Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
österreich und Serbien


15. Die Wiederherstellung Serbiens


Zwei andere Lösungen, die vorgeschlagen wurden, scheinen „realpolitisch“ leichter erreichbar zu sein, sie fordern aber unseren stärksten Widerspruch heraus.

Die eine wäre die Aufteilung Serbiens zwischen Österreich und Bulgarien, die andere die Wiederherstellung Serbiens, aber nicht als selbständiges Gemeinwesen, sondern als Vasallenstaat Österreichs, an dieses durch eine Militär- und Eisenbahnkonvention und ähnliche Abmachungen gefesselt.

Diese Lösungen sollen rein imperialistischen Interessen dienen, die Barriere aus dem Wege räumen, die ein selbständiges Serbien dem Vormarsch nach Saloniki oder der strategischen Verbindung Berlin-Bagdad entgegenstellt. Bulgarien soll direkt an österreich grenzen, nichts die Verbündeten trennen.

Natürlich wäre auch damit keine materielle Garantie für die Imperialisten österreichs und Deutschlands gegeben, denn die Bündnispolitik eines selbständigen Bulgariens und einer selbständigen Türkei kann wechseln. Sicher aber wäre eines: die wildeste Empörung der Serben aller Klassen und aller Gebiete gegen diese Erwürgung ihrer Nation und ihrer Freiheit. Österreich wie Bulgarien gewännen damit zehn Millionen geschworene Feinde, die stets bereit wären, jede Verlegenheit eines dieser beiden Staaten zu benutzen, um seine Feinde zu unterstützen. Mehr als je würde dadurch der Balkan zu einem Herd ständiger Unruhe und Empörung, der Zustand verschlimmert und noch unerträglicher gemacht, der bis zum Kriege bestand und seinen Ausbruch herbeiführte.

Sicher gibt es kein Kriegsziel, dessen Erreichung den ewigen Frieden sichert. Hier aber hätten wir eines, dessen Erreichung im Friedensschluß den baldigen Wiederausbruch des Krieges unvermeidlich machte.

Es bedarf keiner näheren Darlegung, um zu zeigen, daß für einen internationalen Sozialdemokraten die beiden Lösungen von vornherein unannehmbar sind, da sie im vollsten Widerspruch zu aller Demokratie und Internationalität, zu dem Grundsatz der Selbstbestimmung der Nationen stehen. Überdies würde das bloße Anstreben dieser Lösungen nicht minder wie das der beiden früher erörterten radikalen eine ungeheure Verlängerung des Krieges bedeuten.

So bleibt nichts anderes übrig als die Rückkehr zu dem Ausgangspunkt des Krieges, Wiederherstellung Serbiens als völlig freier Staat. Wenn Österreich den Krieg an Serbien erklärte, bloß zu dem Zwecke, es mit einer Strafexpedition heimzusuchen, so hat es ihn vollauf erreicht. Nur ist leider daraus eine Strafexpedition für ganz Europa, ja fast für die ganze Welt geworden.

Nimmt man zum Ausgangspunkt der Friedensverhandlungen für Serbien den Status quo, so müßte man doch dabei trachten, diesem die schlimmsten Reibungsflächen zu nehmen, die ihn vor dem Kriege so unerträglich und gefährlich machten: den Gegensatz zu Bulgarien, die Abschließung vom Meer, die unbefriedigende Stellung der Serben in österreich.

Wir haben Serbiens Sündenfall gegenüber Bulgarien im Balkankrieg schon kennengelernt. Nachdem sich die beiden untereinander und mit Griechenland über die Teilung Mazedoniens verständigt, wurde Bulgarien von seinen Verbündeten daraus verdrängt. Sollte man Serbien mit seinem damals gewonnenen mazedonischen Besitz wiederherstellen, so bedeutete das eine Verlängerung der Feindschaft zwischen Serbien und Bulgarien, eine Vergewaltigung des letzteren. Das dürfte am zweckmäßigsten sein, bei Festsetzung der mazedonischen Grenze von der Verständigung auszugehen, zu der die beiden während des ersten Balkankriegs gelangt waren.

Sich dabei streng an die Sprachgrenze halten zu wollen, wäre verfehlt, da diese, wie schon bemerkt, nicht deutlich festzustellen ist. Richtig aber ist es, den Zankapfel zwischen beiden Staaten aus dem Wege zu schaffen, ihre Verständigung zu ermöglichen, und das geschieht wohl am besten, wenn man auf die Abmachung von 1912 zurückgreift, die ein Produkt der Verständigung beider Teile war.

