Karl Kautsky


Demokratie oder Diktatur



Die Wirkungen der Demokratie

Der moderne Staat ist ein stramm zentralisierter Organismus, eine Organisation, die die größte Macht innerhalb der modernen Gesellschaft bildet und das Schicksal jedes einzelnen in der eingreifendsten Weise beeinflusst, was am riesenhaftesten zutage tritt im Falle eines Krieges. Da bekommt jeder zu fühlen, wie sehr seine Existenz von der Politik der Staatsgewalt bestimmt wird.

Was ehedem für den einzelnen die Gentilgenossenschaft, dann die Gemeinde gewesen, das wird nun der Staat. Waren aber jene Gemeinschaften in ihrer Anlage demokratisch organisiert, so erhebt sich dagegen die moderne Staatsgewalt, Bürokratie und Armee, über der Bevölkerung, ja sie gewinnt solche Kraft, dass sie zeitweise sogar über die gesellschaftlich und ökonomisch herrschenden Klassen politisch hinauswächst und eine absolute Regierung zu bilden vermag.

Doch dieser Zustand dauert nirgends an. Die absolute Herrschaft der Bürokratie führt zu ihrer Verknöcherung und zum Versinken in endlosen zeitraubenden Formalismus. Und das gerade in der Zeit, in der der industrielle Kapitalismus erwächst, die revolutionärste Produktionsweise, die es gibt, die alle ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen einem steten Wechsel unterwirft, dem Geschäftsleben ein rasches Tempo verleiht und rascheste Entschlüsse heischt.

Dabei führt die absolute Herrschaft der Bürokratie zur Willkür und Bestechlichkeit; ein System gesellschaftlicher Produktion wie das kapitalistische, in dem jeder Produzent von zahlreichen anderen abhängig ist, bedarf aber zu seinem Gedeihen der Sicherheit und der Gesetzlichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen.

Der absolute Staat geriet daher in immer größeren Widerspruch mit den Produktionsbedingungen, wurde eine Fessel für sie. Es wurde dringend notwendig, die Organe der Staatsgewalt der öffentlichen Kritik zu unterwerfen, neben die staatliche Organisation freie Organisationen der Staatsbürger zu setzen, die Selbstverwaltung der Gemeinden und Provinzen herzustellen, dem bürokratischen Apparat die Macht der Gesetzgebung zu nehmen und ihn der Kontrolle einer von der Bevölkerung frei gewählten zentralen Versammlung, eines Parlaments zu unterwerfen.

Die Kontrolle der Regierung ist die wichtigste Aufgabe des Parlaments, darin ist es durch keine andere Institution ersetzbar. Es ist denkbar, wenn auch praktisch kaum möglich, der Bürokratie die Gesetzgebung in der Weise aus der Hand zu nehmen, dass die Gesetze durch Kommissionen von Fachleuten ausgearbeitet und dann dem Volke zur Entscheidung vorgelegt werden. Aber auch die eingefleischtesten Verfechter der direkten Gesetzgebung durchs Volk sprechen nicht von einer direkten Kontrolle der Regierung durch das Volk. Die Tätigkeit der den Staatsorganismus leitenden zentralen Körperschaft kann nur durch eine andere zentrale Organisation überwacht werden, nicht durch eine unorganisierte formlose Masse wie das Volk.

Die hier dargelegten Bestrebungen zur Überwindung der absoluten Macht der Staatsgewalt sind allen Klassen eines modernen Staates eigen, mit Ausnahme derjenigen, die an dieser Macht teilhaben. Also allen, mit Ausnahme der Bürokraten, Offiziere, des Hofadels und der Hofkirche, sowie der großen Bankiers, die mit dem Staate lukrative Geldgeschäfte machen. Vor dem vereinten Drängen der anderen Klassen, darunter auch des Landadels, der niederen Geistlichkeit, der industriellen Kapitalisten, musste das absolute Regime weichen. Es musste mehr oder weniger Pressfreiheit, Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit und ein Parlament gewähren. Diese Entwicklung hat sich in allen Staaten Europas siegreich durchgesetzt.

Aber dabei wollte jede Klasse der neuen Staatsform eine Gestaltung geben, die ihren besonderen Interessen am meisten zustatten am. Dieses Streben trat besonders zutage in den Kämpfen um die Gestaltung des Parlaments, das heißt in den Kämpfen ums Wahlrecht.

Die Parole der unteren Klassen, des „Volkes“, wurde das allgemeine Wahlrecht. Nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch die Kleinbauern und Kleinbürger haben ein Interesse an diesem Wahlrecht. Diese Klassen zusammen bilden überall unter allen Umständen die große Mehrheit der Bevölkerung. Ob die Proletarier in ihr überwiegen, hängt von der Höhe der ökonomischen Entwicklung ab. Keineswegs aber hängt es von dieser ab, ob in der Bevölkerung die arbeitenden Klassen überhaupt überwiegen. Die Ausbeuter bildeten stets nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung.

Dem Ansturm dieser Massen kann sich auf die Dauer kein modernes Staatswesen entziehen, dazu kommt, dass jedes andere Wahlrecht als das allgemeine, in der heutigen Gesellschaft zu Absurditäten führt. In der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrem steten Wechsel der Verhältnisse können die Klassen nicht zu fest gefügten Ständen erstarren. Alle sozialen Verhältnisse sind in stetem Fluss. Ein ständisches Wahlrecht wird schon dadurch ausgeschlossen. Eine Klasse aber, die nicht als Stand organisiert wird, bildet eine formlose, fließende Masse, die genau abzugrenzen ganz unmöglich ist: Eine Klasse ist eine ökonomische Kategorie, keine juristische, die Klassenzugehörigkeit selbst eine stets wechselnde. Gar mancher Kleinhandwerker, der bei vorherrschendem Kleinbetrieb sich als Besitzender fühlen wird, empfindet sich bei vorherrschendem Großbetrieb als Proletarier, wird zu einem wirklichen Proletarier, wenn ihn auch die Statistik zu den besitzenden und selbständigen Unternehmern zählen mag. Es gibt auch kein Zensuswahlrecht, das den Besitzenden ein dauerndes Monopol auf das Parlament verleihen würde. Jede Periode der Geldentwertung kann es über den Haufen werfen. Ein Bildungszensus endlich wird immer mehr gegenstandslos durch die Fortschritte der Volksbildung.

So wirken die verschiedensten Faktoren zusammen, um das allgemeine, gleiche Wahlrecht als das einzige rationelle in der heutigen Gesellschaft erscheinen und es immer mehr vordringen zu lassen.

Vor allem ist es das einzig rationelle vom Standpunkt des Proletariats als unterster Klasse der Bevölkerung, dessen wirksamste Waffe seine Zahl ist, das sich erst dann befreien kann, wenn es auch zur zahlreichsten Klasse der Bevölkerung geworden ist, wenn die kapitalistische Gesellschaft soweit entwickelt ist, dass nicht mehr Bauern und Kleinbürger in den arbeitenden Klassen überwiegen.

Aber das Proletariat hat auch ein Interesse daran, dass das Wahlrecht nicht nur ein allgemeines und gleiches, sondern ein unterschiedsloses ist, dass nicht etwa Frauen und Männer oder Lohnarbeiter und Besitzende in verschiedenen Kurien wählen. Jede derartige Teilung bringt nicht bloß die Gefahr mit sich, dass einzelne Schichten, die ihrer ganzen sozialen Lage nach zum Proletariat gehören, aber formell keine Lohnarbeiter sind, von ihm abgetrennt werden, sie erzeugt auch die noch viel größere Gefahr, den Sinn des Proletariats zu verengern. Seine große historische Aufgabe entspringt daraus, dass das gesellschaftliche Gesamtinteresse zusammenfällt mit seinem dauernden Klasseninteresse, was nicht immer gleichbedeutend ist mit seinen augenblicklichen Sonderinteressen.

Es gehört zur Reife des Proletariats, dass sein Klassenbewusstsein auf die höchste Stufe erhoben ist durch sein Verständnis der großen gesellschaftlichen Zusammenhänge und Ziele, ein Verständnis, das nur der wissenschaftliche Sozialismus zu völliger Klarheit bringt, das aber nicht nur durch seine Theorie, sondern auch durch seine Praxis gefördert und verbreitet wird, wenn der Proletarier in die Politik mit dem Hinblick auf die Gesamtheit eingreift und nicht bloß im Hinblick auf seine besonderen Interessen. Jede Beschränkung auf die beruflichen Interessen verengert den Sinn; dies bildet eine der Schattenseiten des Nurgewerkschaftertums, hier liegt die Überlegenheit der sozialdemokratischen Parteiorganisation. Hier liegt auch die Überlegenheit eines unterschiedslosen gegenüber einem Wahlrecht, das die Wähler nach Kategorien einteilt. Ein solches Kategorienwahlrecht bildet auch die Einschachtelung der Wähler in die besonderen Kategorien von Arbeitern, Soldaten, Bauern, von denen jede ihre besonderen „Räte“ wählte.

