Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


13. Das Attentat von Sarajewo
und das österreichische Ultimatum


Die Entrüstung über die auf dem Balkan neugeschaffene Situation hielt in den regierenden Kreisen Österreichs an. Serbien hatte seine Grenze bis an Montenegros vorgeschoben. Beide Staaten bildeten jetzt zusammen eine Barriere, die den Weg nach Saloniki von Bosnien aus verschloß. Diese Situation schien unerträglich zu sein. Daher jener Vorgang, über den Hashagen in folgender Weise Mitteilung macht:

Giolitti hat am 5. Dezember 1914 ein Schreiben San Giulianos an ihn, Giolitti, vom 9. August 1913 mitgeteilt, wonach Österreich-Ungarn seine beiden Bundesgenossen damals vergebens um die Genehmigung einer vorbeugenden Defensivaktion gegen Serbien ersucht hat.

Italien lehnte ab, weil es der „vorbeugenden“ Aktion den Charakter der „Defensivaktion“ absprach.

Die Reibungen zwischen Österreich und Serbien aber nahmen ihren Fortgang und ebenso die inneren Konflikte in Kroatien und Bosnien. Welchen Höhegrad diese erreichen, bewies die Serie von Attentaten, von denen wir schon berichteten.

Ein Zeichen der tiefgehenden Erregung der leitenden Kreise Österreichs waren die ununterbrochenen Verstärkungen der Armee. Ihre Friedensstärke wurde 1912 von 418.000 auf 516.000 Mann gesteigert, 1913 dann weiter auf 585.000 Mann. Das Marinebudget betrug 1910 84 Millionen Kronen, 1912 bereits 180 Millionen. (Nach den Angaben Leuthners auf dem Wiener Parteitag 1913, Protokoll, S. 199, 201)

In dieser Atmosphäre erstand der Plan, große Manöver unter dem Thronfolger in Bosnien abhalten. Man erhoffte dadurch wohl das Großserbentum zu deprimieren, die loyalen Elemente zu ermuntern. In Wirklichkeit trat ein, was bei einer ähnlichen Gelegenheit 1882 in Triest eingetreten war: ein Attentat auf die Persönlichkeit, die als Verkörperung der österreichischen Politik galt. Aber das Attentat Oberbanks war vereitelt worden, die Tat Princips und Gabrinowitschs gelang nur zu gut.

Und Oberbanks Versuch fiel in eine Periode relativer Ruhe in Österreich, der Mord von Sarajewo in eine Zeit fieberhafter Erregtheit. Der Funke, den Oberbank aufblitzen ließ, zündete nicht, er wurde leicht ausgetreten. Der Funke von Sarajewo fiel in ein Pulverfaß und brachte den Erdball zur Explosion.

Der Vergleich mit dem Fall Oberbank zeigt, daß diese Wirkung nicht eine notwendige Folge des Attentats überhaupt war, sondern eine Folge der historischen Situation, in der er sich ereignete.

Die Verhandlungen mit Serbien, die auf das Attentat folgten, wurden zum Teil von dem Grafen Forgach geführt, den wir schon als österreichischen Gesandten in Belgrad kennengelernt haben und der es seitdem zum Sektionschef im Ministerium des Äußern in Wien gebracht hatte. Wenn der serbische Gesandte in Wien richtig informiert wurde, war Forgach der Verfasser der Anklage gegen Serbien und des20 Ultimatums, aus dem der Krieg hervorging.

Der Gesandte J. M. Jowanowitsch berichtet an Paschitsch, nachdem er Wien schon verlassen hatte, am 16. August 1914, daß der österreichische Minister des Äußern, Graf Berchtold, in den Verhandlungen über die serbische Frage zeitweilig durch den Grafen Forgach vertreten wurde. Es heißt dort:

Der russische Botschafter, der in Abwesenheit des Grafen Berchtold mehrmals mit de Grafen Forgach über diese Frage sprach, konnte die wahre Bedeutung der österreichisch-ungarischen Absichten nicht herausfinden.

Anderen Gesandten sei es ebenso gegangen, doch habe man sie annehmen lassen, der zu erwartende Schritt Österreichs in Belgrad werde einen versöhnlichen Charakter tragen.

Trotz alledem wurde bekannt, daß im Ministerium des Äußern an einer Note gearbeitet werde, in der die Anklagen gegen Serbien und die Forderungen Österreichs niedergelegt werden sollten. Diese Arbeit war dem Grafen Forgach, ehemaligem österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad, anvertraut. Es herrschte allgemein die Überzeugung, daß über diese Frage von allen fremden Vertretern nur der deutsche Botschafter Herr v. Tschirschky auf dem laufenden erhalten wurde, und ich habe Grund zu der Annahme, daß er an der Note auch mitarbeitete. Wegen dieser beiden Faktoren stimmten die Vertreter der uns wohlgeneigten Mächte meiner Auffassung bei, daß diese Note sehr schwere Bedingungen für Serbien, nicht aber, daß sie solche Forderungen enthalten würde, die nicht annehmbar seien, (Serbisches Blaubuch zur Vorgeschichte des Krieges, deutsche Ausgabe, herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Nr. 52)

Die Militärische Rundschau in Wien schrieb damals:

Der Augenblick ist uns noch günstig. Wenn wir uns jetzt nicht für den Krieg entscheiden, wird der Krieg, den wir in spätestens zwei oder drei Jahren führen müssen, unter viel weniger günstigen Umständen begonnen werden. Gegenwärtig liegt die Initiative in unserer Hand: Rußland ist nicht bereit; die moralischen Faktoren und das gute Recht sind auf unserer Seite, ebenso die Kraft. Da wir doch eines Tages den Kampf werden annehmen müssen, so wollen wir ihn sogleich herbeiführen. Unser Ansehen, unsere Großmachtstellung, unsere Ehre stehen auf dem Spiel. Ja noch mehr, denn wahrscheinlich würde es sich um unsere Existenz, um Sein und Nichtsein handeln. (Zitiert in dem Bericht des französischen Botschafter in Wien vom 15. Juli 1914, französisches Gelbbuch zur Vorgeschichte des Krieges, deutsche Ausgabe, Herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Nr. 12)

Nach weiteren Mitteilungen desselben Gelbbuchs wurde diese Auffassung allerdings nicht allgemein in Österreich geteilt. So heißt es dort unter Nr. 14 (20. Juli 1914):

Hier (in Wien) sowohl wie in Berlin gibt es gewisse Kreise, die sich mit dem Gedanken eines großen Konflikts befreundet haben, mit anderen Worten also mit einem Weltbrand. Der leitende Gedanke ist allem Anschein nach der, daß man losschlagen müsse, bevor Rußland mit der Vervollkommnung seiner Heereseinrichtungen und dem Ausbau seiner Eisenbahnen fertig sei und bevor Frankreich seine militärische Organisation durchgeführt habe. Aber hier besteht in den höheren Kreisen keine einheitliche Meinung darüber. Graf Berchtold und die Diplomaten möchten sich auf eine Operation gegen Serbien beschränken.

In der Tat behauptete auch die österreichische Regierung damals, der Konflikt mit Serbien sei eine rein lokale Angelegenheit, die die Welt nichts angehe.

Es würde den Rahmen der vorliegenden Darstellung überschreiten, zu schildern, wie trotzdem der Brand, der nach dem Wiener Programm nur ein lokales Feuerchen zu bleiben hatte, rasch lichterloh aufflammte und schließlich die ganze Welt in Flammen setzte.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019