Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


3. Rußland und die Türkei


Das Moskauer Reich war der Erbe der Tataren, die über zwei Jahrhunderte lang, bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, den größten Teil des eigentlichen Rußland beherrscht und dort ein absolutes Regime aufgerichtett hatten. Die Moskauer Fürsten dehnten zuerst ihre Herrschaff aus mit Hilfe der Tataren, als deren treueste Diener. Als sie aber erstarkt waren und die Tataren ihre Kraft verloren hatten, warfen sie deren Joch ab und wurden Rußlands „Befreier“, daß heißt seine unumschränkten Despoten.

Das Selbstherrschertum der Moskauer Zaren hatte manche Züge mit jenem Absolutismus gemein, der sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert in Westeuropa unter dem Einfluß des aufstrebenden Kapitalismus entwickelte, andere Züge aber mit dem orientalischen Despotismus, der auf dem Fehlen des Kapitalismus, auf dem agrarischen Dorfkommunismus beruht. Das Rusische Reich wies in seinen Anfängen nicht geringe Ähnlichkeit mit dem Türkischen auf, entging aber doch der Starrheit und Unfruchtbarkeit, der vollständigen ökonomischen und geistigen Verödung, die das türkische Regime kennzeichnete. Natürlich haf auch der russische Despotismus den ökonomischen und sozialen Aufstieg seines Landes sehr erschwert und langsam genug gemacht. Doch machte er nicht jede Entwicklung unmöglich, wie der Despotismus des Sultans noch im vorigen Jahrhundert.

Eine der Ursachen der größeren Entwicklungsfahigkeit, die der russische vor dem türkischen Staat voraus hatte, sehen wir in der kirchlichen Organisation. Die beiden Staaten waren zu der Zeit, in der sie in Berührung mit Europa kamen, in einem Stadium, in dem die Kirche mehr als die Sprache ein Mittel wird, die Menschen zu vereinigen und zu trennen. Als Bekenner des Islam standen die Türken der europäischen Kultur verständnislos und abweisend gegenüber. Die Russen waren dagegen Christen, gehörten als solche dem europäischen Kulturkreis an. Wohl war ihre Kirche nicht die römisch-katholische, sondern die griechische, die Kirche des ehemaligen byzantinischen Reiches, die ihren Mittelpunkt in Konstantinopel gehabf hatte und die Christen Osteutopas umfaßte. Immerhin war die Absonderung des Ostens vom Westen Europas, die dadurch erzeugt wurde, nicht so tiefgehend wie die zwischen Christenheit und Islam.

Vom Beginn des neurussischen Reiches an fugten seine Selbstherrscher abendländische Industrie und abendländische Intelligenz in ihren Dienst zu ziehen. Peter der Große war nicht der erste, der in dieser Weise vorging. Er war nur derjenige, der es am intensivsten und konsequentesten betrieb. Die russischen Zaren haben dadurch, im Gegensatz zu den Sultanen der Türkei, ihre Kraft zeitweise gewaltig gesteigert aber freilich dabei auch die Elemente selbst großgezogen, die ihrer Herrschaft ein gründliches Ende bereiten sollten. Da die russische Intelligenz ebenso wie de russische industrielle Kapitalismus nicht langsam im Lande selbst aus den gegebenen Verhältnissen ewuchsen, sondern nach hochentwickelten ausländischen Mustern gebildet wurden, nahmen sie leicht die jüngsten und vollkommensten Formen europäischer Industrie und europäischen Denkens an. Von primitiver Hausindustrie schritt man in Rußland gleich zu Riesenbetrieben; bon beschränktestem Aberglauben und willenloser Egebenheit gegenüber den Behörden zu den radikalsten und kühnsten Gedanken über Religion, Staat und Gesellschaft. Freilich blieben diese Gedanken zunächst auf eine sehr dünne Oberschicht beschränkt.

Gleich dem türkischen war auch der russische Staat von seinen Anfängen im ein Erobererstaat, von unstillbarem Landhunger beseelt. Dabei hatte aber im Gegensatz zur Türkei das aufstrebende Moskowiterreich seit dem siebzehnten Jahrhundert das Glück, verfallende Staaten zu seinen Nachbarn zu habenn und diesen Staaten gegenüber kraftvolle Bundesgenossen zu finden.