Hinfällig wurde sie durch den Einspruch, den Österreich gegen Serbiens Zugang zur Adria im Namen der albanesischen Freiheit erhob. Nun ist ein selbständiger albanesischer Nationalstaat, wie wir gesehen haben, nicht lebensfähig. Eine Berücksichtigung der Sprache und der Freiheiten der Albanesen wäre, such im Rahmen des serbischen Staates möglich und geboten, nicht nur im Namen der Demokratie, sondern auch durch das Interesse Serbiens selbst. So wenig ein Volk auf der Kulturstufe der Albanesen imstande ist einen modernen Nationalstaat zu bilden, so kraftvoll ist es in der Verteidigung alten Freiheit. Die Basken haben sie lange erfolgreich gegen ganz Spanien, die schottischen Hochländer gegen die Briten verteidigt. Ein jeder Versuch, die Albanesen zu vergewaltigen, würde die Serben teuer zu stehen kommen.

Die albanesische Frage ist das schwierigste der Balkanprobleme. Aus Albanien einen modernen selbständigen Staat zu machen, ist zurzeit unmöglich, die Albanesen einem anderen Staatswesen gewaltsam einzuverleiben, wäre eine für alle Beteiligten eine sehr verlustreiche und degradierende Operation.

Sollte sich kein Modus finden, den Serben den Zugang zur Adria durch albanesisches Gebiet unter Schonung albanesischer Eigenart und Freiheit zu ermöglichen, dann bliebe noch der Ausweg, Montenegro, das einen Meereshafen besitzt, Alvari, mit Serbien zu einem Gemeinwesen zu verschmelzen. Die beiden Staaten grenzen seit dem Balkankrieg von 1912 aneinander, sind beide von Serben bewohnt. Ihre Vereinigung würde einen großen Fortschritt bedeuten und wahrscheinlich von der Bevölkerung hier wie dort mit Freuden begrüßt werden.

Dem Bau der schon 1908 geplanten Donau-Adria-Bahn stünde dann nicht mehr im Wege. Serbien bekäme die Freiheit seiner ökonomischen Entwicklung, der quälende und von jedem Bauern des Landes tief empfundene Antrieb des Gegensatzes gegen Österreich wäre aus dem Wege geräumt. Zu Bulgarien wie zu Österreich könnte Serbien nun in ein freundschaftliches Verhältnis treten, das einen dauernden Frieden verhieße.

Doch der Gegensatz zwischen österreich und Serbien ist nicht bloß einer zwischen zwei Staaten, er ist auch ein Gegensatz einem Regierungssystem und einer Nation, die in beiden Staaten ihre Wobnsitze hat. Der österreichisch-serbische Gegensatz wird nicht schwinden, solange es in Österreich ein unerlöstes Serbien gibt.

Die radikalste Lösung dieses Gegensatzes, die Herstellung eines serbischen Nationalstaats, der die gesamte Nation einigt entweder als unabhängiger Staat oder als Teil eines österreichischen Bundesstaats, ist, wie wir gesehen haben, unter den gegebenen Machtverhältnissen entweder gar nicht oder doch nur unter Opfern erreichbar, die in keinem Verhältnis zu dem möglichen Gewinn stünden.

Eine erhebliche Milderung des Gegensatzes, die ihn unter Umständen schließlich verschwinden lassen könnte, träte ohne jede Veränderung der österreichisch-serbischen Grenze dann ein, wenn den Südslawen in Österreich zum mindesten die gleiche Freiheit zuteil würde, die sie in Serbien besitzen, so daß die Demokratie im serbischen Staate sich durch keine Pflicht der Solidarität mehr gedrängt fühlen würde, ihren Brüdern jenseits der Landesgrenzen helfen zu wollen, und wenn diese keine Ursache hätten, ihre Nationsgenossen im Nationalstaat politisch oder ökonomisch zu beneiden; wenn die Zerreißung der Südslawen Österreichs in vier Gruppen, die vier verschiedenen staatsrechtlichen Gebilden zugewiesen sind, ebenso ein Ende nähme wie die Ausnahmezustände in Kroatien und Bosnien, und wenn ihnen eine demokratische Verfassung und Verwaltung zuteil würde. Dann könnte die serbische Irredenta in Österreich ebenso aufhören, wie es in der Schweiz heute keine deutsche und französische Irredenta gibt.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019