem nimmt sie rapid ab. Sie betrug 1866 32,7, 1880 31,1, 1900 29,0, 1910 23,7, 1911 22,9, 1912 22,6. Dieser Rückgang ist doch keineswegs ein gleichmäßiger im ganzen Lande.

„Der wallonische Teil hat dieses französische Beispiel viel weitergehend nachgeahmt als der flämische.“ (Oßwald, Belgien, S. 27)

So nimmt die Zahl der Flämen jetzt rascher zu als die der Wallonen. Es sprachen in Belgien:

 

 

Nur
Flämisch

 

Nur
Französisch

 

Flämischer
Überschuß

1900

2.822.000

2.575.000

247.000

1910

3.221.000

2.853.000

388.000

 

Zunahme

   390.000

   258.000

 

In Prozentzahlen der Gesamtbevölkerung (ohne die Kinder, die noch nicht sprechen können) [1]:

 

 

Nur Flämisch

 

Nur Französisch

1900

44,5 Proz.

40,6 Proz.

1910

45,4 Proz.

39,9 Proz.

In Wirklichkeit ist der Überschuß der Flämen noch größer. Man zählte 1910 neben den hier angegebenen noch 871.800 Belgier, die Flämisch und Französisch, 8.700, die Flämisch und Deutsch, und 52.500, die alle drei Sprachen zu sprechen vermochten. Man darf sie überwiegend den Flämen zurechnen.

Von der doppelsprachigen Bevölkerung wohnen sechs Siebentel in den flämischen Provinzen und nur ein Siebentel im wallonischen Gebiet ... Die Wallonen lernen nur in ganz seltenen Fällen die Sprache des anderen Landesteils. (Oßwald, Belgien, S. 15)

Es ist anzunehmen, daß heute von den mehr als 7 Millionen der Bevölkerung (ohne die Kinder unter zwei Jahren) über 4 Millionen Flämen und 3 Millionen Wallonen sind.

Je demokratischer Belgien wird, desto mehr haben die Flämen den Staat in der Hand. Und sie sollten uns als niedergedrückte Opfer des „wallonischen Imperialismus“, wie mau sich ausdrückte, aufs tiefste erschüttern?

Wenn die Flämen im Schulwesen noch nicht so weit sind, wie viele von ihnen es wünschen, so verdanken sie es weit weniger der Unterdrückung durch „franko-wallonischen Imperialismus“ als Kräften, die aus ihren eigenen Reihen stammen.

Sie bilden die kräftigste Stütze des Klerikalismus, der kein Interesse daran hat, seine getreuesten Schäflein durch Verbreitung von Schulbildung mit dem Gift des modernen Wissens zu infizieren.

Im Februar 1914, unmittelbar vor dem Kriege, wurde ein Gesetz angenommen, das zum ersten Male für Belgien die allgemeine Schulpflicht festsetzte. Der Antrag, in den flämischen Provinzen das flämische als Unterrichtsprache obligatorisch zu machen, wurde mit 114 gegen 56 Stimmen abgelehnt. Unter den 56 befanden sich 7 Wallonen, unter den 114 nicht weniger als 42 flämische Klerikale. (P. Oßwald, Der Nationalitätenkampf der Flämen, S. 280)

Es waren also Flämen selbst, die jene Bestimmung zu Fall brachten.

Natürlich wird in Belgien die französische Sprache unter allen Umständen ein gewisses Übergewicht bewahren, auch wenn in staatlicher Gesetzgebung und Verwaltung beide Sprachen völlig gleichgestellt sind. Die französische Sprache als alte Weltsprache erschließt eben einen viel gewaltigeren Kulturinhalt und ein viel ausgedehnteres Verkehrsgebiet als das flämische Provinzialidiom.