Den Weg zur Ostsee versperrte ihm Schweden, ein ökonomisch gesundes Bauernland, das aber das Unglück hatte, daß die kriegerische Kraft seiner Bauernschaft in weltpolitischen Abenteuern seiner herrschenden Klassen von Gustav Adolf an (1611 bis 1632) bis zur Zeit Karls XII. (1697 bis 1718) vergeudet wurde, die das Land erschöpften und widerstandsunfähig machten. Im Kampfe gegen die Schweden fanden die Russen einen Bundesgenossen in den Polen. Aber die polnische Adelsrepublik wurde des schwedischen Slaates bloß Meister, um selbst in intern rapiden Verfall eine Beute der Russen zu werden, die dabei an Preußen einen tatkräftigen Bundesgenossen und Teilhaber an der Beute fanben. Zu diesen schwachen Nachbarn gesellte sich das Türkische Reich selbst, das schon im Niedergang begriffen war, als die russischen Zaren sich anschickten, auf seine Kosten nach dem Schwarzen Meer mit Konslantinopel als Endziel vorzudringen. Dabei stießen sie auf Österreich, das in derselben Richtung vorwärrsdrängte. Zeitweise verbündeten sich beide, um die Beute leichter zu erlegen und zu teilen. Zeitweise überwog diese Gegnerschaft im Kampfe um die Beute. War Österreich mit Rußland gegen die Türkei verbündet, dann hatte es regelmäßig das Pech, die Lasten des Krieges mit dem Bundesgenossen zu teilen, aber ohne Gewinne dabei zu erzielen, während Rußland seit seinem ersten Türkenkrieg im Jahre 1687 unter den zahlreichen weiteren Konflikten mit der Pforte kaum einen andeers beendete als mit einem Gewinn.

Dabei kam ihm sehr zustatten, daß es im Gegensatz zu Österreich auf der Balkanhalbinsel als Befreier auftrat. Wir haben schon den eigenartigen Charakter der gebildeten Schichten Rußlands angedeutet, unter denen die modernsten und radikalsten Ideen Westeuropas ohne den Ballast mittetalterlicher Traditionen Eingang fanden, die sich unter den Gebildeten Westeuropas zäh erhielten, am zähesten in England, wo der industrielle Kapitalismus zuerst zur Herrschaft kam. Weit mehr als etwa die Herrscher Österreichs legten die leitenden Kreise Rußlands auf den Beifall der liberalen öffentlichen Meinung Europas Wert und wußten den Vorteil zu würdigen, den ihnen dort die Pose des Befreiers von religiösem oder nationalem Druck verlieh. Sie durften sich diese Pose um so ungestrafter erlauben, als das Moskowiterreich selbst bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein gegen jede revolutionäre Volksbewegung gefeit schien. „Aufklärung, das war im achtzehnten Jahrhunder die Parole des Zarismus in Europa, wie Völkerbefreiung im neunzehnten.“ (Fr. Engels, Die auswärtige Politik des russichen Zarismus, Neue Zeit, VIII, S. 150)

Zunächst traten die Russen als religiöse Befreier auf, denn in den Gebieten, nach denen sie zuerst strebten,spielte das kirchliche Moment noch eine größere Rolle als das nationale. Dabei hatten sie den Vorteil, daß die Bevölkerung jener Gebiete mit ihnen durch den gleichen Glauben verbunden war.

Den katholischen, von den Jesuiten beherrschten Polen gegenüber gebärdete sich Katharina II., die Freundin der französischen Aufklärer, ebenso wie ihr verbünbeter Friedrich II., der sich auch zu den Gönnern der- Aufklärer zählte, als Verfechter der Glaubensfreiheit der Nichtkatholiken, der Angehörigen der griechischen Kirche im Osten, der Protestanten im Westen. Im Namen der religiösen Toleranz wurde Polen aufgefeilt.

Auf der Balkanhalbinsel trat Rußland ebenfalls als Schützer seiner Glaubensgenosen auf, im Gegensatz zu Österreich, das, sobald es nach Serbien und den Donaufürstentümern (dem heuftgen Rumänien) vordrang, auf eine Bevölkerung stieß, die der griechischen Kirche angehörte, indessen es selbst sich als Vormachf des Katholizismus fühlte und betätigte. Dabei schreckte Rußland nicht vor dem Entzünden des Aufruhrs im Hause des Nachbarn als Kriegsmittel gegen ihn zurück, während Österreich, namentlich seit der französischen Revolution, jedem Aufstand, wo immer er ausbrechen mochte, aufs feindseligste gegenüberstand.

