Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


8. Die großserbische Idee


Je mehr diese Versuche auf Widerstand stießen, im Rahmen des Kaiserstaats das nationale Sehnen der in ihm zersplitterten Serbokroaten zu befriedigen, desto mehr mußte der Boden geebnet für eine Idee, die über diesen Rahmen hinausging.

Diejenigen, die daran zweifelten, Hilfe aus der Wiener Hofburg zu erhalten, begannen ihre Blicke nach dem benachbarten Serbien zu richten, wo ihre Nationsgenossen ein freies Gemeinwesen bewohnten, mit vollster Preß- und Vereinsfreiheit, während in Kroatien der Ausnahmezustand, in Bosnien die Militärdiktatur herrschte. Die Idee eines Großserbien kam auf, die Idee der Vereinigung aller Serbokroaten in einem selbständigen Staate. Vom Königreich Serbien erwartete man dabei, es werde für die serbische Einigung das leisten, was für die Befreiung und Einigung Italiens das kleine Königreich Sardinien geleistet hatte.

Da Wünsche frei sind, kann man, sobald man erst einmal beim Gedanken Großserbiens war, darauf, ihm auch die Slowenen einzuverleiben, deren Sprachgemeinschaft an die serbokroatische grenzt. Die Slowenen sind erst im Begriff, eine Schriftsprache zu entwickeln, und begegnen dabei angesichts der Kleinheit und Rückständigkeit ihres Landes großen Schwierigkeiten. Ihre Sprache ist der serbischen ähnlich und wurde sich ihr bei längerer staatlicher Gemeinschaft wohl anpassen. An den sprachlichen Unterschieden braucht also die Einverleibung der Slowenen in den fertigen Nationalstaat nicht zu scheitern.

Die Zahl der Serbokroaten beträgt heute an 10 Millionen, die der Slowenen über eine Million. Das ergäbe schon einen ganz erklecklichen Staat. Kein Wunder, daß die großserbische Idee als Wunsch manchen Serben entzückte, in der Literatur und bei Festreden nationaler Vereine eine Rolle zu spielen begann, wobei als Vorbild die nationalen Bestrebungen der Italiener und Deutschen des vorigen Jahrhunderts vorgeführt wurden, die auch in den Staatsmännern Österreichs ihre größten Gegner gefunden hatten.

Doch waren die Hindernisse so groß, die sich der Idee entgegensetzten, daß ernsthafte Versuche, ihre Verwirklichung vorzubereiten, nicht zutage traten. Alle Beschulgigungen, die in dieser Beziehung erhoben wurden, haben sich als haltlos erwiesen. Selbst Hashagen, der mit den Tatsachen sehr frei umspringt und für die österreichische Regierung sehr viel übrig hat, muß darüber mitteilen:

Am 25. März 1909, also noch einige Tage vor Beilegung der Annexionskrise, veröffentlichte der führende deutschösterreichische Historiker, Heinrich Friedjung in der Neuen Freien Presse, einen scharfen Artikel gegen die großserbische Propaganda auf dem Boden der Monarchie. Insbesondere beschuldigt er Abgeordnete des Kroatischen Landtags verdächtiger Beziehungen zur serbischen Regierung. Da Friedjung von kroatischer Seite wegen Beleidigung verklagt und zur Vorlegung seiner Beweise aufgefordert wird kommt es in Wien zum Prozeß, in dem sich zwei für die Kroaten belastende Dokumente auf denen Friedjung gefußt hat, als Fälschungen herausstellen. Friedjung zieht darauf am 22. Dezember 1909 seine Behauptungen zurück. Großes Aufsehen erregt nun aber, daß die Dokumente aus dem Ministerium des Äußern stammen. Da sie sich teilweise als gefälscht herausstellten, so betrachtet man diesen Ausgang des Friedjungprozesses als „mißglückten Versuch Aehrenthals ... den Nachweis für das Vorhandensein einer großserbischen Propaganda zu liefern“. Damit ist aber die Sache noch nicht erledigt. Einmal wird von Mai bis Oktober in einem Agramer Hochverratsprozeß gegen nicht weniger als 53 Untertanen der Monarchie wegen großserbischer Umtriebe verhandelt. 18 von ihnen müssen wegen mangelnder Beweise sofort freigesprochen werden. Das Urteil gegen die übrigen wird später ebenfalls aufgehoben, weil das Beweismaterial wieder teilweise gefälscht worden ist. (Umrisse der Weltpolitik, Leipzig 1916, B.G. Teubner, 2. Band, 1908 bis 1914, S. 40)

Hashagen sagt nicht, wieso die gefälschten Dokumente, auf denen die ganzen Beschuldigungen Friedjungs beruhten, ins Ministerium des Äußern kamen und wer sie gefälscht hat.

Professor Masaryk hat darüber ausführlicher gehandelt. Zuerst in den Delegationen, dann in einer Schrift Vasič-Forgach-Aehrenthal, einiges Material zur Charakteristik unserer Diplomatie, Prag 1911. Er erhob dort die schwersten Anklagen gegen den österreichischen Gesandten in Belgrad, den Grafen Forgach.

In seiner Erwiderung ging Aehrenthal auf die Tatsachen nicht ein. Er erwiderte nur, er weise den Angriff gegen den Grafen Forgach entschieden zurück. Graf Forgach sei in Belgrad und speziell bei der serbischen Regierung sehr beliebt. Diese Beliebtheit des Grafen Forgach in Belgrad wurde darauf vom serbischen Minister Milovanovitsch bestritten.

Wie dem auch sein möge. Jedenfalls beweisen diese Affären, daß man in österreichischen Regierungskreisen durch die großserbische Propaganda sehr nervös geworden war. Der schon bestehende und tiefgehende Gegensatz zu Serbien wurde nun noch mehr verschärft.

Derselbe Franz Ferdinand aber, zu dem die Serbokroaten vertrauensvoll aufblickten, soweit sie großösterreichischen oder trialistischen Tendenzen huldigten war naturgemäß der energischste Bekämpfer des Großserbentums. Graf Aehrenthal, der im Oktober 1906 Minister des Äußern wurde, galt als Vertrauensmann des Thronfolgers.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019