Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


9. Belgiens Zukunft


a. Belgien und Luxemburg

Die Forderungen, die die internationale Sozialdemokratie für Belgien beim Friedensschluß zu erheben hat, sind sehr einfacher Natur. Wir haben es hier nicht, wie in Serbien, mit einem Staat und einer Nation zu tun, die an der Schwelle des Kapitalismus stehen, im Werden begriffen sind, mit unsicheren und unsteten Grenzen. Belgiens Grenzen stehen fest seit fast hundert Jahren seit 1830. Sie fallen im wesentlichen zusammen mit den Grenzen, die die österreichischen Niederlande wieder fast ein Jahrhundert lang umfaßten, von 1714 bis 1794, die ihrerseits nur eine Fortsetzung bildeten der Grenzen der im Unabhängigkeitskampf spanisch gebliebenen Niederlande, seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts.

Die Bevölkerung dieses Gebiets hat sich seit jeher voll des trotzigsten Unabhängigkeitssinns erwiesen und ihn durch die Tat bezeugt, selbst in den Jahrhunderten, in denen das ganze kontinentale Europa schrankenlosesten Absolutismus als eine Selbstverständlichkeit ruhig hinnahm und Völker wie Schafherden geraubt, verkauft, vererbt wurden.

Im zwanzigsten Jahrhundert, dem Jahrhundert unwiderstehlich fortschreitender Demokratie, einem solchen Volke die Selbstbestimmung vorenthalten wollen, wäre eine Sinnlosigkeit, die sich aufs bitterste rächen würde.

Die Wiederherstellung Belgiens in voller Freiheit in seinen alten Grenzen ist daher für die internationale Sozialdemokratie eine Selbstverständlichkeit. Wir sehen hier vollständig ab von den Umständen, unter denen Belgien in den Krieg hineingezogen wurde und die im Rahmen dieser Schrift nicht näher erörtert werden können.

Die einzige Änderung der Grenzen, die Belgien seit 1830 erfuhr, betrifft Luxemburg. es gehörte zu den vom Hause Habsburg zusammengeheirateten Gebieten, wurde 1555 spanischer, 1714 österreichischer Besitz zusammen mit Belgien. Zusammen mit diesem Gebiet wurde es auch 1794 vom revolutionären Frankreich erobert und annektiert. Der Wiener Frieden 1815 wies es wieder zusammen mit Belgien, dem neugebackenen König der Niederlande zu, aber als besonderes Großherzogtum, das gleichzeitig deutscher Bundesstaat war.

Bei der Revolution von 1830 teilte es abermals Belgiens Geschick, dem es sich anschloß. Bei der endgültigen Auseinandersetzung zwischen Belgien und Holland 1839 aber wurde es zerrissen, ein Teil fiel an Belgien, ein anderer wurde dem Königreich der Niederlande zurückgegeben, blieb jedoch ein besonderes Großherzogtum mit einer besonderen Erbfolgeordnung und deutscher Bundesstaat.

Derartige verzwickte Verhältnisse gehörten zu den Schönheiten des vom Wiener Kongreß geschaffenen Deutschen Bundes. So war auch der König von Dänemark als Herr Holsteins und Lauenburgs deutscher Bundesfürst. Durch die Auflösung des Deutschen Bundes 1866 bekam der niederländische König Wilhelm III. die freie Verfügung über Luxemburg, und er hing so wenig an diesem Lande, das er sich anschickte, es an Frankreich zu verkaufen. Wir haben schon gesehen, daß Bismarck dies verhinderte, aber bereit war, Luxemburg an Belgien gelangen zu lasen, mit dem es bereits in enges Gemeinschaft gewesen war.

Im Jahr 1890 wurde wegen der verschiedenen Erbfolge Luxemburg von den Niederlanden losgelöst, denn der König Wilhelm III. hinterließ keine männlichen Erben, in Luxemburg galt aber nicht die weibliche Erbfolge. So kam es, durch Erbschaft, nicht durch Selbstbestimmung seiner Bevölkerung, an das Haus Nassau.

In ihrer Denkschrift an das holländisch-skandinavische Komitee in Stockholm fordern jetzt die belgischen Delegierten (Vandervelde, Brouckère, de Man), daß der Einwohnerschaft Luxemburgs im Friedensvertrag das Recht gegeben werde, selbst ihre Staatszugehörigkeit zu bestimmen. Entschiede sie sich für den Anschluß an Belgien, dann sollte ihr der nicht verweigert werden.

Dagegen läßt sich vom Standpunkt des internationalen Sozialismus nichts einwenden. Daß damit ein alter Wunsch Bismarcks erfüllt würde, ist allerdings für uns nicht entscheidend.
 

b. Flämentum und Deutschtum

Auf der anderen Seite wird darauf hingewießen, daß die Flämen doch Germanen, den Deutschen sprachverwandt seien und von den Wallonen unterdrückt würden. Ihre Befreiung und Angliederung an Deutschland sei dringend geboten.

Würden die Flämen sich in freier und ruhiger Abstimmung nach dem Kriege in diesem Sinne entscheiden, ließe sich gewiß nichts dagegen einwenden. Aber die Erfahrungen vor dem Kriege sprechen nicht dafür, daß die Flämen die Loslösung von Belgien wünschen. Die flämische Bewegung, von der wir ja schon gehandelt, darf nicht in diesem Sinne gedeutet werden. Das bezeugen unter anderem die beiden von uns schon mehrfach zitierten deutschen Schriftsteller, deren deutscher Patriotismus außer Zweifel steht.

