Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


1. Das Werden des Kaiserstaats


Wir haben in einer früheren Untersuchung die allgemeinen Grundsätze dargelegt, die für die internationale Sozialdemokratie bei der Beurteilung nationaler Fragen in Betracht kommen. (In der Schrift: Die Befreiung der Nationen, Stuttgart, J.H.W Dietz)

In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, welche Konsequenzen sich für uns aus der Anwendung jener Grundsätze auf einzelne Konkrete Fälle geplanter oder geforderter Grenzveränderungen ergeben, die der Krieg aktuell gemacht das. Wenn ich sage, für „uns“, so meine ich damit nicht das deutsche Volk, sondern die internationale Sozialdemokratie. Nur die Gesamtinteressen des internationalen Proletariats, nur seine große historische Aufgabe, die Aufhebung aller Gegensätze der Klassen und Nationen, mommen für uns in Betracht, nicht das, was man als das gemeinsame Interesse aller Klassen einer einzelnen Nation betrachtet.

Zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung nehmen wir den Ausgangspunkt des Krieges, das Verhältnis zwischen Österreich und Serbien.

Schon hier, beim Beginn des Weltkriegs, stoßen wir auf die Unmöglichkeit, ihn durch Beschränkung auf die Formel des imperialidtischen Krieges völlig zu erfassen. Kein Zweifel, auf der einen Seite, bei Österreich, waren imperialistische Triebkräfte stark tätig. Aber es waren nicht die einzigen. Neben ihnen machten sich noch andere geltend, die aus der vorimperialistischen Zeit stammten. Auf der anderen Seite aber, in Serbien, kann von Imperialismus überhaupt nicht gesprochen werden, man wollte denn jedes Ausdehnungsstreben als Imperialismus bezeichnen, wodurch dann dies Wort aufhören würde, irgend etwas zu erklären. Es besagte dann nichts, als daß das Streben der Staaten nach Ausdehnung eine Folge ihres Ausdehnungsstrebens sei.

Eine Wissenschaftliche Erklärung des jetzigen Krieges bietet der Imperialismus nur dann, wenn man ihn befrachtet als die Erscheinungsform der Politik einer bestimmfen Art des Kapitalismus, des „Finanzkapitals“, um mit Hilferding zu sprechen, das in den achtziger und neunziger Jauren des vorigen Jahrhunderts in den höherentwickelten Ländern der kapitalistischen Produktionsweise zur Herrschaft kam.

In den vorhergehenden Periode des Kapitalismus, in der das industrielle Kapital in einfacheren Formen herrschte, war die Bourgeoisie liberal gesinnt und strebte sie den Nationalstaat an. In der Periode des Imperialismus läßt sie den Liberalismus fahren und sucht sie dem Staat über den Nationalstaat hinaus zu erweitern dirch Angliederung rechtloser oder minderberechtigter Gebiete, Kolonien oder Schutzstaaten.

Wo zwei kapitalistisch hochentwickelte Staaten bei diesem Streben im Kampf um eine Beute geraten, kann man von einem rein imperialistischen Kriege reden.

Anders verhält sich die Sache dagegen dort, wo ein kapitalistisch höherentwickelter Staat in seinem imperialistischen Streben nach Ausdehnung in Konflikt mit einem ökonomisch rückständigen Staat gerät, der noch in dem vorimperialistischen Stadium des Strebens nach dem Nationalstaat steht. Der Konflikt kann auf beiderseitigem Ausdehnungsdrang beruhen, wird aber dadurch nicht zu einem rein imperialistischen. Er ist vielmehr ein Konflikt zwischen Imperialismus und nationaler Setbstbestimmung.

In einem rein imperialistischen Konflikt kann es dem Proletariat gleichgültig sein, welchem Teil die Beute zufällt. Wem Marokko oder der Kongo gehören sollte, darüber wurde in der internationalen Sozialdemokratie nicht gestritten.