Gerade zur Zeit der ersten Teilung Polens befand sich Katharina mit den Türken im Kriege. Und zur selben Zeif, in der sie die Rechte der Dissidenten in Polen gegenüber den Jesuiten verfocht, rief sie die Griechen in einem Manifest zur Revolution auf. Es gelang ihr tatsächlich, einen griechischen Aufstand zu entzünden, doch noch nicht, den Griechen die volle Unabhängigkeit zu verschaffen. Sie wurde gehinbert durch die Eifersuchf Österreichs, das mit Besorgnis den russischen Koloß in seiner Nachbarschaft anwachsen sah. Rußland erreichfe 1774 im Frieden von Kutschuk-Kalnardschi nur Amnestie für die Griechen und das Recht, für die Interessen der griechisch-christlichen Bevölkerung der Türkei vor dem Sultan zu plädieren, was die russische Regierung später als ein Protektorat über die Christen der Türkei auslegte.

Den nächsten Krieg mit der Pforte begann Rußland am Vorabend der französischen Revolution (1787). Diesmal im Bündnis mit Österreich. Abermals rief es die Griechen zum Freiheitskampf auf. Wieder erhoben sie sich, ohne die Freiheit zu gewinnen. Der Krieg endete 1792 ohne Gewinn für Österreich, mit kleinem Gewinn für Rußland. Es war das letzte Mal, das Österreich und Rußland der Türkei verbündet gegenüberstanden. Von nun an überwog Österreichs Besorgnis, Rußland könne auf Kosten der Türkei zu sehr erstarken.

Namentlich nachdem die militärische Kraft Napoleons bei seinem Zuge nach Moskau vor Rußland zerschellt war und der Zar als Schiedsrichter Europas austrat, gewann bei aller monarchischen Solidarität diese Besorgnia große Bedeutung für die Politik Österreichs, ja für die Europas überhaupt.

Um so mehr fühlte sich Rußland gedrängt, in den Augen Europas nicht mehr als Eroberer, sondern nur noch als Befreier gegenüber den Türken zu erscheinen. Freilich vermochte es dadurch Westeuropa nicht immer zu täuschen, aber dieses wußte der russischen Polifik keine andere entgegenzusetzen als die der Erhaltung des Status quo in der Türkei. Das war eine Politik, die bei dem unaufhaltsamen Niedergang des Osmanischen Reiches zum Scheitern vderurteilt war. Rußlannds Streben ging dahin, die Europäische Türkei, die es nicht erobern konnte dadurch von sich abhängig zu machen, daß es sie in eine Anzahl monarchischer Kleinstaaten verwandelte, die argwöhnisch gegeneinander, ebenso unfähig waren zu politischer Selbständigkeit, ebenso Vasallen eines stärkeren Nachbarn, wie die Staaten des Deutschen Bundes vor 1866. Die Kleinstaaterei auf dem Balkan lag ebenso im Interesse des Zaren wie die deutsche Kleinstaaterei im Interese der Monarchen Frankreichs.

Wolte Europa das Fortschreiten Rußlands in der Europäischen Türkei hindern, dann durfte es ihm nicht die Idee des Status quo, sondern die der Schaffung eines Großstaats der Balkannationen entgegensetzen, entweder eines Nationalitätenstaats, der freilich nur als Republik eine gedehliche Entwicklung verhieß, ofer doch zum mindesten eines serbisch-bulgarischen Staates zwischen einem freien Rumänien und Griechenland.

In Wirklichkeit ging die Weisheit der europäischen Diplomafie dahin, wenn sie schon nicht hindern konnte, daß einzelne Balkanstaaten durch das Eingreifen Rußlands nach und nach entstanden, doch zu trachten, sie so klein als möglich, das heißt, so abhängig als möglich von Rußland zu gestalten, da so kleine Staaten zu schwach waren, sich obne fremde Hilfe zu behaupten.