In seinem Artikel über den Nationalitätenkampf der Flämen und Wallonen (erschienen Mai 1914) sagt Oßwald:

Den Ruf nach Verwaltungstrennung hören wir bei den Flämen nur vereinzelt, da der Fläme sich heute noch immer als Belgier fühlt. Der Vorwurf: Pangermanist zu sein, läßt ihn die geringste Annäherung an Deutschland vermeiden; der religiöse Gegensatz gestaltet auch sein Verhältnis zum Holländer kühl ... Die Flämen wollen selbst ihr Ziel erkämpfen, Hilfe von auswärts würden sie sogar zurückweisen. (S. 241, 244)

Jostes teilt mit, daß nach 1830 Versuche gemacht wurden, die Flämen den Deutschen näherzubringen. Die Gesangvereine sollten dazu dienen. Aber nach dem Jahre 1848

verlor die Verbrüderung an Wärme. 1851 waren auf dem belgischen Sängerfest zu Antwerpen zum letzten Male deutsche Vereine von Bedeutung vertreten. Damit war leider dieser Annäherungsversuch zwischen den zwei Stämmen abgetan ...

Die in Belgien eingewanderten Deutschen haben auch im allgemeinen die Sympathien für ihre Heimat nicht gesteigert, und so war es wohl zu begreifen, daß, als die Alldeutschen, diese enfants terribles Deutschlands, in den neunziger Jahren an die Flämen die ebenso unsinnige wie taktlose Aufforderung stellten, die hochdeutsche Schriftsprache anzunehmen und sich dem Deutschen Reiche anzugliedern, ein Sturm der Entrüstung durchs Land ging und das an sich schon kühle Verhältnis auf den Gefrierpunkt herabzusinken drohte. (S. 82, 83)

Als Beleg zitiert Jostes ein Manifest des „Vlaamschen Volkraad“, in dem es heißt:

Weiter erklären wir, daß die Flämingen, koste es, was es koste, die volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Niederlande bewahren wollen; daß sie wohl Germanen aber keine Deutschen sind; daß sie die Deutschen wohl für Stammesverwandte, aber keineswegs für Landsleute halten; daß ihre Sprache das Niederländische, nicht das Hochdeutsche ist und sie dabei verharren, das Deutsche Reich als eine befreundete, aber doch fremde Macht zu betrachten. Der Umstand, daß früher fremde Herrscher, ohne unsere Väter zu fragen, und unter willkürlicher Verkennung der Vorrechte des Landes unsere Gegenben mit dem seither aufgelösten Heiligen Römischen Kaiserreich in eine vereinzelte lediglich auf dem Papier bestehende Beziehung gebracht haben, ist für uns freie Söhne eines Landes, in dem alle Macht aus dem Volke kommt, nichtig und von keinem Wert. (S. 102)

So spricht kein Volk, daß sich politisch bedrückt fühlt, einen politischen Befreier von außen ersehnt.

Diese kühle, fast feindselige Haltung bei Flämen gegenüber dem Deutschtum lange vor dem Kriege, mitten im Frieden, bei innigem Verkehr der Nationen, hat etwas Befremdendes für denjenigen, der an die Macht der Sprachverwandtschaft (die nicht zu verwechseln ist mit Sprachgemeinschaft glaubt. Aber wir haben schon bei der Betrachtung des Panslawismus darauf hingewiesen, daß diese Macht eine bloße Einbildung mancher Philologen und anderer Schulmeister ist.

Wie soll aus der bloßen Verwandtschaft zweier verschiedener Sprachen eine Verwandtschaft der Interessen und Ideen derjenigen, die sie sprechen, entspringen? Man setzt die Sprachverwandtschaft gleich der Rassenverwandtschaft und diese gleich einer Interessen- und Ideengemeinschaft. Aber nicht einmal die Gemeinschaft der Sprache bedeutet an sich schon Gemeinschaft der Abstammung und diese an sich noch keine Gemeinschaft der Interessen und Ideen. Das gilt nicht einmal für das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Nur dort empfinden diese ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wo sie in einer sozialen Gemeinschaft leben, in einer gemeinsamen Familie. Wo das Kind völlig getrennt vom Vater aufwächst, wie das zum Beispiel bei unehelichen Kindern in der Regel der Fall ist, macht sich die „Stimme des Blutes“ nicht im geringsten geltend. Und doch soll sie ganze Rasen und obendrein Sprachverwandtschaften zusammenhalten, da „Blut dicker ist als Wasser“!

Dies Wort, das in der Zeit des Kampfes zwischen germanischem Heidentum und römischem Christentum sagen wollte, die der Abstammung entspringenden Pflichten gegen die Verwandtschaft stünden höher als die durch das Taufwasser auferlegten Pflichten gegen die Kirche, hatte einen guten Sinn in der Gentilgesellschaft, in der die Blutbande auch soziale Bande waren. Es wird abgeschmackt in einer Gesellschaft, in der die Masse der Bevölkerung ihren Stammbaum nicht über den Großvater hinaus zu verfolgen vermag und dieser Stammbaum für die gesellschaftlichen Beziehungen bedeutungslos wird. Die große Kraft der modernen Nationalität beruht nicht auf der Gemeinsamkeit der Abstammung, sondern auf der ungeheuren Bedeutung der Sprache für den Verkehr. Für die zusammenfassende und trennende Kraft der Sprache kommt aber bloß der Umstand ihrer Verständlichkeit in Betracht, nicht der ihrer Verwandtschaft, die nur für den Sprachforscher zutage liegt. Wer eine Sprache spricht, die ich nicht verstehe, ist für mich ein Fremder, mag sie nun zum selben Sprachstamm gehören wie die eigene oder einem ganz anderen, mag es etwa Norwegisch sein oder Finnisch oder Chinesisch. Ein Hindu, der eine indogermanische, der meinen verwandte Sprache spricht, steht mir nicht näher als ein Ungar, dessen Sprache mit keiner anderen europäischen, außer der finnischen, die geringste Verwandtschaft aufweist.

So wichtig die Beachtung der Bedürfnisse der Nationalitäten für die internationale Politik geworden ist, so haltlos wird diese, will man sie auf Sprachverwandtschaften aufbauen.

Soweit die Flämen über den Bereich ihres Staates hinaussahen, blickten sie nicht nach Deutschland, sondern nach Holland, mit dem sie die Schriftsprache gemeinsam haben. In den Versuchen, das Flämentum zu verdeutschen, sahen sie eine unerwünschte Störung ihrer Bestrebungen.