In den Kämpfen um die hier erwähnten politischen Rechte ersteht die moderne Demokratie, reift das Proletariat. Damit ersteht aber auch ein neuer Faktor: der Schutz der Minoritäten, der Opposition im Staate. Die Demokratie bedeutet Herrschaft der Majorität. Sie bedeutet aber nicht minder Schutz der Minderheit.

Die absolute Herrschaft der Bürokratie richtet sich auf ewige Dauer ein. Die gewaltsame Unterdrückung jeder Opposition ist ihr Lebensprinzip. Fast überall konnte sie nur dadurch beseitigt werden, dass ihre Gewalt gewaltsam gebrochen wurde.

Anders steht es in der Demokratie. Sie bedeutet, wie schon gesagt, Herrschaft der Majorität. Aber Majoritäten wechseln. In der Demokratie kann sich kein Regime auf ständige Dauer einrichten.

Schon die Machtverhältnisse der Klassen sind nicht etwas Beständiges, am allerwenigsten im kapitalistischen Zeitalter. Aber noch rascher als die Macht der Klassen wechselt die Macht der Parteien. Und diese sind es, die in der Demokratie um die Herrschaft ringen.

Auch hier darf man nicht vergessen, was so oft geschieht, dass die Vereinfachungen der Abstraktion der Theorie wohl unentbehrlich sind, die Wirklichkeit klar erkennen zu lassen, dass sie aber nur „in letzter Linie“ gelten und zwischen ihnen und der Wirklichkeit viele Zwischenglieder bestehen.

Eine Klasse kann herrschen, aber nicht regieren, denn eine Klasse ist eine formlose Masse, regieren kann jedoch nur eine Organisation. Die politischen Parteien sind es, die in der Demokratie regieren. Eine Partei ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Klasse, obwohl jede in erster Linie ein Klasseninteresse vertritt. Ein und dasselbe Klasseninteresse kann man in sehr verschiedener Weise vertreten durch verschiedene taktische Methoden. Je nach deren Verschiedenheit spalten sich die Vertreter desselben Klasseninteresses in verschiedene Parteien. Vor allem werden dabei entscheiden die Fragen nach der Stellung zu anderen Klassen und Parteien. Nur selten verfügt eine Klasse über soviel Kraft, dass sie allein den Staat beherrschen kann. Kommt eine Klasse ans Ruder und vermag sie sich aus eigener Kraft nicht zu behaupten, dann sucht sie daher einen Verbündeten. Sind für sie verschiedene Verbündete möglich, so werden in den Vertretern des herrschenden Klasseninteresses verschiedene Meinungen und Parteiungen entstehen.

So vertraten in England während des 18. Jahrhunderts Whigs und Tories das gleiche Grundbesitzerinteresse. Doch jene suchten es zu fördern durch Vereinigung mit den städtischen Bourgeois auf Kosten der Krone und ihrer Machtmittel, diese dagegen glaubten, das Königtum sei der stärkste Hort ihrer Interessen. Ebenso vertreten heute in England und auch anderswo Konservative und Liberale das gleiche kapitalistische Interesse. Doch die einen glauben, es werde am besten gewahrt im Bunde mit dem Grundbesitz durch gewaltsame Niederhaltung der Arbeiterklasse. Die anderen fürchten von dieser Politik schlimme Konsequenzen und suchen die Arbeiterklasse durch kleine Konzessionen, vor allem auf Kosten des Grundbesitzes, ruhig zu erhalten.

Ähnlich wie mit den ökonomisch und sozial herrschenden Klassen und ihren Parteien geht es mit den aufstrebenden Klassen und ihren Parteien.

Partei und Klasse brauchen also nicht zusammenfallen. Eine Klasse kann sich in verschiedene Parteien spalten, eine Partei aus Angehörigen verschiedener Klassen bestehen. Eine Klasse kann herrschend bleiben und doch ein Wechsel der regierenden Partei eintreten, wenn die Mehrheit der herrschenden Klasse meint, die Methode der bisher regierenden Partei sei unzulänglich und die ihrer Konkurrentin zweckmäßiger.

Viel rascher als die Herrschaft der Klassen wechselt daher in einer Demokratie die Regierung der Parteien.

Keine ist unter diesen Umständen sicher, am Ruder zu bleiben, jede muss mit der Möglichkeit rechnen, zur Minorität zu werden, aber keine ist von vornherein durch die Natur des Staates – wenn er eine wirkliche Demokratie ist – verurteilt, es dauernd zu bleiben.

Aus diesen Verhältnissen erwächst in einer Demokratie ein Schutz der Minoritäten, der um so wirksamer wird und dem Wunsch jeder Partei, sich mit allen Mitteln an der Macht zu erhalten, um so erfolgreicher widersteht, je tiefer gewurzelt die Demokratie ist, je länger sie dauert und die politischen Sitten beeinflusst.

Welche Bedeutung der Schutz der Minoritäten für die Anfänge der sozialistischen Parteien hat, die überall als sehr kleine Minoritäten beginnen, und wie sehr er den Reifungsprozess des Proletariats beeinflusst, ist klar. In seinen eigenen Reihen wird der Schutz der Minoritäten sehr wichtig. Jede neue Lehre, sei sie theoretischer, sei sie taktischer Natur, wird bei ihrem Aufkommen nur von Minderheiten vertreten. Unterdrückt man diese gewaltsam, statt mit ihnen zu diskutieren, so erspart sich die Mehrheit viel Mühe und Unbequemlichkeit. Sie kann auch unter Umständen manche überflüssige Arbeit dadurch sparen, denn nicht jede Lehre bedeutet deswegen, weil sie neu ist und nur von der Minderheit vertreten wird, auch schon einen Fortschritt. Das meiste von dem, was als neuer Gedanke auftritt, ist schon lange vorher geäußert und durch Diskussion oder Praxis als unhaltbar erkannt worden. Nur die Unwissenheit bringt den alten Kram immer wieder von neuem vor. Wieder andere Gedanken sind originell, aber dabei völlig verkehrt. Doch so wenige auch von neuen Gedanken und Ideen einen wirklichen Fortschritt darstellen mögen, so ist doch jede Weiterentwicklung nur durch neue Ideen möglich, die zunächst bloß als Ideen von Minderheiten auftreten. Jede Unterdrückung aller Ideen der Minderheiten in der Partei bedeutet daher eine Schädigung des proletarischen Klassenkampfes und eine Hemmung des Reifungsprozesses der Arbeiterklasse. Die Welt stellt uns immer wieder vor neue noch unbekannte Probleme, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu lösen sind.

So mühsam es auch sein mag, aus dem Wust vorgeschlagener Neuerungen das wirklich Wertvolle herauszulesen, es ist eine unerlässliche Arbeit, soll unsere Bewegung nicht versteinern und immer mehr zur Höhe ihrer Aufgaben emporwachsen. Und was für die Partei gilt, gilt nicht minder für den Staat. Schutz der Minoritäten ist eine unerlässliche Bedingung der demokratischen Entwicklung, nicht minder wichtig, wie die Herrschaft der Majorität.

Noch ein Kennzeichen der Demokratie kommt hier in Betracht: die Form, die sie den politischen Kämpfen gibt. Ich habe darüber schon 1893 gehandelt in der Neuen Zeit in einem Artikel über „einen sozialdemokratischen Katechismus“, ich habe meine Ausführungen dann wiederholt 1909 in meinem Weg zur Macht. Einiges daraus sei hier wiederholt:

„Die Koalitionsfreiheit, die Pressfreiheit und das allgemeine Wahlrecht (unter Umständen auch die allgemeine Wehrpflicht) stellen nicht bloß Waffen dar, die das Proletariat der modernen Staaten vor den Klassen voraus hat, welche die revolutionären Kämpfe der Bourgeoisie ausfochten; diese Einrichtungen verbreiten auch über die Machtverhältnisse der einzelnen Parteien und Klassen und über den Geist, der sie beseelt, ein Licht, welches zur Zeit des Absolutismus fehlte. Damals tappten die herrschenden Klassen ebenso wie die revolutionären im Dunkeln herum. Da jede Äußerung einer Opposition unmöglich gemacht war, konnten weder die Regierungen noch die Revolutionäre ihre Kräfte kennen. Jede der beiden Parteien war ebenso der Gefahr ausgesetzt, sich zu überschätzen, solange sie sich nicht im Kampfe mit dem Gegner gemessen hatte, wie sich zu unterschätzen, sobald sie eine einzige Niederlage erlitten hatte, und dann die Flinte ins Korn zu werfen. Dies ist wohl einer der wichtigsten Gründe, warum in die Zeit der revolutionären Bourgeoisie so viel Putsche fallen, die mit einem Schlag niedergeworfen, so viele Regierungen, die mit einem Schlag gestürzt wurden, daher die Aufeinanderfolge von Revolution und Konter-Revolution.