Unter Rußlands Hilfe wurden die Griechen befreit, die, von ihm aufgestachelt, sich 1821 erhoben und jahrelang einen verzweifelten Kampf führten, in dem sie fast erlagen, bis schließlich Rußland eingriff, das 1828 den Türken den Krieg erklärte und 1829 den Frieden von Adrianopel erzwang, der Griechnelands Selbständigkeit begründete, den Donaufürstentümern, die stets ihren eigenen Fürsten bewahrt hatten, das Recht der Erwählung ihrer Fürsten brachte und sie trotz der türkischen Oberhoheit unter russischen Schuth stellte.

Auch Serbien gewann durch diesen Frieden eine erhebliche Verstärkung seiner Selbständigkeit. Zuerst hatten sich die Serben 1804 erhoben, unter der Führung Kara Georgs, des „Schwarzen Georg“, und des Brüderpaars Obrenowitsch.

Sie hatten die neue Erhebung unter der Voraussetzung einer Billigung Österreichs begonnen. Schon Anfang Mai 1804 hatte Kara Georg der österreichischen Regierung eröffnen lassen, Serbien sei bereif, in den Komplex der österreichischen Monarchie zu treten und einen kaiserlichen Prinzen als Statthalter anzunehmen. Österreich tat nun das Unglaubliche, indem es nicht allein den serbischen Vorschlag ablehnte, sondern ihn an Rußland und die Türkei verriet. Rußland schickte sich sofort an, Schutzherr der serbischen Christen an Österreichs Stelle aufzutreten. [1]

Das war eine der ersten Erfahrungen mit Österreich, die die Serben in ihrem Freiheitskampf machten. Kara Georg versuchte noch weiterhin Anknüpfungen mit Österreich, stets mit dem gleichen Mißerfolg. Der Krieg, den dann Rußland 1805 gegen die Türkei begann, brachte den Serben Hilfe, indes nur vorübergehend, denn Rußland mußfe sich 1812, um alle Kräfte gegen Napoleon frei zu baben, mit der Türkei verständigen. Immerhin verhieß der Bukarester Friede von 1812 den Serben Amnestie und Selbstverwaltung. Doch mußten sie später noch hart darum kämpfen, bis sie im Frieden von Adrianopel endgültig anerkannt wurden.

Das Fortschreiten des russischen Einflusses auf dem Balkan war Österreich sehr unangenehm, zum Größten Teil aber durch seine eigene Zauderpolitik verschuldet sowie durch siw Überlegenheit der russischen Staatskunst herbeigeführt, die tatsächlich der Hort der Reaktion war, dabei jedoch kein Bedenken trug, die Revolution auszunutzen.

Als Rußland 1828 den Krieg gegen die Türkei eröffnete, geschah es anscheinend zum Schutze der Griechen, deren Sache bei allen Völkern Europas als die der Freiheit ebenso populär war wie später die der aufständischen Polen. Gleichzeitig aber gewann es den König Karl X. von Frankreich für sich, indem ss ihm für den Fall eines gemeinsamen Krieges mit Österreich das deutsche Gebiet links vom Rhein in Aufsicht stellte. Metternich ließ sich durch die Gegnerschaft Frankreichs einschüchtern, schon desbalb, weil er vom Weltkrieg die Revolution befürchtete. Dazu kam, daß Preuften an Rußland festhielt. So blieb trotz des Gegensatzes auf dem Balkan die „Heilige Allianz“ bestehen.

Nach der Niederlage der Revolufion von 1848 glaubte der Zar Nikolaus, die Zeit sei gekommen, dem türkischen Regime in Europa vollends den Garaus zu machen. Die Gefahr, Rußtland werde sich endgültig in Konstantinopel festsetzen, war so dringend, daß Frankreich und England sich zu energischerem Widerstand genötigt sahen. Auf ihre Seite traf nach einigem Schwanken Österreich. Zur großen Überraschung des Zaren, dessen Hilfe gegen die rebellischen Ungarn eben erst die Herrschaft der Habsburger vor dem Zusammebruch gerettet hatte.

Doch hatte gerade diese Revolution eine neue Gefahr aufgedeckt, mit der von Rußland Österreich ebenso bebroht wurde wie die Türkei, den Panslawismus, die Ibee, daß alle slawischen Völker eine innige politische Gemeinschaft zu bilden hätten.


Footnote

1. Bamberg, Geschichte der orientalischen Angelegenheiten, Berlin 1892, S. 385.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019