So sprach 1901 in der flämischen Akademie Prayon von Zuylen, ein ehemaliger deutscher Offizier, über das Verhältnis der Flämen zu Deutschland. Er sagte unter anderem:

Man hat die Aufregung noch nicht vergessen, die vor etwa vier Jahren im flämischen Lager die übel angebrachten Ergüsse von ein paar Deutschen hervorriefen, die, während wir hier alle unsere Kräfte anspannten, um das Gleichberechtigungsgesetz durchzudrücken, und freundschaftlich nahelegten, daß die von uns heiß ersehnte – und bald darauf erlangte – Gleichstellung des Niederländischen mit dem Französischen „eine Gefahr für den belgischen Staat“ sein sollte, daß wir im niederen und höheren Unterricht unsere Sprache durch das Hochdeutsche ersetzen müßten; endlich daß die Trennung von 1830 ein glückliches Etwas gewesen sei, das die „Einbeziehung“ der zerrissenen und so geschwächten Niederlande erleichtere. Denn man legte uns ans Herz, daß wir nicht allein völkisch, sondern auch politisch zu Deutschland gehörten, daß wir in den deutschen Reichsverband treten und uns darin mit einer Bayern gleichen Stellung begnügen müßten. Ja, man drohte uns mit dem Schicksal Dänemarks, falls wir durch ein engeres Anziehen der Bande zwischen Flandern und Holland – mit anderen Worten durch die Verwirklichung unseres Ideals: Groß-Niederland – die Rettung unserer nationalen Existenz versuchen sollten. (Zitiert bei Jostes, a. a. O., S. 87)

Es kostete viele Mühe, die darob gewaltig entrüsteten Flämen zu beruhigen.

Die Annäherung an die nördlichen Niederlande und die schließliche Vereinigung mit ihnen entspricht mehr der Natur der Dinge als die Vereinigung mit Deutschland. Aber auch sie hat bisher die Masse der Flämen nicht zu erwärmen vermocht. Der religiöse Gegensatz zum protestantischen Holland ist noch nicht überwunden. Und einen guten Teil ihrer Kraft zieht die Bewegung der Flaminganten aus dem provinzialen Partikularismus, der dank ihrer Geschichte und ihrer ökonomischen Rückständigkeit bei ihnen noch ungemein stark ist.

Wir bleiben also dabei: Sollte man die Flämen abstimmen lassen, mit erdrückender Mehrheit würden sie sich für das Verbleiben im belgischen Staate entscheiden.

Soll man aber etwa den Schutz des Flämentums in den Friedensvertrag aufnehmen?

Man fordert, dieser solle allgemein die nationalen Minderheiten schützen, und das wäre sicher sehr notwendig, Aber bei den Flämen käme man in die sonderbare Lage, eine Mehrheit gegen eine Minderheit schützen zu wollen; eine Mehrheit, der heute schon alle politischen Mittel zur Verfügung stehen, sich als solche zur Geltung zu bringen.

Ein Schutz der Flämen liefe also auf eine bloße Bevormundung durch eine Schutzmacht hinaus. Dazu ist aber die Freiheit zu groß, in der sie bisher lebten, als daß sie das wollten oder auch nur sich gefallen ließen.

Keinerlei Eingriffe von außen, volle Unabhängigkeit für das gesamte belgische Volk, muß die Forderung der internationalen Sozialdemokratie lauten.
 

c. Belgiens Vasallentum

Nicht ganz klar ist es, wie die Mehrheit der Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie darüber denkt. Zu der Sitzung, die die Fraktion mit dem Parteiausschuß gemeinsam vom 14. bis 16. August 1915 zur Festsetzung ihrer Kriegsziele abhielt, referierte David darüber. Über Belgien schlug er folgenden Passus vor:

Vom Standpunkt des deutschen Interesses nicht minder wie von dem der Gerechtigkeit halten wir die Wiederherstellung Belgiens für geboten; [aber im Interesse seiner eigenen Sicherheit und Bewegungsfreiheit kann Deutschland auch nicht zulassen, daß Belgien ein militärisches Vorwerk und politisches Machtinstrument Englands wird].

Der in eckigen Klammern stehende Passus fand Widerspruch, weil er die belgische Unabhängigkeit einschränkte. David zog ihn daher zurück, ehe über ihn abgestimmt wurde. Liebknecht, der damals noch Mitglied der Fraktion war, genügte das nicht. Er wollte völlige Klarheit und beantragte daher, den Worten: „die Wiederherstellung Belgiens“ hinzuzufügen:

Unter Ablehnung jeder zwangsweisen politischen und wirtschaftlichen Angliederung in uneingeschränkter inner- und außerpolitischer Selbständigkeit.

Dieser Antrag wurde abgelehnt, und zwar mit großer Mehrheit, in der Fraktion mit 60 gegen 42, im Parteiausschuß gar mit 30 gegen 10 Stimmen. Die Forderung der „Wiederherstellung Belgiens“ sollte also einen sehr zweideutigen Charakter tragen.

Dem Entspricht die Formulierung in der Denkschrift der deutschen Mehrheitsdelegation an das Stockholmer holländisch-skandinavische Komitee. Es heißt dort:

Wir sind für die Wiederherstellung eines unabhängigen Belgiens. Belgien soll weder ein Vasallenstaat Deutschlands noch Englands oder Frankreichs werden.

Ein Fortschritt ist hier insofern zu verzeichnen, als hier nicht bloß „die Wiederherstellung Belgiens“, sondern auch die eines „unabhängigen“ Belgiens gefordert wird. Die nähere Kennzeichung dieser Unabhängigkeit scheint vollkommen gerecht: Belgien soll weder Deutschlands noch Frankreichs oder Englands Vasall sein. Gleiches Recht für alle. So scheint es, wenn man sich an die Worte hält und nicht nach ihrem Sinne forscht. Einen Sinn bekommen sie aber nur dann, wen das Wort „Vasallenstaat“ Frankreich und England gegenüber etwas ganz anderes bedeutet als Deutschland gegenüber.