Ganz anders heute, wenigstens in Ländern mit einigermaßen demokratischen Institutionen. Man hat diese Institutionen das Sicherheitsventil der Gesellschaft genannt. Wenn man damit sagen will, dass das Proletariat in einer Demokratie aufhört, revolutionär zu sein, dass es sich damit zufrieden gibt, seiner Entrüstung und seinen Leiden öffentlich Ausdruck zu geben, und dass es auf die politische und soziale Revolution verzichtet, dann ist diese Benennung falsch. Die Demokratie kann die Klassengegensätze der kapitalistischen Gesellschaft nicht beseitigen, und deren notwendiges Endergebnis, den Umsturz dieser Gesellschaft, nicht aufhalten. Aber eins kann sie: sie kann nicht die Revolution, aber sie kann manchen verfrühten, aussichtslosen Revolutionsversuch verhüten und manche revolutionäre Erhebung überflüssig machen. Sie verschafft Klarheit über die Kräfteverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen; sie beseitigt nicht deren Gegensätze und verschiebt nicht deren Endziele, aber sie wirkt dahin, die aufstrebenden Klassen zu hindern, dass sie sich jeweilen an die Lösung von Aufgaben machen, denen sie noch nicht gewachsen sind, und sie wirkt auch dahin, die herrschenden Klassen davon abzuhalten, Konzessionen zu verweigern, zu deren Verweigerung sie nicht mehr die Kraft haben. Die Richtung der Entwicklung wird dadurch nicht geändert, aber ihr Gang wird steter, ruhiger. Das Vordringen des Proletariats in den Staaten mit einigermaßen demokratischen Institutionen wird nicht durch so auffallende Siege bezeichnet, wie das der Bourgeoisie in ihrer revolutionären Zeit, aber auch nicht durch so große Niederlagen. Seit dem Erwachen der modernen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in den Sechzigerjahren hat das europäische Proletariat nur eine große Niederlage erlebt, in der Pariser Kommune 1871. Damals litt Frankreich noch an den Folgen des Kaiserreiches, das dem Volke wahrhaft demokratische Institutionen vorenthalten hatte, das französische Proletariat war erst zum geringsten Teil zum Selbstbewusstsein gelangt, und der Aufstand war ihm aufgezwungen worden.

Die demokratisch-proletarische Methode des Kampfes mag langweiliger erscheinen als die der Revolutionszeit der Bourgeoisie; sie ist sicher weniger dramatisch und effektvoll, aber sie erfordert auch weit weniger Opfer. Das mag einem schöngeistigen Literatentum sehr gleichgültig sein, das in Sozialismus macht, um einen interessanten Sport und interessante Stoffe zu finden, nicht aber jenen, die den Kampf wirklich zu führen haben.

Diese so genannte friedliche Methode des Klassenkampfes, die sich auf die unmilitärischen Mittel, Parlamentarismus, Streiks, Demonstrationen, Presse und ähnliche Pressionsmittel beschränkt, hat in jedem Lande umso mehr Aussicht, beibehalten zu werden, je wirksamer dort die demokratischen Institutionen sind, je größer die politische und ökonomische Einsicht und die Selbstbeherrschung der Bevölkerung.“

Aus diesen Gründen erwartete ich, dass die soziale Revolution des Proletariats ganz andere Formen annehmen werde, als die der Bourgeoisie, dass die proletarische Revolution im Gegensatz zur bürgerlichen mit den „friedlichen“ Mitteln ökonomischer, gesetzgebender und moralischer Art und nicht mit den Mitteln physischer Gewalt überall dort ausgefochten würde, wo die Demokratie sich eingewurzelt hat. (Weg zur Macht, S. 53)

Und das ist heute noch meine Meinung.

Natürlich hat jede Einrichtung nicht bloß Lichtseiten, auch an der Demokratie kann man Schattenseiten entdecken.

Wo das Proletariat rechtlos ist, vermag es wohl keine Massenorganisationen zu entwickeln, in normalen Zeiten nicht Massenkämpfe zu führen; da vermag nur eine Elite todesmutiger Kämpfer in dauernde Opposition gegen das herrschende Regime zu treten. Aber diese Elite wird tagtäglich auf die Notwendigkeit hingewiesen, ja förmlich auf sie drauf gestoßen, dem gesamten System ein gründliches Ende zu bereiten. Unbeirrt durch kleine Ansprüche des politischen Alltags wird der Geist ausschließlich auf die größten Probleme hingelenkt und gelehrt, stets die gesamten sozialen und politischen Zusammenhänge in Betracht zu ziehen.

Nur eine kleine Schicht des Proletariats tritt da in den Kampf, aber sie ist erfüllt von höchstem theoretischen Interesse und von jener Begeisterung, die nur hohe Ziele erwecken.

Ganz anders wirkt die Demokratie auf den Proletarier, dem ja in der heutigen Produktionsweise nur wenige Stunden am Tage zu freier Verwendung zu Gebote stehen. Die Demokratie entwickelt Massenorganisationen mit massenhafter Verwaltungsarbeit; sie ruft die Staatsbürger auf zur Diskutierung und Erledigung zahlreicher Fragen des Alltags, oft der kleinlichsten Art. Immer mehr wird die ganze freie Zeit des Proletariers von der „Kleinarbeit“ in Anspruch genommen, beschäftigen ihn immer mehr kleine Augenblickserfolge. Im engen Kreise aber verengert sich der Sinn. Verständnislosigkeit für die Theorie, ja schließlich deren Missachtung, Opportunismus an Stelle großer Grundsätze nehmen da immer mehr überhand. Konnten daher Marx und Engels den theoretischen Sinn der deutschen Arbeiter gegenüber denen Westeuropas und Amerikas preisen, so würden sie heute die gleiche Überlegenheit an theoretischem Interesse bei den russischen Arbeitern gegenüber den deutschen finden.

Und dennoch kämpfen überall die klassenbewussten Proletarier und ihre Vertreter für die Erringung der Demokratie, haben viele von ihnen ihr Herzblut dafür geopfert.

Sie wissen eben, ohne die Demokratie geht es nicht. Die erhebenden Wirkungen des Kampfes gegen den Despotismus bleiben auf eine Elite beschränkt, ergreifen nicht die ganze Masse. Auf der anderen Seite aber darf man die verphilisternden Wirkungen der Demokratie auf den Proletarier nicht übertreiben. Einmal sind sie eine Folge des Mangels an freier Zeit, unter dem das Proletariat leidet, nicht der Demokratie an sich. Es wäre ja sonderbar, wenn der Besitz der Freiheit den Menschen notwendig kleinlicher und beschränkter machen müsste als die Unfreiheit. Je mehr die Demokratie dahin wirkt, dass die Arbeitszeit verkürzt wird, desto größer ist der Betrag an freier Zeit, über die der Arbeiter verfügt, desto mehr vermag er von ihr neben der unerlässlichen Kleinarbeit der Beschäftigung größeren umfassenderen Problemen zu widmen. Und die Anregung dazu bleibt nicht aus. Denn was immer die Demokratie leisten kann, die Gegensätze, die aus der kapitalistischen Produktionsweise entspringen, vermag sie allein nicht zu bewältigen, solange sie diese Produktionsweise nicht überwindet. Im Gegenteil, die Gegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft wachsen, erzeugen immer wieder große Konflikte, stellen die Proletarier immer wieder vor große Probleme, die ihren Geist über den Alltag erheben. In der Demokratie bleibt diese Erhebung aber dann nicht mehr die bloße Erhebung einer Elite, sondern sie wird zu einer Erhebung der Volksmasse selbst, die sich gleichzeitig in alltäglicher Praxis zur Selbstverwaltung geschult hat.
 

Die Diktatur

Die Demokratie bildet die unerlässliche Grundlage für den Aufbau einer sozialistischen Produktionsweise. Und nur unter den Wirkungen der Demokratie erlangt das Proletariat jene Reife, derer es bedarf, um den Sozialismus durchführen zu können. Die Demokratie endlich bietet den sichersten Gradmesser für seine Reife. Zwischen beiden Stadien, der Vorbereitung für den Sozialismus und dem durchgeführten Sozialismus, die beide der Demokratie bedürfen, steht jedoch ein drittes Stadium, steht das des Überganges, nachdem das Proletariat die politische Macht erobert, den Sozialismus aber ökonomisch noch nicht durchgeführt hat. In diesem Zwischenstadium soll die Demokratie nicht nur nicht notwendig, sondern schädlich sein.