Deshalb wenden sich viele Flämen dem Gebrauch des Französischen zu, die sogenannten „Franskiljons“, Französlinge, und ihnen, nicht einer staatlichen Unterdrückung gilt vor allem der Kampf der flämischen Nationalisten, die „Flaminganten“. Er ist insofern ein Kampf innerhalb des Flämentums.

Als der hervorragendste der „Franskiljons“ erscheint der Fläme Maeterlinck, der nur Französisch spricht und schreibt. Im Pariser Figaro äußerte er sich über die Flaminganten:

Die Partei der Flaminganten setzt sich zusammen aus einer Handvoll Agitatoren, denen ihre niedere Herkunft von Bauern und ein unvollständiger Unterricht die Möglichkeit genommen hat Französisch zu lernen. Ihre Unwissenheit hat sich verwandelt, und während sie eine Sprache verabscheuen, bei deren mündlichem oder schriftlichem Gebrauch sie sich lächerlich machen, haben sie aus verschiedenen Volksdialekten eine Art künstlichen Jargon geschaffen, gespreizt, verschroben, ohne Entwicklungsfähigkeit, der nicht einmal von denen verstanden wird, denen sie ihnen als Muttersprache aufhalsen, und den die wirklichen flämischen Dichter – es gibt deren einige – und die Holländer mit beißendem Spott überschütten ... Beschützt werden sie vom flämischen Klerus, dem unwissendsten der Welt. Dank dem unergründlichen Kauderwelsch, das er anpreist, hält er mehr als zwei Millionen Bauern unter seiner Herrschaft, zu denen kein Lichtstrahl von auswärts zu dringen vermag.

Das ist reichlich grob, sicher auch nicht gerecht. Über die Qualitäten der flämischen Sprache vermag ich freilich kein Urteil zu fällen. Aber wie falsch oder doch übertrieben Maeterlinck über das Flämische als Kunstmittel urteilen mag, daß die Beschränkung auf das Flämische den Geist beengt, geben Flaminganten selbst zu.

Jostes zitiert eine Schilderung der Sprachverhältnisse Flanderns aus der Feder eines hervorragenden Flaminganten, des Dr. Hugo Verriest. Wir entnehmen ihr folgendes Geständnis:

Unser ganzes höheres Leben ist französisch! Ich bin beschämt, wenn ich mich prüfe und ich sage dann leise: ich sollte am besten schweigen, denn ich bin auch ein halber Franzose ... Und ihr seid halbe Franzosen. Unsere Wissenschaft und Gelehrsamkeit, unsere Kunst war französisch, unser Anstand und unsere Höflichkeit ist französisch, das öffentliche Leben ist französisch, das eure, das meine, das unsrige ... Unsere Wissenschaft und Gelehrsamkeit ist französisch. Darin und darüber denken wir französisch, sprechen wir französisch und würden wir nicht flämisch sprechen können. Das wissenschaftliche flämische Wort lieft nicht in unserem Kopfe, es erwacht nicht auf Zunge und Lippen. Es ist bei uns nicht vorhanden. – Französisch!

Ja, ich weiß noch so gut, wie ich Wasser und Blut schwitzte, da ich als Professor der Poesie zu meiner ersten flämischen Unterrichtsstunde in flämischer Sprache ging. Das ist allerdings jetzt anders geworden, und das flämische fließt und plätschert viel freier von den Lippen als das Französische, aber nur in diesem Fache. Nicht in der Mathematik, nicht in der Meßkunde, nicht in der Naturwissenschaft, nicht in hundert anderen Dingen. Sie liegen in meinem Kopfe auf französisch in der Ecke. (Jostes, a. a. O., S. 30, 31)

Also auch für die Flaminganten ist das Französische unerläßlich, wenn es sich nicht auf die Gegenstände des Alltags beschränken will.