Wo dagegen Imperialismus und nationale Selbstbestimmung in Konflikt miteinander kommen, ist der Ausgang für die internationale Sozialdemokratie nicht gleichgültig. Sie hat das stärkste Interesse daran, das die Demokratie nirgends verkürzt wird. Das zeigte sie schon im Burenkrieg, der von Seite Englands ein imperialistischer Krieg war, nicht von Seite der Buren.

Dabei sind wir aber keine Nationatisten, die den nationalen Konflikt als eine rein lokale Angelegenheit betrachten, die bloß die betroffene Nation angeht. Die Politik der Sozialdemokratie mu Weltpolitik sein, freilich in ganz anderem Siflcnne, als die Imperialisten das Wort auffassen; nicht eine Politik, die außerbalb der eigenen Nation in aller Welt Quellen der Macht und Ausbeutung sich zu eigen zu machen sucht, sondern eine Politik, die nie die Verhältnisse und Bedürfnisse der eigenen Nation für sich isoliert oder vor den anderen bevorzugt betrachtef, sondern stets die Rückwirkung des nationalen Tuns für die Gesamtheit der Völker im Auge bejält und die Verhältnisse und Bedürfnisse dieser Gesamtheit zu ihrem obersten Leitstern macht.

Diese Art der Weltpolitik ist nie sehr einfacher Natur. Auch für das volle Verständnis des österreichisch-serbischen Konflikts wird es notwendig, etwas weiter auszuholen, um die Bedeutung der österreichischen Politik klar erkennen zu lassen.

Jahrhundertelang wurde die Politiks des Hauses Habsburg dadurch gekennzeichnet, daß es keine Kräfte im Nachjagen nach zahlreichen, zum Teil unerreichbaren Objekfen zersplitterte und schwächte.

Das siebzehnte und achzehnte Jahrhundert bilben das Zeitalter des Absolutismus. Die alte Feudalgesellschaft verfällt, die Geldwirtschaft des Kapitalismus machf sih immer breiter in ihr. An Stelle der undisziplinierten Aufgebote ökonomisch unabhängiger Feudalherren und an Stelle der Verwaltung des Staates treten besoldete Heere und besoldete Staatsbeamte, beide gänzlich abbängig von der Monarchie. Die Städte erstarken. Dort, wo der Feudaladel noch kräftig ist und sie bedrängt, unterstützen sie ihm gegenüber die Macht des Landesherrn. Dessen Machtfülle steigt wöhrend des angegebenen Zeitraums in allen Staaten Europas, ausgenommen England, wo Armee und Bureaukratie keine entscheidende Stellung erlangen, und Polen, wo keine städtische Bourgeoisie von Belang aufkommt.

Auch die Habsburger errangen in dieser Zeit die absolute Gewalt im Staate, aber nicht soi vollständig, wie sie wünschten. Denn sie waren Herren nicht in einem, sondern in mehreren staatlichen Gebilden. Einmal in den Erblanden, dem Kreis von Besitzungen, den sie, ausgehend von dem Erzherzogtum Österreich, um dieses herum nach und nach durch Eroberung, Heirat, Erbvertrag erworben hatten. Ungarn wird nach dem Sprachgebrauch nicht zu ihnen gerechnet. Dann aber im Deutschen Reich, dessen erwählte Kaiser sie herkömmlicherweise waren.

In den Erblanden gelang ihnen die Aufrichtung des Absolutismus jetzt vollständig. Den rebellischen Adel Österreichs und Böhmens warfen sie in den Kämpfen nieder, die den Dreißigjährigen Krieg einleiteten. Schwerer wurde es ihnen, mit dem ungarischen Adel fertig zu werden, der sich nach jeder Niederlage früher ober später immer wieder von neuem erhob. Völlig aber scheiterten sie in ihren Versuchen, die kaiserliche Macht im Deutschen Reiche aufrechtzuhalten. Sie mußten sich gefallen lassen, daß die absolutistischen Tendenzen der Zeit dort nicht dem Kaiser, sondern den einzelnen Landesfürsten absolute Macht verliehen, so daß das Kaisertum immer mehr zu einer bloß dekoratiten Rolle herabsank. Trotzdem suchfen sie ihren Einfluß im Reiche zu wahren, auf die Machtmittel ihres Großstaats gestützt. Dabei gerieten sie aber in zusehenden Gegensatz zu jenem Staate, der seit der Zeit des Großen Kurfürsten (1640 bis 1688) im Deutschen Reiche der bebeutendste nach Österreich war, wenn er sich auch noch lange nicht mit diesem messen konnte – zu Preußen.