Diese Auffassung ist nicht neu. Wir haben sie schon als die Weitlings kennen gelernt. Aber sie stützt sich auf ein Wort von Karl Marx. In seinem Brief zur Kritik des Gothaer Parteiprogramms, den er im Mai 1875 schrieb (abgedruckt in der Neuen Zeit, IX. I., S. 502 ff.), heißt es (S. 573):

„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“

Marx hat es leider unterlassen, näher anzuführen, wie er sich diese Diktatur vorstellt. Buchstäblich genommen bedeutet das Wort die Aufhebung der Demokratie. Aber freilich buchstäblich genommen bedeutet es auch die Alleinherrschaft eines Einzelnen, der an keinerlei Gesetze gebunden ist. Eine Alleinherrschaft, die sich von einem Despotismus dadurch unterscheidet, dass sie nicht als ständige Staatseinrichtung, sondern als eine vorübergehende Notstandsmaßregel gedacht ist.

Der Ausdruck „Diktatur des Proletariats“, also Diktatur nicht eines Einzelnen, sondern einer Klasse, schließt bereits aus, dass Marx hierbei an eine Diktatur im buchstäblichen Sinne des Ausdrucks gedacht hat.

Er sprach hier nicht von einer Regierungsform, sondern einem Zustande, der notwendigerweise überall eintreten müsse, wo das Proletariat die politische Macht erobert hat. Dass er hier keine Regierungsform im Auge hatte, wird schon dadurch bezeugt, dass er der Ansicht war, in England und Amerika könne sich der Übergang friedlich, also auf demokratischem Wege vollziehen.

Wohl sichert die Demokratie noch nicht den friedlichen Übergang. Sicher aber ist dieser ohne Demokratie nicht möglich.

Doch um zu erfahren, was Marx über die Diktatur des Proletariats dachte, dazu brauchen wir gar kein Rätselraten. Wenn Marx 1875 nicht mehr ausführte, was er unter der Diktatur des Proletariats verstehe, so geschah es wohl deshalb, weil er sich wenige Jahre vorher in seiner Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich (1871) darüber geäußert hatte. Dort erklärte er:

„Die Kommune war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“

Also die Pariser Kommune war, wie das Engels in seiner Einleitung zur dritten Auflage der Marxschen Schrift ausdrücklich feststellt, „die Diktatur des Proletariats“.

Sie war aber gleichzeitig nicht die Aufhebung der Demokratie, sondern beruhte auf ihrer weitestgehenden Anwendung auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts. Die Regierungsgewalt sollte dem allgemeinen Stimmrecht unterworfen werden.

„Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten ... Das allgemeine Stimmrecht sollte dem in Kommunen konstituierten Volke dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter usw. auszusuchen usw.“ (S. 46, 47)

Immer wieder spricht hier Marx vom allgemeinen Stimmrecht des gesamten Volkes, nicht vom Wahlrecht einer besonderen privilegierten Klasse. Die Diktatur des Proletariats war ihm ein Zustand, der bei überwiegendem Proletariat aus der reinen Demokratie notwendig hervorgeht.

Im gleichen Sinne erklärte Friedrich Engels in seinem schon zitierten Artikel von 1891 über den sozialdemokratischen Programmentwurf:

„Die demokratische Republik ist die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats.“ (S. 11)

Auf Marx und Engels dürfen sich also diejenigen nicht berufen, die für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie eintreten. Natürlich ist damit noch nicht bewiesen, dass sie Unrecht haben. Nur müssen sie sich nach anderen Beweisgründen umsehen.

Bei Untersuchung der Frage muss man sich hüten, die Diktatur als Zustand mit der Diktatur als Regierungsform zu verwechseln. Nur das Anstreben der letzteren ist eine strittige Frage in unseren Reihen. Die Diktatur als Regierungsform ist gleichbedeutend mit der Entrechtung der Opposition. Ihr wird das Wahlrecht genommen, die Press- und Vereinsfreiheit. Die Frage ist die, ob das siegreiche Proletariat dieser Maßregeln bedarf, ob mit ihrer Hilfe am besten oder gar nur durch sie der Sozialismus erreichbar ist.

Da ist zunächst zu bemerken, dass wir, wenn wir von der Diktatur als Regierungsform sprechen, nicht von der Diktatur einer Klasse sprechen können. Denn eine Klasse kann, wie wir schon bemerkten, nur herrschen, nicht regieren. Will man unter der Diktatur also nicht einen bloßen Zustand der Herrschaft verstehen, sondern eine bestimmte Regierungsform, dann darf man nur von der Diktatur entweder eines einzelnen oder einer Organisation sprechen, also nicht vom Proletariat, sondern von einer proletarischen Partei. Da kompliziert sich aber sofort das Problem, sobald das Proletariat selbst in verschiedene Parteien zerfällt. Die Diktatur einer dieser Parteien ist dann keineswegs mehr die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur eines Teils des Proletariats über einen anderen Teil. Die Situation kompliziert sich noch mehr, wenn die sozialistischen Parteien gespalten sind, wegen ihrer Haltung gegenüber nichtproletarischen Schichten, wenn etwa die eine Partei ans Ruder kommt durch ein Bündnis zwischen städtischen Proletariern und Bauern. Dann wird die Diktatur des Proletariats nicht bloß zu einer Diktatur von Proletariern über Proletarier, sondern auch von Proletariern und Bauern über Proletarier. Die Diktatur des Proletariats nimmt da recht sonderbare Formen an.

Aus welchen Gründen soll nun die Herrschaft des Proletariats eine Form annehmen und annehmen müssen, die unvereinbar ist mit der Demokratie? Wer sich auf das Marxsche Wort von der Diktatur des Proletariats beruft, darf nicht vergessen, dass dabei nicht von einem Zustand die Rede ist, der unter besonderen Umständen eintreten kann, sondern von einem, der unter allen Umständen eintreten muss.

Nun darf man wohl annehmen, dass das Proletariat in der Regel nur dort zur Herrschaft kommen wird, wo es die Mehrheit der Bevölkerung darstellt oder doch wenigstens hinter sich hat. Die Waffe des Proletariats in seinen politischen Kämpfen ist neben seiner ökonomischen Unentbehrlichkeit seine Massenhaftigkeit. Nur dort, wo es die Massen, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, darf es erwarten, über die Machtmittel der herrschenden Klassen zu obsiegen. Das nahmen auch Marx und Engels an. Darum erklärten sie im Kommunistischen Manifest:

„Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten, aber im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Das traf auch zu für die Pariser Kommune. Die erste Sache des neuen revolutionären Regimes war die Befragung des allgemeinen Stimmrechts. Die Wahl, in größter Freiheit vorgenommen, ergab fast in allen Bezirken von Paris starke Majoritäten für die Kommune. Es wurden 65 Revolutionäre gewählt gegen 21 Oppositionelle, davon 15 direkte Reaktionäre und 6 radikale Republikaner gambettistischer Art. Unter den 65 Revolutionären waren alle damaligen Richtungen des französischen Sozialismus vertreten. So sehr sie sich bekämpften, sie übten keine Diktatur gegeneinander aus.

Ein Regime, das so sehr in den Massen wurzelt, hat nicht die mindeste Veranlassung, die Demokratie anzutasten. Es wird sich nicht immer von Gewalttätigkeiten freihalten können, in Fällen, wo Gewalttat geübt wird, um die Demokratie zu unterdrücken. Der Gewalt kann man nur mit Gewalt begegnen.

Aber ein Regime, das die Massen hinter sich weiß, wird die Gewalt nur anwenden, um die Demokratie zu schützen, und nicht, um sie aufzuheben. Es würde geradezu Selbstmord üben, wollte es seine sicherste Grundlage beseitigen, das allgemeine Stimmrecht, eine starke Quelle gewaltiger moralischer Autorität.

Die Diktatur als Aufhebung der Demokratie konnte also nur in Ausnahmefällen in Frage kommen, wenn ein außerordentliches Zusammentreffen günstiger Umstände es einer proletarischen Partei gestattet, die politische Macht an sich zu reißen, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung nicht für sich oder gar entschieden gegen sich hat.

In einem Volke, das seit Jahrzehnten politisch geschult ist und in dem Parteien feste Gestalt angenommen haben, ist ein derartiger Zufallssieg schwer möglich. Er allein deutet schon auf recht rückständige Verhältnisse hin. Wenn sich in einem solchen Falle das allgemeine Stimmrecht gegen die sozialistische Regierung ausspricht: soll diese nun das tun, was wir bisher von jeder Regierung verlangt haben, sich dem Ausspruch des Volkes beugen, mit dem festen Willen, auf der Grundlage der Demokratie den Kampf um die Staatsmacht weiterzuführen, oder soll sie, um sich zu behaupten, die Demokratie umstoßen?