Unter einem Vasallenstaat kann man einen Staat verstehen, der wider seinen Willen gezwungen wird, in ein Abhängigkeitsverhältnis von einem anderen Staate zu treten. Belgien soll im Friedensvertrag von Deutschland nicht aufgedrängt werden – das ist der Sinn des einen Teils der Forderung der Stockholmer Delegation. Daß Frankreich und England Belgien zu einer derartigen Abhängigkeit zwingen wollen hat noch niemand behauptet. Dies ausdrücklich abzulehnen, wäre also absurd.

Wohl aber hat man vielfach die Ansicht aussprechen hören, durch das Bündnis, das Belgien freiwillig mit England und Frankreich schloß, sei es deren Vasall geworden. Ein Bündnis zwischen einem kleinen und einem großen Staate bedeute für jenen immer ein Vasallenverhältnis, möge es noch so sehr auf Freiwilligkeit beruhen.

Fassen wir die Forderung so auf, bekommt sie allerdings einen Sinn: Belgien ist zu verpflichten, sich jedes Bündnisses mit England und Frankreich zu enthalten. Wem gegenüber soll es diese Pflicht eingehen? Offenbar Deutschland gegenüber. Damit ist aber Belgiens Unabhängigkeit in der äußeren Politik aufgehoben, diese unter Deutschlands Kontrolle gebracht. Die Forderung der Unabhängigkeit Belgiens im Beginn des Satzes wird also durch seinen Schluß wieder aufgehoben.

Nun ist ja nicht daran zu zweifeln, daß hier ein schwieriges Problem vorliegt. Belgien ist zu klein, um seiner drei großen Nachbarn die Spitze zu bieten. Und seine geographische Lage bietet jedem dieser Nachbarn die Möglichkeit, die anderen zu bedrohen, wenn er sich des Landes bemächtigt , und sei es auch nur indirekt, durch einen Bündnisvertrag.

Die Eigenart seiner Lage war es ja, die Belgiens garantierte Neutralität herbeiführte, bei der sich seine Nachbarn verpflichteten, seinen Boden nicht zu betreten, dafür aber auch ihm die Pflicht auferlegten, sich mit keinem zu verbünden. Dabei war Belgiens Unabhängigkeit wohl eingeschränkt, aber die Einschränkung war keine einseitige; sie wurde ausgewogen durch die Einschränkung, die sich die Garanten der Neutralität auferlegten, diese nie zu verletzen.

Meinte die deutsche Mehrheitsdelegation die Wiederherstellung dieses Zustandes, als sie ihre Forderung aufstellte, Belgien solle niemandes Vasallenstaat werden? Dann hat sie eine sehr verzwickte Form gewählt, um eine sehr einfache Sache auszudrücken. Aber es ist wahrscheinlich daß sie die Wiederherstellung der garantierten Neutralität Belgiens fordern wollte. Sie mußte doch selbst fühlen, wie sonderbar es wäre, wenn nach den Erfahrungen des Krieges gerade von Deutschland aus eine Erneuerung der garantierten Neutralität zur Friedensbedingung gemacht würde, und daß diese Erfahrungen aufs anschaulichste gezeigt haben, wie hinfällig die Neutralisierung zum mindesten auf ihrer früheren Basis sei. Der wertlose „Fetzen Papier“ ist ein für allemal zerrissen.

Für jeden der großen Nachbarn Belgiens liegt eine große Schwierigkeit darin, daß das „Ziel der Sicherung“ unter den gegebenen Verhältnissen durch feste Bindungen nicht mehr zu erreichen ist, wenigstens so lange nicht als keine internationale Macht existiert, die imstande ist, Beachtung internationaler Verträge unter allen Umständen zu erzwingen. Aber diese Schwierigkeit besagt bloß, wie wichtig es nun wird, durch eine kluge weitschauende Politik das zu erreichen, was durch feste Bindungen nicht mehr zu gewährleisten ist.

Man darf die Größe der Schwierigkeit auch nicht übertreiben.

Die Gefahr, die im Falle eines künftigen Krieges zwischen England und Deutschland diesem aus einem Bündnis Belgiens mit seinem Nachbarn jenseits des Kanals drohen könnte, wäre nicht geringer bei einem Bündnis zwischen England und Holland. Und umgekehrt. Ein von Deutschland abhängiges Holland würde England ebensosehr bedrohen wie ein von ihm abhängiges Belgien. Rotterdam ist der Themsemündung fast ebenso nahe wie Antwerpen, und des letzteren Zugang zum Meere geht durch holländisches Gebiet.

Wenn England bei der Bildung des belgischen Staates so großen Wert auf dessen Neutralität legte, dagegen für Holland nichts Derartiges verlangte, so ist das dem Umstand zuzuschreiben, daß damals nur Frankreich als Rivale Englands in der Nordsee in Betracht kam, nicht Preußen. Zum Schutze vor Frankreich genügte aber die Neutralisierung Belgiens.

Heute, wo nicht ein Gegensatz England-Frankreich, sondern der Gegensatz England-Deutschland im Vordergrund steht, gilt alles, was in diesem Punkte über Belgien gesagt werden kann, auch für Holland.

Diesen Zusammenhang erkannte auch die deutsche Regierung an. Wie wir schon gesehen haben, gab Jagow der englischen Regierung „aufs positivste die förmliche Zusicherung, daß selbst im Falle eines bewaffneten Konflikts mit Belgien Deutschland unter keinerlei Vorwänden belgisches Gebiet annektieren wird. Die Aufrichtigkeit dieser Erklärung wird durch die Tatsache bezeugt, daß wir Holland unser feierliches Wort gegeben haben, seine Neutralität zu respektieren. Es ist klar, daß wir nicht mit Nutzen belgisches Gebiet annektieren können, ohne gleichzeitig Gebietserwerbungen auf Kosten Hollands zu machen.“

Ist es zur Sicherung Deutschlands nicht notwendig, daß Holland Garantien dafür gibt, kein Vasallenstaat Frankreichs oder Englands zu werden, so braucht es auch von Belgien keine derartigen Garantien.