Bei der Thronbesteigung Friedrichs II. umfaßte Preußen etwas über 2.000 Quadratmeilen, Österreich über 9.000, das Gebiet des nächstgrößten Staates des Reiches, Bayerns, machte keine 1.000 Quadratmeilen aus. Durch die Verbindung einmal mit Frankreich, dann mit Rußland wußte Preußen trotz seiner Kleinheit sein Gebiet auf Kosten größerer Nachbarn zu mehren, sowohl Polens wie Österreichs.

Sich im Deutschen Reich und später im Deutschen Bund als führende Macht zu behaupten und Preußen im Schach zu halten, das war die eine historische Aufgabe, die die Habsburger in den letzten Jahrhunderten bis 1866 verfolgten und der sie einen großen Teil Ihrer Kraft opferten.

Zu diesem Streben ebenso wie in dem nach Durchsetzung des Absolutismus in den eigenen Ländern fügten sie sich gefördert durch die katholische Kirche.

Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein bildete die kirchliche Organisation in Europa die stärkste Herrschaftsorganisation. Der aufkommende Absolutismus suchte sich ihrer zu bemächtigen. Die ihm widerstrebenden Elemente trachteten ihm eine gegensätzliche religiöse Organisation entgegenzusetzen. In Spanien und Frankreich machten die Monarchen den katholischen Klerus von sich abhängig und verwandelten ihn in ein Werkteug ihrer Macht. Dafür wurden sie fanatische Katholiken. Das gleiche war bei den Habsburgern in Österreich der Fall. Auf der anberen Seite sahen gegenüber den absolutistischen Bestrebungen die widerspenstigen Adligen und Städter in einer rebellischen Religion, dem Kalvinismus, ihr Heil. Er war die Religion der Hugenotten Südfrankreichs wie der aufständischen Niederländer fowie die des wiberhaarigen österreichischen, böhmischen, ungarischen Adels. Auch die Adligen und Städter Schottlands, die sich gegen die dem Katholizismus ergebenen Stuarts wendeten, waren Kalvinisten, ebenso wie die rebellischen Bürger und Proletarier Englands, die weder vom Katholizismus noch vom anglikanischen Staatskirche etwas wissen wollten.

Der Lutheranismus dagegen war die auf die besonderen Bedürfnissen des deutschen Landesfürstentums zugeschnittene Religion. Er wendete sich gegen de Katholische Kirche, die dem Kaiser diente, ebenso wie gegen die Untertanen, die dem Landesherrn gegenüber Selbständigkeitsgelüste verspürten. Er rechtfertigte die Empörung der Reichsfürsten gegen den Kaiser und den unbedingten Gehorsam der Masse gegeuüber dem lokalen Fürsten.

Die Habsburger wurden die Vorkämpfer des Katholizismus, sowohl gegenüber dem Kalvinismus in ihren Erblanden und in Ungarn wie gegenüber dem Lutheranismus im Reiche. In den Kämpfen gegen die Kalvinisten siegte ihr katholischer Eifer. In den Kämpfen gegen die Lutheraner dagegen half er ihnen nichts.

Die deutschen Lutheraner gewannen einen Bundesgenossen an einer katholischen Macht, Frankreich.