Wodurch kann eine Diktatur sich gegen den Willen der Volksmehrheit am Ruder erhalten?

Zwei Wege kommen für sie in Betracht: der des Jesuitismus oder der des Bonapartismus.

Wir haben schon auf den Jesuitenstaat in Paraguay hingewiesen. Das Mittel, wodurch die Jesuiten dort ihre Diktatur behaupteten, war ihre kolossale geistige Überlegenheit über die von ihnen organisierten Ureinwohner, die ohne sie völlig hilflos waren.

Kann in einem europäischen Staat eine sozialistische Partei eine derartige Überlegenheit erlangen? Das ist völlig ausgeschlossen. Wohl wächst das Proletariat geistig in seinem Klassenkampf über die anderen arbeitenden Klassen, Kleinbürger und Kleinbauern empor, aber nicht ohne dass auch diese gleichzeitig an politischem Interesse und Verständnis zunehmen. Der Abstand zwischen diesen verschiedenen Klassen wird nie ein überwältigender.

Neben den Klassen der Handarbeit wächst aber auch eine Schicht von Intellektuellen, die immer zahlreicher wird, immer unentbehrlicher für den Produktionsprozess, deren Beruf in der Erwerbung von Wissen, in der Übung und Entwicklung von Intelligenz besteht.

Diese Schicht nimmt eine Mittelstellung zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse ein, sie ist nicht direkt am Kapitalismus interessiert, steht jedoch dem Proletariat misstrauisch gegenüber, so lange sie es nicht für reif hält, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Selbst solche Mitglieder der gebildeten Klassen, die für die Befreiung des Proletariats aufs wärmste eintreten, wie zum Beispiel die utopischen Sozialisten, verhalten sich in den Anfängen des Klassenkampfes ablehnend zur Arbeiterbewegung. Das ändert sich erst, wenn das Proletariat in seinem Kampfe wachsende Reife bekundet. Das Zutrauen, das die für den Sozialismus eintretenden Intellektuellen zum Proletariat gewinnen, ist nicht zu verwechseln mit dem Zutrauen, das seit dem 4. August 1914 die Liberalen und Zentrumsleute, ja die Regierungen selbst in Deutschland zu den Regierungssozialisten gewonnen haben. Das Vertrauen ersterer Art entspringt der Überzeugung, dass das Proletariat die Kraft und Fähigkeit erlangt habe, sich selbst zu befreien. Das Vertrauen der zweiten Art kam auf mit der Erwartung, die betreffenden Sozialisten nähmen den Befreiungskampf des Proletariats nicht mehr ernst.

Ganz ohne oder gar gegen die Intellektuellen ist eine sozialistische Produktion nicht einzurichten. Unter Verhältnissen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung einer proletarischen Partei misstrauisch oder ablehnend gegenübersteht, wird das gleiche erst recht von der Masse der Intellektuellen gelten. Da wird die siegreiche proletarische Partei dem Rest der Bevölkerung nicht nur nicht intellektuell weit überlegen sein, sie wird darin sogar hinter ihren Gegnern zurückstehen, auch wenn in sozialen Dingen im Allgemeinen ihr theoretischer Standpunkt ein höherer sein sollte.

Der Weg von Paraguay ist also in Europa nicht gangbar. So bleibt nur der andere Weg übrig, den Napoleon I. am 18. Brumaire 1799 und sein Neffe, der dritte Napoleon am 2. Dezember 1852 einschlugen: der des Regierens mit Hilfe der Überlegenheit einer zentralisierten Organisation über die unorganisierte Volksmasse und der Überlegenheit militärischer Gewalt, die daher rührt, dass der bewaffneten Macht der Regierung entweder nur eine waffenlose oder eine des Kampfes der Waffen müde Volksmasse gegenübersteht.

Kann auf dieser Grundlage eine sozialistische Produktionsweise aufgebaut werden? Diese Produktionsweise bedeutet die Organisierung der Produktion durch die Gesellschaft. Sie erheischt die ökonomische Selbstverwaltung durch die ganze Volksmasse. Staatliche Organisierung der Produktion durch eine Bürokratie oder durch die Diktatur einer einzelnen Volksschicht bedeutet nicht Sozialismus. Er bedarf organisatorischer Schulung breiter Volksmassen, setzt zahlreiche freie Organisationen ökonomischer wie politischer Art voraus und bedarf vollster Organisationsfreiheit. Die sozialistische Organisation der Arbeit soll keine Kasernenorganisation sein.

Die Diktatur einer Minderheit, die dem Volke vollste Organisationsfreiheit gewähren wollte, würde damit ihre eigene Macht untergraben. Suchte sie sich dagegen zu behaupten durch Unterbindung dieser Freiheit, dann hemmte sie die Entwicklung zum Sozialismus, statt sie zu fördern.

Ihre kraftvollste Stütze findet die Diktatur einer Minderheit stets in einer ergebenen Armee. Aber je mehr sie die Gewalt der Waffen an Stelle der Majorität setzt, desto mehr drängt sie auch jede Opposition dahin, ihr Heil im Appell an die Bajonette und Fäuste zu suchen, statt im Appell an die Wahlstimmen, der ihr versagt ist; dann wird der Bürgerkrieg die Form der Austragung politischer und sozialer Gegensätze. Wo nicht vollständige politische und soziale Apathie oder Mutlosigkeit herrscht, wird die Diktatur einer Minderheit stets von gewaltsamen Putschen oder einem ständigen Guerillakrieg bedroht, die leicht zu langwierigen bewaffneten Erhebungen größerer Massen anwachsen, deren Bekämpfung alle militärischen Kräfte der Diktatur in Anspruch nimmt. Diese kommt dann aus dem Bürgerkrieg nicht mehr heraus, ist in steter Gefahr, durch ihn gestürzt zu werden.

Für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gibt es gar kein größeres Hindernis wie den inneren Krieg. In dem heutigen Stadium weitgehender geographischer Arbeitsteilung ist der industrielle Großbetrieb überall auf das stärkste abhängig von der Sicherheit des Verkehrs sowie von der Sicherheit der Verträge. Schon ein äußerer Krieg würde den sozialistischen Aufbau aufs äußerste stören, selbst dann, wenn der Feind nicht ins Land eindränge. Mit Recht haben die russischen Sozialisten aller Richtungen in der jetzigen russischen Revolution die Notwendigkeit des Friedens für den gesellschaftlichen Wiederaufbau betont. Noch weit verderblicher für die gesellschaftliche Wirtschaft als ein äußerer Krieg wird ein Bürgerkrieg, der sich notwendigerweise im Innern des Landes abspielt und der es ebenso verwüstet und lahm legt wie eine feindliche Invasion, der dabei jedoch viel grausamer ist.

Im Kampf der Staaten gegeneinander handelt es sich in der Regel nur um einen Gewinn oder eine Einbuße von Macht der einen oder der anderen Regierung, nicht gleich um deren ganze Existenz. Nach dem Krieg aber wollen und sollen die verschiedenen Kriegführenden Regierungen und Völker in Frieden, wenn auch nicht immer in Freundschaft leben.

Ganz anders stehen die Parteien im Bürgerkrieg zueinander. Die führen nicht den Krieg, um der Gegenseite einige Konzessionen zu entreißen, und dann mit ihr in Frieden zu leben. Und im Bürgerkrieg geht es auch nicht so zu wie in der Demokratie, in der die Minderheiten geschützt sind, so dass jede Partei, die in die Minderheit gerät und auf die Regierung verzichten muss, damit keineswegs auf ihre politische Tätigkeit verzichtet oder diese auch nur einzuschränken braucht; und in der jeder Partei, die in die Minderheit gerät, stets das Recht bleibt, nach der Mehrheit zu trachten und sich dadurch der Regierung zu bemächtigen.

Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht dem Unterliegenden völlige Vernichtung. Dieses Bewusstsein macht Bürgerkriege leicht so grausam. Namentlich eine Minderheit, die sich nur durch militärische Macht am Ruder erhält, neigt dazu, ihre Gegner in blutigster Weise niederzuhalten und sie in wilder Schlächterei zu dezimieren, wenn sie in einem Aufstande bedroht wurde und es ihr gelang, ihn niederzuschlagen. Die Pariser Junitage von 1848 und die blutige Maiwoche von 1871 haben das mit furchtbarer Deutlichkeit gezeigt.

Ein System chronischen Bürgerkrieges ebenso wie seine Alternative unter der Diktatur, die völlige Apathie und Mutlosigkeit der Massen macht den Aufbau eines sozialistischen Produktionssystems so gut wie unmöglich. Und da sollte die Diktatur einer Minderheit, die den Bürgerkrieg oder die Apathie naturnotwendig erzeugt, das souveräne Mittel sein, den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu bewirken!