So wie Holland hat Belgien, auch ohne Garantievertrag, das größte Interesse daran, seine Neutralität in einem Konflikt zwischen seinen Nachbarn aufrechtzuhalten. Bei einer Teilnahme an einem solchen hat es stets nur zu verlieren, da es notwendigerweise zum Kriegsschauplatz wird, ohne daß ihm ein Gewinn in Aussicht steht.

Als kleines Durchzugsland braucht Belgien dringend die Freundschaft aller seiner Nachbarn, im Frieden wie im Kriege und nur eine Politik eines der Nachbarn, die sein größtes Mißtrauen und seine stärksten Befürchtungen erregte, konnte es von der ihm durch seine Lage gebotenen Neutralität abbringen.

Auf die peinlichste Vermeidung einer derartigen Politik ist beim Friedensvertrag sowie weiteren und auch schon vorher das Hauptaugenmerk von jedem zu richten dem das „Ziel der Sicherung“ Belgien gegenüber am Herzen liegt.
 

d. Kleinstaat und Großstaat

Ist aber die Erhaltung der Selbständigkeit Belgiens und der kleinen Staaten überhaupt nicht ein ganz reaktionäres Beginnen, dem Streben vdergleichbar, den kleinen Kramladen davor zu schützen, daß er vom großen Warenhaus verschlungen wird?

Dieser Einwand wird immer und immer wieder erhoben, und zwar gerade von Leuten, die sich Marxisten nennen. Es sei eine ökonomische Notwendigkeit, daß die Staaten sich immer mehr ausdehnten und dabei die Kleinstaaten verschluckten, die ihre Lebensfähigkeit verlören. Ja, sogar der Nationalstaat werde zu eng für die Bedürfnisse des Kapitalismus. Dieser fordere den Nationalitätenstaat. Der österreichische Staat sei nicht ein Überbleibsel aus vorkapitalistischen Zeiten, sondern das Ideal, nach dem sich die Staaten der Zukunft zu gestalten hätten.

Natürlich ist nicht zu zweifeln, daß ein kleiner Staat im Konflikt mit einem größeren übel daran ist. Das ist jedoch keine neue Erscheinung, die das Zeitalter des „Imperialismus“ kennzeichnete, sie ist so alt wie die Geschichte selbst, wahrscheinlich älter als Hieroglyphen und Keilschriften.

Ebenso alt ist die Erscheinung, daß die Ausbeuter der Staatsgewalt um so mehr Gewalt und Reichtum gewinnen, je großer ihr Staat. Das gilt natürlich auch für die Kapitalistenklasse dort, wo sie sich der Staatsgewalt bemächtigt oder doch ihrer Unterstützung teilhaftig wird. Insofern ist mit dem Staat auch schon das Streben nach seiner Erweiterung gegeben.

Ein Staat kann aber nicht, wie ein Kapital, erweitert werden durch allmähliche Akkumulation von Kapital. Die gewöhnliche Methode seiner Erweiterung ist die Eroberung im Kriege. Auch dies Streben liegt im Wesen des Staates als Herrschaftsorganisation.

Alles das erschwert sicher seit jeher den kleinen Staaten Ihre Existenz, aber um alles das handelt es sich hier nicht. Was jene Marxisten behaupten, ist eine ökonomische Lebensunfähigkeit der kleinen Staaten die eine Folge des wachsenden Kapitalismus und seines Großbetriebs sein soll und die es erforderlich mache, daß die kleinen Staaten von den großen absorbiert werden. Das gäbe, wenn es richtig wäre, eine famose marxistische Begründung für ständige Eroberungskriege. Denn mit einer einmaligen Erweiterung ist es bei einem kapitalistischen Geschäft nicht getan. Sie muß sich immer wieder von neuem volllziehen.

Zuzugeben ist, daß die kapitalistische Entwicklung in einer gewissen Abhängigkeit von der Größe des Staates ist. Die Ausdehnung des Staates ist freilich nicht gleichbedeutend mit der Ausdehnung des Absatzgebietes, des Marktes, wohl aber mit der des inneren Marktes, und der bietet gegenüber dem äußeren mannigfache Vorteile. Vor allem schon dadurch, daß in einem modernen Staatswesen alle inneren Zölle fehlen, der innere Verkehr völlig unbehindert ist. Der Freihandel könnte diesen Unterschied zwischen innerem und äußerem Markt aufheben. Aber allgemeiner und vollständiger Freihandel hat bisher nicht bestanden und ist innerhalb des kapitalistischen Ära nicht mehr zu erwarten. Der Warenverkehr hängt außerdem nicht bloß von der Gestaltung des Zollwesens ab, sondern auch von der des Transportwesens, und das wird innerhalb jedes Staates natürlich den Bedürfnissen des eigenen Kapitalismus und nicht denen des fremden angepaßt.

Endlich wächst die Zahl der Kapitalistenschichten, die die Staatsgewalt beherrschen und durch sie eine privilegierte Stellung im Staate und besondere Extraprofite erringen, die nur innerhalb des Bereichs ihres Staates möglich sind.

Je ausgedehnter dieser Bereich, desto größer der bevorzugte innere Markt, desto größer die Extraprofite, die er den auf ihm privilegierten Kapitalistenschichten verschafft. Den inneren Markt, also das Staatsgebiet zu erweitern ist das stete Streben dieser Schichten. Hier finden wir die ökonomische Wurzel des Imperialismus.

