Karl Kautsky

Kriegsmarxismus


3. Staat und Wirtschaftsgebiet

a) Das Wirtschaftsgebiet als Verkehrsgebiet

Renners Ausführungen über die „Sozialisierung“ und Nationalisierung“ von Grundeigentum und Kapital sind bezeichnend für die Tendenzen seines Buches, bilden aber nicht dessen wichtigste Gedankengange. Diese sind vielmehr dort zu finden, wo er über die Stellung der Sozialdemokratie zum Staat spricht, die sich nach seiner Meinung vollkommen andern müsse, da die Voraussetzungen nicht mehr bestünden, von denen Marx bei seiner Auffassung des Staates ausging.

Die Entwicklung des Staates zum Wirtschaftsgebiet und die wachsende „Durchstaatlichung“ des ökonomischen Lebens, das sind die beiden grundlegenden Erscheinungen, auf die Renner hinweist, von denen Marx nichts sehen konnte und die bisher übersehen zu haben zu den vielen Todsünden der Marxisten gehört.

Betrachten wir zunächst das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaftsgebiet. Renner gibt folgende Darstellung der Entwicklung des letzten Jahrhunderts:

„Die entstaatlichte Ökonomie – das ist das Ergebnis des geschichtlichen Fortschrittes von der einfachen zur kapitalistischen Warenproduktion, politisch das Werk der burgerlichen Revolution gewesen ... Diese Entstaatlichung der Ökonomie ist nun bedeutsam nach innen und außen. Begrifflich zu Ende gedacht und praktisch zu Ende geführt, hebt sie sofort die Staatsgrenzen auf und schafft unmittelbar die Weltwirtschaft.“ (S. 20, 21)

Dagegen beginnt die Gegenwirkung in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts durch anfangs schüchternem, später immer stärkeres Eingreifen der Staatsgewalt in dass ökonomische Leben:

„Die Volkswirtschaft beginnt sich von Staat zu Staat langsam zu unterscheiden durch eine besondere Wirtschaftsverfassung, die an sich in Widerspruch steht mit der Freiheit des Wettbewerbes, mit der einen unterschiedslosen, naturgesetzlichen Weltökonomie von Karl Marx, und welche die Erwerbs- und Lebensbedingungen der Massen von Land zu Land künstlich verschiebt.“ (S. 13)

Schließlich aber kommt die Herrschaft der Banken:

„Die Banken beherrschen das ganze staatliche Wirtschaftsgebiet und gestalten es einheitlich nach Zinsfuß und Warenpreisen. Staatsgebiet und Wirtschaftsgebiet decken sich, das Wirtschaftsgebiet eines Staates hebt sich nach außen deutlich ab von allen anderen Wirtschaftsgebieten und bildet nach innen eine spezifische und organische Einheit, ein Zustand, der von der einheitlich gedachten Weltwirtschaft von Karl Marx schon sehr weit abliegt.“ (S. 17)

Dieser Zustand wird auf die Spitze getrieben durch den „imperialistischen Hochschutz“:

„Hochschutzzölle trennen die Staatsgebiete völlig voneinander und formen aus jedem Wirtschaftsgebiet für sich einen geschlossenen Organismus. Noch fehlt uns Sozialisten eine gründliche Analyse des geschlossenen Wirtschaftsgebietes, seiner Organe und Funktionen, obwohl das für die Lage der Arbeiterklasse von höchster Wichtigkeit ist.“ (S. 18, vergleiche S. 42, 96)

Nach dieser Darstellung wird das Staatsgebiet zu einem besonderen Wirtschaftsgebiet infolge des wachsenden Eingreifens der Staatsgewalt in das wirtschaftliche Leben. Das geschlossene Wirtschaftsgebiet ist ein Produkt, das sich erst vor etwa einem Menschenalter zu bilden begann. Vorher herrschte die entstaatlichte Ökonomie und die unterschiedslose Weltwirtschaft. Daneben hat aber Renner noch eine andere Theorie des Wirtschaftsgebietes. So sagt er zum Beispiel auf Seite 201:

„Das Recht, das ein Wirtschaftsgebiet zur handlungsfähigen Persönlichkeit, das ist zum Staate, erhebt, verleiht ihm denknotwendig jene Unabhängigkeit, die staatsrechtlich die Bezeichnung Souveränität fuhrt.“

Danach ist das Wirtschaftsgebiet nicht ein Produkt des Staates, sondern schon vor ihm da. Es wird durch das Recht zum Staat erhoben. Nicht der Umfang des Staates bedingt den Umfang des Wirtschaftsgebietes, sondern umgekehrt. Und weil sich die Wirtschaftsgebiete auszudehnen trachten, muss sich der Staat vergrößern:

„Die geschlossene Gutswirtschaft hat die Gutsherrschaft, die Territorialwirtschaft die Landeshoheit, die geschlossene Nationalwirtschaft den Nationalstaat erwirkt, wobei jederzeit Wirtschafts- und Herrschaftsform sich wechselseitig bedingen.“ (S. 272)

„Ausdehnung ist die allgemeine Tendenz der Wirtschaftsgebiete. Die geschichtliche Entwicklung zeigt in gerader Linie ein Fortschreiten von der geschlossenen Gutswirtschaft zur Stadtwirtschaft, zur Landeshoheit, zum Nationalstaat, zum internationalen Wellstaat, und weist in letzter Linie auf das einheitliche Weltwirtschaftsgebiet hin, das wenigstens auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen nur durch die politische Einheit der Welt zu verwirklichen ist.

Der äußere Rahmen dieser evolvierenden Wirtschaftseinheit ist die Marktgemeinschaft, die aus sich heraus auch die Wirtschaftsgemeinschaft erzeugt. Vorstellbar ist, dass sich diese Gemeinschaften bloß mechanisch, äußerlich, ohne öffentliche Gewalt herstellen können, aber eben nur vorstellbar. In Wahrheit ist schon jede Marktgemeinschaft nur unter einer politischen Machtorganisation denkbar. Markt- und Wirtschaftsgemeinschaften haben die Tendenz, Staatsgemeinschaften zu werden, und die allermeisten Kriege, in denen man herkömmlicherweise bloße Eroberungskriege sieht, haben die Aufgabe vollzogen, bestehende oder werdende Markt- und Wirtschaftsgemeinschaften zu sichern in der Form von Staatsgemeinschaften, sind also nicht völkerhemmende, sondern völkerverbindende Kriege gewesen. Im Krieg hat die Staatswirtschaft die Gutswirtschaft, die Landeshoheit die Staatswirtschaft, die Nationalwirtschaft die Landeshoheit überwunden. Diese Kriege waren nicht Barbarei, sondern Entwicklungsinstrument.“ (S. 116, 117)

Eine so warme Verherrlichung der „allermeisten“ Eroberungskriege und des Imperialismus ist selbst in den Publikationen der Umlerner, die uns an starken Tabak gewöhnt haben, eine Seltenheit. Sie bedeutet einen völligen Bruch mit unseren bisherigen Grundsätzen. Das besagt natürlich keineswegs schon, dass die Rennerschen Ausführungen falsch sind. Jeder Grundsatz, und mag er uns noch so teuer sein, muss sich eine Nachprüfung gefallen lassen und muss von uns verworfen werden, wenn er sie nicht besteht.

Aber eines dürfen wir verlangen: dass der Bruch mit Grundsätzen, die das Ergebnis tiefen Forschens sind, nicht ohne gründliche und gewissenhafte Prüfung vollzogen wird. Hier aber haben wir einen solchen Bruch, der nicht nur bloß auf vorläufigen, beweislosen Vermutungen beruht, sondern auch so wenig durchdacht ist, dass der Kritiker sich in den gröbsten Widersprüchen bewegt: Auf der einen Seite lasst er das Wirtschaftsgebiet aus dem Staat, auf der anderen den Staat aus dem Wirtschaftsgebiet entspringen. Und einmal ist ihm der Vorläufer des jetzigen Imperialismus die geschlossene Nationalwirtschaft im Nationalstaat, ein andermal die entstaatlichte Ökonomie, die keine Staatsgrenzen kennen will.