Mancher verwechselt den Bürgerkrieg mit der sozialen Revolution, hält ihn für deren Form und ist geneigt, die im Bürgerkrieg unvermeidlichen Gewalttätigkeiten damit zu entschuldigen, dass ohne solche eine Revolution nicht möglich sei. Es sei. immer so gewesen in jeder Revolution und werde immer so sein.

Indes gerade wir Sozialdemokraten sind nicht der Meinung, dass das, was immer so gewesen ist, nun auch immer so sein müsse. Unsere Bilder von der Revolution haben wir uns geformt nach den Beispielen der bisherigen bürgerlichen Revolutionen. Die proletarische Revolution wird sich unter ganz anderen Bedingungen vollziehen als jene.

Die bürgerlichen Revolutionen brachen aus in Staaten, in denen ein Despotismus, gestützt auf ein vom Volke getrenntes Heer, alle freien Regungen unterdrückte, wo es keine Freiheit der Presse, der Versammlungen, der Vereine, kein allgemeines Wahlrecht gab, wahrhafte Volksvertretungen nicht bestanden. Da nahm der Kampf gegen die Regierung notwendig die Form des Bürgerkrieges an. Das heutige Proletariat kommt, wenigstens in Westeuropa, zur politischen Macht in Staaten, in denen seit Jahrzehnten die Demokratie, wenn auch nicht die „reine“, so doch ein gewisses Ausmaß von Demokratie tiefe Wurzeln gefasst hat, auch das Militär nicht mehr so ganz wie ehedem vom Volke losgelöst ist. Auf keinen Fall brauchen wir da anzunehmen, dass sich in Westeuropa die Vorgänge der großen französischen Revolution wiederholen werden. Wenn das heutige Russland soviel Ähnlichkeit mit dem Frankreich von 1793 aufweist, so beweist das nur, wie nahe es dem Stadium der bürgerlichen Revolution steht.

Man muss unterscheiden zwischen der sozialen Revolution, der politischen Revolution und dem Bürgerkrieg.

Die soziale Revolution ist eine tiefgehende Umwandlung des ganzen gesellschaftlichen Gebäudes, herbeigeführt durch die Begründung einer neuen Produktionsweise. Das ist ein langwieriger Prozess, der jahrzehntelang andauern kann und für dessen Abschluss feste Grenzen nicht zu ziehen sind. Er wird umso mehr gelingen, je friedlicher die Formen, in denen er sich vollzieht. Innerer wie äußerer Krieg sind seine Todfeinde. Eingeleitet wird eine soziale Revolution in der Regel durch eine politische Revolution, durch eine plötzliche Verschiebung der Machtverhältnisse der Klassen im Staate, wodurch eine bisher von der politischen Macht ausgeschlossene Klasse sich des Regierungsapparates bemächtigt. Die politische Revolution ist ein plötzlicher Akt, der sich sehr rasch vollziehen und zu seinem Abschluss gelangen kann. Seine Formen hängen von der Form des Staates ab, in dem er sich vollzieht. Je mehr die Demokratie herrscht, nicht bloß formal, sondern tatsächlich in der Kraft der arbeitenden Massen verankert, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die politische Revolution eine friedliche sein wird. Je mehr sich dagegen das bisher herrschende System nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung stützt, sondern eine Minderheit darstellt, die sich nur durch militärische Machtmittel am Ruder hält, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass die politische Revolution die Form eines Bürgerkrieges annimmt.

Doch auch in letzterem Falle haben die Verfechter der sozialen Revolution ein dringendes Interesse daran, dass der Bürgerkrieg nur eine vorübergehende, rasch sich abspielende Episode bleibt, dass er nur dazu dient, die Demokratie herbeizuführen und zu befestigen, und dass ihrem Wirken die soziale Revolution übergeben wird, das heißt, dass diese augenblicklich nicht weiter geht, als die Mehrheit der Volksmasse zu gehen geneigt ist, weil darüber hinaus die soziale Revolution, so wünschenswert die sofortige Realisierung ihrer Endziele für weiter sehende Geister wäre, nicht die nötigen Bedingungen fände, Dauerndes zu schaffen.

Aber hat nicht die Schreckensherrschaft der Proletarier und Kleinbürger von Paris, also die Diktatur einer Minderheit, in der großen französischen Revolution ungeheure Wirkungen von höchster historischer Bedeutung hervorgerufen?

Sicher. Doch welcher Art waren sie? Jene Diktatur war ein Kind des Krieges, den die verbündeten Monarchen Europas gegen das revolutionäre Frankreich führten. Diesen Ansturm siegreich abgeschlagen zu haben, das war die historische Leistung der Schreckensherrschaft. Sie bewies damit wieder einmal deutlich die alte Wahrheit, dass die Diktatur besser imstande ist, Krieg zu führen als die Demokratie. Sie bewies aber keineswegs, dass die Diktatur die Methode des Proletariats ist, soziale Umgestaltungen in seinem Sinne durchzuführen und die politische Macht zu behaupten.

An Energie lässt sich die Schreckensherrschaft von 1793 nicht überbieten. Trotzdem gelang es den Pariser Proletariern nicht, sich dadurch an der Macht zu halten. Die Diktatur wurde eine Methode, durch die sich die verschiedenen Fraktionen der proletarischen und kleinbürgerlichen Politik untereinander bekämpften, und schließlich wurde sie die Methode, jeder proletarischen und kleinbürgerlichen Politik ein Ende zu machen.

Die Diktatur der unteren Schichten ebnet den Weg für die Diktatur des Säbels.

Wollte man nach dem Beispiel der bürgerlichen Revolutionen sagen, die Revolution sei gleichbedeutend mit Bürgerkrieg und Diktatur, dann müsste man auch die Konsequenz ziehen und sagen: die Revolution ende notwendigerweise in der Herrschaft eines Cromwell oder Napoleon.

Das ist aber keineswegs der notwendige Ausgang einer proletarischen Revolution, dort, wo das Proletariat die Mehrheit der Nation bildet und diese demokratisch organisiert ist. Und nur dort sind die Bedingungen sozialistischer Produktion gegeben.

Wir können unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes verstehen, als seine Herrschaft auf der Grundlage der Demokratie.
 

Der Anschauungsunterricht

Den hier erörterten Schädlichkeiten der diktatorischen Methode soll nun auch ein Vorzug gegenüberstehen: Sie liefere einen glänzenden Anschauungsunterricht.

Dieses Argument entspringt offenbar folgender Erwägung: In der Demokratie, in der die Mehrheit des Volkes herrscht, kann der Sozialismus erst zur Durchführung gelangen, wenn die Mehrheit für ihn gewonnen ist. Ein langer und mühseliger Weg. Weit schneller kommen wir zum Ziel, wenn eine energische, zielbewusste Minderheit sich der Staatsgewalt bemächtigt und sie zur Durchführung sozialistischer Maßnahmen benützt. Ihre Erfolge würden sofort überzeugend wirken und die Mehrheit, die bisher widerstrebte, rasch zum Sozialismus bekehren.

Das klingt sehr bestechend und klang schon so im Munde des alten Weitling. Es hat nur den einen Fehler, dass es gerade das voraussetzt, was bewiesen werden soll. Die Gegner der diktatorischen Methode bestreiten eben, dass eine sozialistische Produktion von einer Minderheit ohne Mitwirkung der großen Volksmasse durchzuführen sei. Misslingt aber der Versuch, so bietet er freilich auch einen Anschauungsunterricht, jedoch einen in entgegengesetzter Richtung, nicht einen anziehenden, sondern einen abschreckenden.

Leute, die sich durch einen solchen Unterricht bestimmen lassen und nicht durch ihr Erforschen und Prüfen der sozialen Zusammenhänge, die gedankenlosen Anbeter des bloßen Erfolges, werden bei einem Scheitern des Versuches nicht untersuchen, aus welchen Ursachen er nicht gelang. Sie werden nicht in der Ungunst oder der Unreife der Verhältnisse den Grund suchen, sondern im Sozialismus selbst, und werden schließen, er tauge überhaupt nichts.

Man sieht, der Anschauungsunterricht hat eine sehr brenzlige Seite.

Wie haben wir ihn uns vorzustellen?

Den Inhalt des Sozialismus können wir populär in die Worte zusammenfassen: Freiheit und Brot für alle. Das ist es, was die Massen von ihm erwarten, weshalb sie für ihn eintreten. Die Freiheit ist nicht minder wichtig wie das Brot. Auch wohlhabende, selbst reiche Klassen haben für ihre Freiheit gekämpft, sich nicht selten die schwersten Opfer an Gut und Blut für ihre Gesinnung auferlegt. Das Bedürfnis nach Freiheit, nach Selbstbestimmung liegt im Menschen ebenso von Natur aus, wie das nach Nahrung.