Vergleichen wir aber mit dem ökonomischen Gesetz die Tatsachen der europäischen Staatengeschichte seit dem Wiener Frieden von 1815, so stehen sie in auffallendem Widerspruch dazu. Wir finden In Europa während dieses Zeitraums weder eine ständige Aufsaugung von Kleinstaaten durch Großstaaten noch die Ausdehnung eines Nationalstaats zum Nationalitätenstaat.

Die Ausdehnung der europäischen Staaten in der Ära des Imperialismus geht ausschließlich außerhalb Europas auf dem Wege kolonialer Erwerbungen vor sich. Vor der imperialistischen Ära, also von 1815 bis etwa 1880 haben nur zwei Dynastien ihr Staatsgebiet durch Aufsaugung europäischer Kleinstaaten vergrößert – das Haus Hohenzollern und das Haus Savoyen. Weder Frankreich, noch Österreich, noch Rußland, noch England sind den letzten hundert Jahren in Europa auf Kosten von Kleinstaaten gewachsen. Und in Deutschland und Italien lagen die Annexionen der Kleinstaaten auf dem Wege zum Nationalstaat – nicht zum Nationalitätenstaat.

Außerhalb Deutschlands und Italiens hat die Zahl der Kleinstaaten Europas im letzten Jahrhundert nicht ab-, sondern zugenommen. Belgien hat sich von Holland, Norwegen von Schweden, Ungarn halb von Österreich, die Balkanstaaten von der Türkei. Und der jetzige Krieg scheint auch eher zur Bildung neuer Staaten – so Polens, vielleicht auch Finnlands – als zur Aufsaugung alter führen zu wollen.

Das scheint unerklärlich, wenn wir bloß die Bedürfnisse der Kapitalistenklasse in Betracht ziehen und vermeinen, der historische Materialismus fordere von uns, die Staatenpolitik, solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, nur vom Standpunkt des kapitalistischen Geschäfts zu betrachten. Jedoch nichts wirkt irreführender als die Verkehrung der Marxschen Geschichtsauffassung in bloße Geschäftsauffassung.
 

e. Kapitalismus und Demokratie

Sicher beherrscht der Kapitalismus das Leben der ganzen modernen Gesellschaft. Aber zu seinen notwendigen Konsequenzen gehören nicht bloß die Bestrebungen, den kapitalistischen Interessen zu dienen, sondern auch die Bestrebungen, sie zu bekämpfen; gehören nicht bloß Einrichtungen, die ihn stärken, sondern auch Einrichtungen, die ihn hemmen, ihn untergraben.

Jeder ist das Produkt seines Milieus, aber bei dem einen äußert es sich in der Weise, daß es ihn sich unterwirft, bei dem anderen darin, daß es ihn empört. Nut wer diese beiden Seiten in Betracht zieht, wird die Wirkungen eines bestimmten Milieus richtig erfassen können. Ibsen und Strindberg waren ebenso Produkte der kleinbürgerlichen Borniertheit, die Skandinavien in ihrer Jugendzeit beherrschte, wie die „kompakte Majorität“, die sie bekämpften.

Das vergißt man nur zu häufig. Man versteht unter den notwendigen Produkten eines Milieus oft nur diejenigen, die aus ihm Nutzen ziehen, ihm dienen oder mindestens sich ihm willenlos einfügen. Und doch weist Marx immer auch auf die Gegenseite hin:

Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. (Kapital, 24. Kapitel)

Beide Seiten erst geben uns das volle Bild der kapitalistischen Produktionsweise. Sie ist ebenso unbegreiflich ohne den Drang nach Verelendung der Arbeitermassen wie ohne deren Empörung dagegen. Der ständige Kampf beider Tendenzen bildet einen notwendigen Inhalt der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Kapitalismus tut aber noch mehr, als die Arbeiterklasse durch seinen Druck zur Empörung aufzurufen. Durch seinen eigenen Mechanismus „schult, vereint, organisiert“ er sie, macht er sie fähig, sich des kapitalistischen Produktionsprozesses zu bemächtigen.

Gleichzeitig aber schafft er durch den Mechanismus seines Verkehrs auch die Gelegenheit und Mittel, die das Interesse der Volksmassen an der Staatspolitik wachrufen, sie zum Kampfe um die Teilnahme an der Staatspolitik befähigen und ihren Einfluß auf diese Politik immer mehr steigern. Mit einem Wort, er erzeugt nicht nur den proletarischen Klassenkampf, sondern auch die moderne Demokratie mit dem immer näherrückenden Endergebnis der Beherrschung des Staates durch die Volksmasse, was in einem Staat entwickelter kapitalistischer Industrie gleichbedeutend ist mit seiner Beherrschung durch das industrielle Proletariat.

Diese Entwickelung, das heißt also das Wachstum der modernen Demokratie und der proletarischen Macht ist ebenso das notwendige Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise wie der Drang bestimmter Kapitalistenschichten nach Ausdehnung des Staates. und der Drang nach Demokratie wächst im modernen Staate in den Volksmassen unter allen Umständen, während der Drang nach Ausdehnung des Staates die Kapitalistenschichten nur unter bestimmten historischen Bedingungen ergreift.

Das übersehen nur zu leicht diejenigen, die im modernen Staat nur den Imperialismus sehen und nicht die Notwendigkeit der Demokratie – diese Notwendigkeit in jedem Sinne des Wortes genommen, sowohl als unerläßliche Forderung des Proletariats wie als unvermeidliches Ergebnis des „Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst“.

Unter Demokratie verstehen wir hier natürlich nicht eine demokratische Partei, sondern immer die Teilnahme der Volksmassen an der Staatspolitik, die Institutionen, jene Teilnahme praktisch und erfolgreich zu betätigen, und den Einfluß im Staate, den die Volksmassen auf diese Weise erringen.