Als Kaiser des Deutschen Reiches gerieten die Habsburger in Konflikt nicht nur mit den deutschen Fürsten, namentlich den Hohenzollern, die auf Kosten der kaiserlichen Gewalt aufkommen wollten, sondern auch mit dem machtvollen Königtum Frankreichs, das ein Interesse daran hatte, mit einem schwachen Nachbarn zu tun zu haben, und saher die Zerissenheit Deutschlands förderte, die Auflehnung der deutschen Fürsten gegen den Kaiser begünstigte.

Weniger wichtig war, daß Frankreich sein Gebiet auf Kosten der Deutschen Reiches und zum Teil direkt auf Kosten der Habsburger, die im Elsaß Besitzungen hatten, zu erweitern suchte.

Eine weitere Quelle dieser Konflikte mit Frankretch wurde von den Habsburgern durch ihren Anteil an der spanischen Erbschafr geschaffen. Diese geht auf die erfolgreichsten Zeiten der habsburgischen Heiratspolitik zurück. Der Habsburger Maximilian I. heiratete 1477 Karls des Kühnen Tochter und Erbin und gewann dadurch zu den österreichischen Landen das große und blühende burgundische Reich, dessen wichtigsten Bestandteil die Niederlanbe bildeten. Sein Sohn Philipp heiratete Johanna, Tochter Ferdinands von Aragonien und Isabellas von Kastilien. Mit ihr erlangten die Habsburger nicht nur Spanien, sondern auch seinen reichen Besitz in Italien und in Amerika und Indien. Sein Sohn Karl, dem alle diese ungeheuren Gebiete zufielen, konnte von sich sagen, daß in seinem Reiche die Sonne nicht untergehe.

Die Interessen der verschiedenen Teile des Riesereichs waren zu verschieden, als da sie dauernd von demselben Monarchen gewahrt werden konnten. Die Habsburger teilten daher ihr Land, Karl I. behielt die Niederlande und Spanien mit seinen Besitzungen. Die österreichischen Erblande trat er 1521 seinem Bruder Ferdinand ab, der sich beeilte, sie wieder durch eine kluge Heirat zu vergrößern, indem er Anna heiratete, die Tochter Wladislaws von Böhmen und Ungarn. Im Jahre 1525 fielen dadurch diese beiden Länder den Habsburgern zu.

So wurden in jenen schönen Zeiten Reiche geschaffen. Kein Mensch dachte an die „Selbstbestimmung der Nationen“.

Die spanische Linie der Habsburger starb 1709 aus. Um das Erbe erhob sich nun ein wütender Kampf zwischen den österreichischen Habsburgern und Ludwig XIV. von Frankreich, dem Sohn einer spanischen Prinzessin. Ludwig beanspruchte den erlidigten Thron für seinen zweiten Enkel Philipp, der Kaiser für seinen zweiten Sohn Karl. Gegen das übermächtige Frankreich trat England auf, das sich das sich damals schon von dem Gedanken des europäischen Gleichgewichtsl leiten ließ und daher dem übermächtigen Frankreich entgegenwirkte. Als aber infolge des Todes seines Bruders der den spanischen Thron beanspruchende Habsburger Karl der Herr der österreichischen Länder und deutscher Kaiser wurde, fürchteten die Engländer, die Habsburger könnten durch Vereinigung des spanischen Besitzes mit dem österreichischen die Übermacht in Europa gewinnen, und schlossen daher mit Frankreich Frieden. Der Bourbone Philipp durfte das spanische Reich behalten unter der Bedingung, daß diespanische und französische Ktrone nie vereinigt würden. Österreich bekam die spanischen Niederlande (Belgien) sowie die spanischen Besitzungen in Italien.

Dieser Gewinn wurde zu einer neuen Quelle steter Reibungen mit Frankreich. Die italienischen Ansprüche der Habsburger entzogen ihnen nun ebensosehr wie ihre deutschen Aspirationen die Kraft zur Erfüllung jener historischen Aufgabe, an der ihren Untertanen damals am meisten lag, die auch im deutschen Volke ein starkes Intereffe an der Größe und Kraft der habsburgischen Monarchie erstehen ließ: dem Kampf gegen die Türken.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019