Bisher bot die Sozialdemokratie den Volksmassen den Anschauungsunterricht, dass sie der unentwegteste Verfechter der Freiheit aller Unterdrückten war, nicht bloß der Lohnarbeiter, sondern auch der Frauen, der verfolgten Religionen und Rassen, der Juden, Neger und Chinesen usw. Durch diesen Anschauungsunterricht hat sie Anhänger geworben weit über den Kreis der Lohnarbeiter hinaus.

Nun soll, sobald die Sozialdemokratie zur Macht gelangt ist, dieser Anschauungsunterricht durch den entgegengesetzten verdrängt werden. Ihre ersten Taten sollen in der Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts und der Pressfreiheit bestehen, in der Entrechtung breiter Volksmassen, denn darum, darauf muss immer wieder hingewiesen werden, handelt es sich bei der Ersetzung der Demokratie durch die Diktatur. Um den politischen Einfluss der oberen Zehntausend zu brechen, bedarf es nicht ihrer Ausschließung vom Wahlrecht. Diesen Einfluss üben sie nicht durch ihre persönliche Stimmenabgabe.

Alle die Kleinhändler, Handwerker, die mittleren und größeren Bauern, der größte Teil der Intellektuellen werden, sobald die Diktatur des Proletariats sie entrechtet, durch diese Art Anschauungsunterricht geradezu in Feinde des Sozialismus verwandelt, auch soweit sie es nicht von vornherein sind. Ebenso werden zu Feinden der proletarischen Diktatur alle jene, die dem Sozialismus aus dem Grunde anhingen, weil er für die Freiheit aller kämpfte. Gewonnen werden kann dadurch niemand, der nicht schon bisher Sozialist war. Es können nur die Feinde des Sozialismus vermehrt werden.

Aber freilich, er verheißt ja nicht bloß Freiheit, sondern auch Brot. Das soll diejenigen versöhnen, denen die kommunistische Diktatur die Freiheit nimmt.

Es sind nicht die besten Massen, die für Brot und Spiele den Verlust der Freiheit verschmerzen. Aber zweifellos würde materieller Wohlstand viele dem Kommunismus zuführen, die ihm zweifelnd gegenüberstanden oder ihm durch seine Entrechtungspolitik entfremdet worden sind. Nur muss dieser Wohlstand auch wirklich kommen, und zwar rasch, nicht als Verheißung der Zukunft, wenn er die Wirkungen des Anschauungsunterrichtes üben soll.

Wodurch soll dieser Wohlstand erzielt werden? Die Notwendigkeit der Diktatur setzt voraus, dass eine Minderheit der Bevölkerung sich der Staatsgewalt bemächtigt hat. Eine Minderheit, bestehend aus Besitzlosen. Die große Waffe der Proletarier ist aber ihre Zahl, in normalen Zeiten können sie nur dadurch wirken, können sie die Staatsgewalt nur erobern, wenn sie die Überzahl bilden. Als Minderheit werden sie ans Staatsruder nur gelangen durch ein Zusammentreffen außergewöhnlicher Umstände, durch Katastrophen, in denen eine Staatsgewalt zusammenbricht, die den Staat verkommen ließ und ihn verelendete.

Der Sozialismus, dass heißt allgemeiner Wohlstand innerhalb der modernen Kultur, wird nur möglich durch die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte, die der Kapitalismus mit sich bringt, durch die enormen Reichtümer, die er schafft und die sich in den Händen der kapitalistischen Klasse konzentrieren. Ein Staatswesen, das diese Reichtümer durch eine unsinnige Politik, etwa einen erfolglosen Krieg, vergeudet hat, bietet von vornherein keinen günstigen Ausgangspunkt für die rascheste Verbreitung von Wohlstand in allen Schichten.

Wenn als Erbe der bankrotten Staatsgewalt nicht ein demokratisches, sondern diktatorisches Regime auftritt, verschlimmert es noch die Situation, da es den Bürgerkrieg zur notwendigen Folge hat. Was da an materiellen Mitteln noch übrig bleibt, wird durch die Anarchie verwüstet.

Endlich bedeutet Wohlstand für alle ununterbrochenen Fortgang der Produktion. Die Zerstörung des Kapitalismus ist noch nicht Sozialismus. Wo kapitalistische Produktion nicht sofort in sozialistische übergeführt werden kann, muss jene weiter bestehen, sonst wird der Produktionsprozess unterbrochen und damit das Massenelend produziert, das der moderne Proletarier als allgemeine Arbeitslosigkeit so sehr fürchtet.

Nur wo das Proletariat eine Schulung in genossenschaftlicher, gewerkschaftlicher, städtischer Selbstverwaltung und in Anteilnahme an staatlicher Gesetzgebung und Regierungskontrolle durchgemacht hat und zahlreiche Intellektuelle bereit sind, der sozialistischen Produktion ihre Dienste zu leihen, vermag diese sofort ohne Störungen den Kapitalismus überall dort zu ersetzen, wo unter den neuen Verhältnissen kapitalistische Produktion unmöglich wird.

In einem Lande, das ökonomisch noch so wenig entwickelt ist, dass das Proletariat nur eine Minderheit bildet, ist diese Reife des Proletariats nicht zu erwarten.

Es ist also von vornherein anzunehmen, dass überall dort, wo das Proletariat sich an der Staatsmacht nur behaupten kann durch die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie, die Schwierigkeiten, die sich dem Sozialismus entgegenstellen, so groß sind, dass es geradezu ausgeschlossen erscheint, die Diktatur könne rasch allgemeinen Wohlstand bringen und auf diese Weise die durch sie politisch entrechteten Volksmassen mit dem Gewaltregime versöhnen.

Natürlich kann ein jedes neue Regime auf unerwartete Schwierigkeiten stoßen. Man täte Unrecht, sie von vornherein diesem Regime zur Last zu legen und sich dadurch ohne nähere Prüfung der Sachlage entmutigen zu lassen. Aber soll man trotz der Schwierigkeiten ausharren, dann muss man vorher schon eine starke Überzeugung der Richtigkeit und Notwendigkeit dieses Regimes gewonnen haben. Nur dann wird man sich an ihm nicht irremachen lassen. Die Erfolgsanbeter sind stets unsichere Kantonisten.

So kommen wir auch hier wieder auf die Demokratie zurück, die uns zwingt, danach zu streben, dass wir die Massen durch intensivste Propaganda aufklären und überzeugen, ehe wir an die Durchführung des Sozialismus herangehen. Wir müssen auch hier wieder die Methode der Diktatur ablehnen, die an Stelle der Überzeugung den Anschauungsunterricht der Gewalt setzt.

Damit soll nicht gesagt sein, dass der Anschauungsunterricht bei der Verwirklichung des Sozialismus nichts zu leisten vermöge. Im Gegenteil, er kann und wird dabei eine große Rolle spielen, aber nicht durch Vermittlung einer Diktatur.

Die verschiedenen Staaten der Welt stehen auf sehr verschiedenen Stufen ökonomischer und politischer Entwicklung. Je kapitalistischer ein Staat auf der einen Seite, je demokratischer auf der anderen Seite, desto näher steht er dem Sozialismus. Je mehr seine kapitalistische Industrie entwickelt ist, desto höher seine Produktivkräfte, desto größer sein Reichtum, desto gesellschaftlicher die Arbeit, desto zahlreicher sein Proletariat. Und je demokratischer ein Staat, desto besser organisiert und geschult ist sein Proletariat. Die Demokratie hemmt mitunter sein revolutionäres Denken, ist aber das unentbehrliche Mittel, ihm jene Reife zu erleichtern, deren es bedarf zur Gewinnung der politischen Macht und zur Durchführung der sozialen Revolution. In keinem Lande bleiben Konflikte aus zwischen dem Proletariat und den herrschenden Klassen, aber je vorgeschrittener kapitalistisch und demokratisch ein Land, desto größer die Aussicht für das Proletariat, in einem solchen Konflikt nicht bloß vorübergehend zu siegen, sondern den Sieg auch zu behaupten.

Wo ein Proletariat unter solchen Bedingungen an das Staatsruder gelangt, wird es ausreichend materielle und ideelle Machtmittel vorfinden, um sofort der ökonomischen Entwicklung die Richtung zum Sozialismus zu geben und sofort den allgemeinen Wohlstand zu vermehren.