Die Demokratie in diesem Sinne ist nicht bloß das Ergebnis des proletarischen Massenkampfes, sondern des Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst. Sie wächst mit diesem Mechanismus trotz aller zeitweisen Hemmungen unaufhaltsam. Damit aber wächst die politische Macht des Proletariats auch dort, wo dessen Ausdehnung und ökonomische Bedeutung, gemessen an der des Kapitals, nicht zunimmt. Rein ökonomisch betrachtet, erscheint der Fall des Proletariats gegenüber dem Kapital hoffnungslos. Es mag sich gewerkschaftlich oder konsumgenossenschaftlich noch so stramm organisieren, die organisierte Arbeiterschaft steht der organisierten Unternehmerschaft ökonomisch nicht stärker gegenüber als der vereinzelte Arbeiter dem vereinzelten Unternehmer, wenn auch natürlich weit stärker als der vereinzelte Arbeiter dem Unternehmerverband, was aber dauernd und ununterbrochen wächst, ist die Demokratie und mit ihr die politische Macht des Proletariats. Nur sie vermag mit dem Unternehmerverband fertig zu werden und das Proletariat auch ökonomisch durch das Eingreifen der demokratischen Staatsgewalt zu befreien.

Es ist ganz verkehrt, als daß einzige Produkt des heutigen Kapitalismus den Imperialismus ins Auge zu fassen und die Demokratie dabei zu übersehen. Das gilt auch für den jetzigen Krieg. Er ist ein Kampf nicht bloß zwischen verschiedenen Imperialismen, sondern auch zwischen Imperialismus und Demokratie, zwischen mehr oder weniger demokratischen und mehr oder weniger imperialistischen und militaristischen Staaten.

Die früheren internationalen Konflikte der letzten Jahrzehnte, die Krieg brachten oder Krieg drohten, waren entweder rein imperialistische, wie der amerikanisch-spanische, der französisch-englische um Faschoda, der russisch-japanische, der deutsch-französische um Marokko oder ein reiner Konflikt zwischen Imperialismus und Selbstbestimmung einer Nation, wie der Burenkrieg. Da war die Haltung der Internationale klar und einheitlich.

Im heutigen Weltkrieg mischen sich die imperialistischen Probleme mit demokratischen, und dies Komplikation ist nicht zum wenigsten Schuld an der großen Verwirrung, die er in die sozialistischen Parteien fast aller Länder hineintrug und noch hineinträgt. So sehr das den internationalen Sozialismus geschädigt hat, das Ende des Krieges scheint doch trotz alledem seinen Triumph bedeuten zu wollen – den Zusammenbruch das Imperialismus und seiner Werkzeuge und einen machtvollen Fortschritt der Demokratie – wenn noch nicht den völligen Sieg des Proletariats.
 

f. Die Lebensfähigkeit der Kleinstaaten

Betrachten wir nun die moderne Entwicklung nicht ausschließlich vom kapitalistischen Geschäftsstandpunkt wie der Vulgärmarxismus, erwägen wir die aus dem Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses hervorgehende, aber dem kapitalistischen Geschäft meist feindliche Macht der modernen Demokratie, dann begreifen wir die Lebensfähigkeit der kleinen Staaten Europas. Die moderne Demokratie ist einer der wichtigsten unter jenen Faktoren, die bisher bewirkten, daß der Ausdehnungsdrang der kapitalistischen Großstaaten sich nicht gegenüber den europäischen Kleinstaaten, sondern außerhalb Europas in Gebieten äußerte, die noch nicht vom industriellen Kapitalismus und der modernen Demokratie erfaßt sind. Der Kraft dieser Demokratie ist es zuzuschreiben, daß keine Regierung, die auch nur eine Spur von politischem Verständnis unserer Zeit besaß, es im neunzehnten Jahrhundert gewagt hat, ein europäisches Gebiet wider den ausgesprochenen Willen seiner Bevölkerung zu annektieren. Die Lebenskraft der Kleinstaaten besteht nicht zum wenigsten gerade darin, daß ihre Regierungen schwächer sind, nicht über so viele Machtmittel verfügen wie die der Großsftaaten, daher der Demokratie größere Zugeständnisse machen müssen als ihre großen Nachbar.n In der größeren Demokratie der Kleinstaaten liegt heute ihre Anziehungskraft für ihre Bevölkerung.

Die Kleinstaaten brauchten beim Wettrüsten nicht mitzutun. Es stand für sie von vornherein fest, daß sie bei diesem Wettlauf die letzten sein mußten, sie strengten sich also nicht sehr dabei an. Ihre Armeen hatten nur kurze Dienstzeit, waren wohl gegen das Volk unter Umständen dort verwenden, wo Bauern gegen städtische Arbeiter aufgeboten würden, nicht aber zur Sicherung einer Regierung, die der Gesamtheit der Bevölkerung Rechte vorenthalten oder gar eskamotieren wollte. Dabei hatten die Regierungen der kleinen Staaten keine Aussicht, innere Schwierigkeiten durch glänzende äußere Erfolge zu überwinden.

Bis zum jetzigen Kriege betrug die Dienstpflicht für die Infanterie in der Schweiz 65, in Norwegen 78 Tage. In Holland 8½ Monate – nur ein Teil der Wehrfähigen, 27.000, ist dienstpflichtig –, in Schweden 250 Tage, in Belgien 15 Monate, für die Hälfte der Wehrfähigen. Daneben besaß Belgien noch eine Bürgergarde, eine Art Miliz. Mit diesen geringeren Militärlasten ging Hand in Hand eine größere politische Bewegungsfreiheit der Volksmassen. Was immer die Proletarier an diesen Staaten auszusetzen hatten – und sie hatten naturgemäß ungeheuer viel an ihnen auszusetzen –, so gaben ihnen doch die Zustände bei den Nachbarn keine Ursache, verlangend über die Grenze zu blicken. Der eigene kleine Staat bot ihnen bessere Gewähr, sich im Klassenkampf zu betätigen und vorwärtszukommen, als der ungeheure Machtapparat jenseits der Grenze. Die Furcht vor diesen wirkte stärker abschreckend als als die materiellen Vorteile, die er versprach, anziehend.