Und das gilt nicht nur für die Wissenschaft. Jostes selbst, selbst ein begeisterter Verfechter der flämischen Sprache, sagt von ihrer Presse:

Die flämischen Zeitungen sind zahlreich: von 1860 bis 1890 war die Zahl von 90 auf 298 gestiegen und seitdem entsprechend weiter, aber sie sind im ganzen minderwertig, und mit wenigen Ausnahmen sind die politischen Zeitungen sogenannte Käseblätter. (A. a. O., S. 49)

Demgegenüber stützen sich die französischen Blätter Belgiens auf die große Pariser Presse, die auch direkt rasch dort eindrang, Diese Konkurrenz war für die flämische Presse sicher sehr unangenehm. Aber eine Methode staatlicher Unterdrückung bedeutete sie keineswegs.

Der Kampf der Flaminganten ist zwiespältiger Natur, halb fortschrittlich, halb reaktionär. Auf der einen Seite bedeutet er eine Bewegung zur kulturellen Hebung der arbeitenden Klassen des flämischen Volkes, die in ihren elenden sozialen Verhältnissen nicht die Möglichkeit besitzen, zur Beherrschung einer zweiten Sprache zu gelangen. Der Flamingantismus strebt danach, die Muttersprache der Massen, die einzige Sprache, die sie verstehen, zu einem tauglichen Werkzeug der Vermittlung höherer Kultur zu gestalten, die Literatur, die Schulen dieser Sprache zu vermehren und zu vervollkommnen. Das ist die demokratische, dem internationalen Sozialisten sympathische Seite des Flamingantentums. Aber auf der anderen Seite sucht es flämische Elemente, denen die Möglichkeit geboten ist, sich einer zweiten Sprache zu bemächtigen, die einen unendlich weiteren Gesichtskreis, einen unendlich größeren Kulturinhalt vermittelt als die flämische, daran zu hindern, diese Sprache zu ihrer Verkehrssprache zu machen. Es brandmarkt den Franskiljon als Verräter an seinem Volke. Es predigt die nationale Abschließung der Flämen, fördert provinzialen Partikularismus und bäuerliche Borniertheit. Insofern wirkt es reaktionär, hemmt es die Aufschwung der heute Flämisch sprechenden Massen. Diese Seite des Flamingantentums entspringt nicht aus den Bedürfnissen der arbeitenden Klassen des flämischen Volkes, sondern bloß aus denen seiner Intellektuellen, namentlich feiner Schulmeister und Journalisten, aller jener, die in dem Flämisch sprechenden Teil der Bevölkerung den Absatzmarkt für ihre Arbeiten und deren Ergebnisse suchen. Es ist eine Bewegung zum „Schutze der nationalen Arbeit“, ähnlichen Motiven entspringend wie die Schutzzollbewegung der Fabrikanten. Diese Seite muß die internationale Sozialdemokratie im Flamingantentum wie in jeder anderen nationalen Bewegung ablehnen.

Der Gegensätze zwischen Franskiljons und Flaminganten, zwischen Flämen und Wallonen haben zeitweise starke Reibungen hervorgerufen, aber bei alledem haben sich die Flämen nie als Nation gebärdet, die der Befreiung von außen bedarf. Staatlich sind sie in keiner Weise unterdrückt, beherrscht doch in Belgien das Parlament den Staat und bilden sie wie in der Bevölkerung so im Parlament die Mehrheit. Dem flämischen Übergewicht an Zahl wirkt freilich auf wallonischer Seite das Übergewicht höherer industrieller Entwicklung und das Übergewicht einer Weltsprache gegenüber einem Provinzialdialekt entgegen. So halten sich die beiden Sprachgemeinschaften nahezu die Wage. Man kann auf keinen Fall von einer flämischen Irredenta, einer im Staate rechtlosen Minderheit sprechen.


Fußnote

1. In den Zählungen vor 1900 wurden diese Kinder zu der Sprachgruppe gezählt, zu der der Haushalt gehörte, in dem sie lebten. Seit 1900 werden sie gesondert aufgeführt. Daher sind die früheren Zahlen nicht mit den späteren vergleichbar.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019