Das gibt dann einen wahrhaften Anschauungsunterricht für die ökonomisch und politisch rückständigen Länder. Die Masse ihrer Proletarier wird nun einmütig Maßnahmen in gleichem Sinne verlangen, aber auch alle anderen Schichten der ärmeren Klassen, sowie zahlreiche Intellektuelle werden verlangen, dass der Staat den gleichen Weg zum Wohlstand einschlage. So wird durch den Anschauungsunterricht des vorgeschrittenen Landes die Sache des Sozialismus auch in Ländern unwiderstehlich werden, die heute noch nicht so weit sind, dass ihr Proletariat aus eigener Kraft allein die Staatsmacht zu erobern und den Sozialismus durchzuführen vermöchte.

Und wir brauchen diesen Zeitpunkt nicht in eine ferne Zukunft zu versetzen. In einer Reihe von Industriestaaten scheinen bereits die materiellen und ideellen Vorbedingungen des Sozialismus in ausreichendem Maße vorhanden zu sein. Wir haben die feste Überzeugung, im Deutschen Reiche bereits so weit zu sein. Die Frage der politischen Herrschaft des Proletariats ist da bloß noch eine Frage seiner Macht, vor allem seiner Geschlossenheit. Nur innerer Zwiespalt kann uns noch verderben.

Dass durch einen Anschauungsunterricht der höher entwickelten Nationen der Gang der sozialen Entwicklung beschleunigt werden kann, darauf wies schon Marx im Vorwort zur ersten Auflage seines Kapital hin:

„Eine Nation soll und kann von der anderen lernen. Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist ... kann sie naturgemäß Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“

Unsere bolschewistischen Freunde scheinen diesen Satz trotz ihrer zahlreichen Berufungen auf Marx ganz vergessen zu haben, denn die Diktatur des Proletariats, die sie predigen und üben, ist nichts als ein grandioser Versuch, naturgemäße Entwicklungsphasen zu überspringen und wegzudekretieren. Sie meinen, das sei die schmerzloseste Methode, den Sozialismus zu gebären, seine „Geburtswehen abzukürzen und zu mildern“. Aber wenn man im Bilde bleiben will, dann gemahnt uns ihre Praxis mehr an eine schwangere Frau, die die tollsten Sprünge vollführt, um die Dauer ihrer Schwangerschaft, die sie ungeduldig macht, abzukürzen und eine Frühgeburt herbeizuführen.

Das Produkt eines solchen Verfahrens ist in der Regel kein lebensfähiges Kind.

Marx spricht hier von dem Anschauungsunterricht, den eine Nation der anderen erteilen kann. Für den Sozialismus kommt jedoch noch eine andere Art Anschauungsunterricht in Betracht, diejenige, die eine höher entwickelte Betriebsform für rückständige erteilen kann.

Wohl trachtet die kapitalistische Konkurrenz überall danach, die rückständigen Betriebe auszurotten, aber das ist unter kapitalistischen Bedingungen ein so qualvoller Prozess, dass die von ihm Bedrohten ihn mit allen Mitteln abzuwehren suchen. Die sozialistische Produktionsweise wird daher noch eine Menge Betriebe vorfinden, die technisch überlebt sind. Namentlich in der Landwirtschaft, wo der Großbetrieb nur geringe Fortschritte macht, stellenweise sogar zurückgeht.

Sozialistische Produktion lässt sich aber nur auf der Grundlage des Großbetriebes entwickeln. Die sozialistische Landwirtschaft wird sich zunächst auf die Vergesellschaftung der Großbetriebe, die sie vorfindet, beschränken müssen. Erzielt sie dabei gute Resultate, wie zu erwarten ist, wenn sie an Stelle der Lohnarbeit, die in der Landwirtschaft nur unzureichende Resultate erzielt, die Arbeit frei vergesellschafteter Menschen setzt, gestalten sich die Verhältnisse der Arbeiter in den sozialistischen Großbetrieben günstiger, als die der kleinen Bauern, dann darf man mit Bestimmtheit erwarten, dass diese massenweise freiwillig zur neuen Produktionsweise übergehen, wenn die Gesellschaft ihnen die dazu nötigen Mittel liefert. Früher nicht. In der Landwirtschaft arbeitet der Kapitalismus dem Sozialismus nur ungenügend vor. Und es ist ganz aussichtslos, bäuerliche Besitzer theoretisch von den Vorzügen des Sozialismus überzeugen zu wollen. Bei der Sozialisierung der bäuerlichen Landwirtschaft kann nur der Anschauungsunterricht helfen. Dieser setzt jedoch eine gewisse Ausdehnung landwirtschaftlicher Großbetriebe voraus. Der Anschauungsunterricht wird umso rascher und gründlicher wirken, je ausgedehnter der Großbetrieb im Lande.

Das Ziel der kleinbürgerlichen Demokraten: die Vernichtung jeglichen landwirtschaftlichen Großbetriebes und seine Aufteilung in Zwergbetriebe, es wirkt dem Sozialismus in der Landwirtschaft und damit in der Gesellschaft überhaupt aufs stärkste entgegen.

Die Praxis wirkt immer stärker als die Theorie, der Anschauungsunterricht der Tat stets mehr, als die begeistertsten Reden.

Sozialen Anschauungsunterricht der verschiedensten Art in größtem Stile zu leisten ist die deutsche Sozialdemokratie jetzt berufen.

Schon vor dem Kriege hing ihr ein Drittel des deutschen Volkes an, soweit man nach den Wahlstimmen schließen kann, die die Größe ihrer Anhängerschaft eher zu gering als zu groß erscheinen ließen. Im Kriege sind alle bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme zusammengebrochen. Die große Masse der Bevölkerung steht jetzt hinter uns. Wir haben ihr den Anschauungsunterricht durch unsere Taten nicht mehr zu erteilen, um ihr Vertrauen zu gewinnen, sondern nur noch zu dem Zwecke, es zu rechtfertigen und zu erhalten. Die Demokratie ist heute in Deutschland für uns, wir sind nicht in der Lage des russischen Bolschewismus, wir bedürfen nicht der Diktatur.

Der Ruf nach der Diktatur wäre bei uns nur ein Zeichen innerer Schwäche, des Misstrauens zu unsern eigenen Leistungen, des Zweifels, ob unser Anschauungsunterricht derart sein kann, dass es ihm gelingen werde, die Volksmassen unserer Fahne treu zu erhalten. Und als Symptom von Schwäche und Zweifel an sich selbst könnte die Diktatur und schon die bloße Propagierung der Idee der Diktatur nur eines bewirken: den Glauben großer Volksmassen an unsere innere Kraft ins Wanken zu bringen. Wir verlieren dann die sieghafte Macht der Überzeugung, dass die große Mehrheit des Volkes unzweifelhaft hinter uns steht.

Die Idee der Diktatur würde aber auch, ebenso wie in Russland, ein spaltendes Element für das sozialistische Proletariat selbst werden. So ungeheuer die Schwierigkeiten sind, die wir zu bewältigen haben, wir dürfen hoffen, ihrer Herr zu werden, wenn wir einmütig uns daran machen, sie in positiver Arbeit zu überwinden, für die durch die Revolution der Boden geschaffen wurde. Diese einmütige positive Arbeit, das ist der Anschauungsunterricht, den wir zu leisten haben, um des Proletariats willen, und um des Sozialismus willen. Die Idee der Diktatur kann diese Arbeit nicht fördern, sie kann sie nur stören; sie kann nicht dahin wirken, dass der Prozess der Selbstzerfleischung innerhalb der sozialistischen Reihen durch die Notwendigkeit gemeinsamer positiver Leistungen überwunden, sondern nur dahin, dass er aufs höchste gesteigert wird in dem Moment, in dem die siegreiche Sozialdemokratie sich nur durch die Geschlossenheit des Proletariats zu behaupten vermag. Ist doch nicht einmal die Partei der unabhängigen Sozialdemokratie einig in dieser Frage.

Die einzige Art von Anschauungsunterricht, die heute der Versuch einer Proklamierung der Diktatur zu produzieren vermöchte, wäre die Zwietracht im sozialistischen Proletariat. Sie könnte nur abschreckend wirken auf die große Masse des arbeitenden Volkes bei uns, auf die sozialistische Demokratie der Welt. Sie würde uns die Möglichkeit rauben, durch die Demokratie unsere Ziele zu erreichen, ohne auch nur im Geringsten die Möglichkeit zu schaffen, sie durch die Diktatur durchzusetzen. Das Endergebnis des Versuchs der Aufhebung oder Vorenthaltung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, der definitiven Ersetzung einer Nationalversammlung durch eine dauernde Zentralversammlung von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten wäre nur Bürgerkrieg, völliger ökonomischer Ruin und daher schließlicher Sieg der Gegenrevolution.

Und darum wollen und müssen wir festhalten an der Demokratie, an dem allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrecht, um das wir seit einem halben Jahrhundert gerungen haben.



Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012