Wir sehen heute bei keinem der Kleinstaaten in der Bevölkerung auch nur den leisesten Wunsch, die angeblich so traurigen Lage, in die sie durch die Kleinheit ihres Gemeinwesens versetzt ist, durch Angliederung an ein größeres beseitigt zu sehen. Vielmehr hat der Krieg das Gegenteil gebracht. Eine Fülle von Wünschen nach Bildung neuer Kleinstaaten auf Kosten großer.

Diese Entwicklung hat zwei Seiten, von denen die eine sehr bedenklich ist. Es ist etwas anderes, ob ein bisher selbständiges Gemeinwesen sich gegen seine gewaltsame Einverleibung in ein größeres sträubt, oder ob ein großes Gemeinwesen, das jahrhundertelang bestand, in kleine Stücke zerfällt, die ohne Verbindung miteinander stehen, ob neue Zollgrenzen, neue Trennungslinien zwischen den Nationen aufgerichtet werden.

Die Zerfällung eines großen Staates in mehrere kleine ist namentlich dann bedenklich, wenn sie eine Folge des Rückganges seiner Zwangsgewalt, eine Folge seiner steigenden Demokratisierung ist, indes jenseits der Grenze noch ein Großstaat mit ungebrochener Zwangsgewalt besteht. Die Zersplitterung des großen demokratischen Staates in viele kleine bedeutet dann nichts anderes als die Schwächung der Abwehrkraft seiner Demokratie gegenüber den Machtmitteln des Nachbarn. Hier kann die Kleinstaaterei, trotz ihres hochdemokratischen Ausgangspunktes, zu einer Gefahr für die Demokratie werden.

Die internationale Sozialdemokratie hat nicht bloß nach der Selbstbestimmung der Nationen, sondern auch nach ihrer wachsenden Annäherung zu streben. Und sie hat die dauernden Interessen der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber den Sonderinteressen und Augenblicksinteressen – auch den demokratischen – einer besonderen Gruppe zu wahren. Dies kann ihr unter Umständen dringend gebieten, für den Zusammenhalt eines revolutionären demokratischen Großstaats gegenüber reaktionären Nachbarn einzutreten.

Doch als zweckmäßiges Mittel, den Staat zusammenzuhalten, kann sie dabei nur seine größere Anziehungskraft betrachten. Wenn heute Finnländer und Ukrainer dem russischen Staat entfliehen wollen, ist das als eine Nachwirkung des Zarismus aufzufassen, der sie abstieß, und als Ergebnis ihres mangelnden Vertrauens zur Lebenskraft der russischen Revolution, obwohl sie sich freilich sagen müßten, daß ihre Aussichten auf nationale Selbständigkeit aufs engste verknüpft sind mit denen der russischen Revolution, daß sie ihre Selbständigkeit nur wahren können, wenn sie sich mit dieser solidarisch erklären, und nicht, wenn sie sich von ihr loslösen und sie dadurch schwächen.

Indes auch dort, wo die Kleinstaaterei nicht neuesten Datums ist, sondern das Recht der Verjährung in Anspruch nehmen kann, bedeutet sie keinen Zustand, der ungemischtes Wohlgefallen erregt. Stellt sie vom Standpunkt der Demokratie der kleinere Übel gegenüber den Großstaaten bisherigen Stils dar, so hat die internationale Sozialdemokratie doch nicht bloß die Interessen der Demokratie zu wahren, sondern auch die der ökonomischen Entwicklung, die die materiellen Vorbedingungen für die Befreiung des Proletariats liefert, und diese Entwicklung findet unter sonst gleichen Umständen im großen Staate einen günstigeren Boden als im kleinen.

Die Aufgabe besteht darin, die Forderungen der Demokratie mit denen der Ökonomie in Einklang zu bringen.

Das kann auf zwei Wegen erreicht werden. Einmal durch vermehrte Demokratisierung der Großstaaten. Je größer deren innere Freiheit, desto weniger werden benachbarte Kleinstaaten befürchten, durch engeren ökonomischen Anschluß in ihrer politischen Selbständigkeit beeinträchtigt zu werden, desto leichter werden sie dazu gebracht werden, Zollgesetzgebung, Münzwesen, Verkehrswesen, bürgerliches Recht usw. freiwillig in Gemeinschaft mit dem großen Nachbarn zu regeln, mit ihm ein gemeinsames Verkehrsgebiet zu bilden.

Noch fruchtbarer aber würde es, wenn es gelänge, sämtliche Staaten der europäischen Kultur oder zunächst wenigstens Europas in einem großen Gemeinwesen zusammenzufassen, den schon im vorigen Jahrhundert ersehnten „Vereinigten Staaten von Europa“, in denen alle Zollschranken aufhörten, alle Grenzfragen ihren machtpolitischen Charakfer verlören, der internationale Verkehr seine freieste Entfaltung fände.

Aber auch diese Lösung setzt vermehrte Demokratisierung der Großstaaten alten Stils voraus, denn eine freiwillige Eingliederung aller Staaten in dieser überstaatliche Gebilde wird nur dann möglich wenn keiner dabei an Demokratie verliert, jeder gewinnt.

Solange diese Bedingungen nicht gegeben sind, wird die Volksmasse der Kleinstaaten, auch ihr Proletariat, an ihnen hängen und ihrer Eingliederung in einen Großstaat mit aller Macht widerstreben. Wehe dem großen Staate, der in Mißachtung dieses Volksempfindens einen seiner kleinen Nachbarn zur „Sicherung seiner Grenzen“ gewaltsam an sich zieht und festhält! Er gewinnt damit nur einen Pfahl im eigenen Fleisch, der jede seiner Bewegungen hindert und zur Qual macht, er gewinnt nichts als die Feindschaft, den tödlichen Haß der Grenzbevölkerung und der Demokratie aller Völker, die ihren klarsten und entschiedensten Ausdruck findet in der internationalen Sozialdemokratie. Was als Sicherung der Grenze und des Friedens gedacht ist, wird zu ihrer ewigen Bedrohung.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019