Nirgends lasst Renner uns klar erkennen, was er eigentlich unter einem Wirtschaftsgebiet versteht, wodurch dessen Grenze bestimmt wird.

Einmal will er uns allerdings darlegen, was ein Wirtschaftsgebiet kennzeichnet:

„Wer die Grenze zwischen zwei Staaten überschreitet, merkt, auch wenn sprachliche und kulturelle Unterschiede nicht obwalten, wie bei Bodenbach, sofort unvermittelt starke Gegensätze. Nicht nur sind alle Preise und Lohne verschieden, auch die wirtschaftliche Betriebsweise ist im großen und kleinen Grundbesitz, in Fabrik und Handwerk anders, ebenso die durchschnittliche Profitrate und der Leihzins und endlich auch der ganze Wirtschaftsgeist. Dieses auffällige Anderssein ist nicht zu verwechseln mit den sonstigen lokalen Differenzierungen, die bestehen, aber niemals so tief und allseitig auftreten. Beim Übertritt über die Grenze haben wir ein anderes Wirtschaftsgebiet betreten. Die Grenze ist gleichsam seine Haut; was aber ist sein Körper? Nennen wir die Zusammenfassung aller Wirtschaften und alles Wirtschaftens innerhalb dieser Grenze den staatlichen Wirtschaftskörper.“ (S. 97)

Daran ist nicht zu zweifeln, dass an den Staatsgrenzen Unterschiede in der Art des Wirtschaftens verschiedener Länder zutage treten. Renner selbst nennt aber auch schon einige der Faktoren, die jene Unterschiede bewirken: hier sind andere Zolle als dort, andere Steuern, andere Gesetze, eine andere Staatsverwaltung, eine andere Geldwahrung, ein anderes Unterrichtswesen u. s. w.

Alle diese Unterschiede sind erst durch den Staat geschaffen, erstehen durch ihn, schwinden mit ihm. Keiner dieser Unterschiede sagt uns auch nur das Mindeste über das, worauf es hier ankommt, über die Ausdehnung, die Wirtschaftsgebiet und Staat haben müssen, sollen sie gedeihen können.

Immer wieder wiederholt uns Renner, dass die Ausdehnung des Staatsgebietes und die des Wirtschaftsgebietes einander wechselseitig bedingen, dass die stete Vergrößerung des Staates durch Eroberungskriege eine kulturelle Tat sei. Wenn es aber gilt, zu zeigen, dass und warum dem so ist, wird uns bloß mitgeteilt, dass jeder Staat innerhalb seines Bereiches eine Reihe politischer Bedingungen des Wirtschaftens schafft, die für alle Betriebe seines Gebietes die gleichen und verschieden von den entsprechenden Bedingungen anderer Staaten sind.

Allerdings erzeugt der Staat für die Betriebe innerhalb seiner Grenzen nicht nur eine gewisse Uniformität politischer Bedingungen ihres Wirtschaftens zum Unterschiede vom Ausland, sondern auch eine größere Leichtigkeit des Verkehrs und damit einen engeren Zusammenhang der warenproduzierenden Betriebe untereinander. Schon die Gleichheit der politischen Bedingungen erleichtert den Verkehr. Dazu gesellt sich die direkte Einwirkung des Staates auf das Verkehrswesen, die natürlich in erster Linie auf Hebung des Verkehrs innerhalb seiner Grenzen berechnet ist.

Wollen wir unter einem Wirtschaftsgebiet ein Verkehrsgebiet verstehen, das heißt ein Gebiet, dessen Teile untereinander mit größerer Leichtigkeit verkehren als mit Teilen anderer Gebiete, so sind solche stellenweise schon von Natur aus gegeben, zum Beispiel in einem von unwegsamen Gebirgen umgebenen Flussgebiet, In der Regel aber werden besondere Verkehrsgebiete erst durch die Staatsgewalt geschaffen.

Will Renner unter dem Wirtschaftsgebiet nichts anderes verstehen als ein derartiges Verkehrsgebiet?

Es scheint so, denn um zu begründen, dass „das Wirtschaftsgebiet eine reale Einheit“ ist, sagt er:

„Das staatliche Verkehrswesen schafft durch seine Konzentration die äußeren Bedingungen der Wirtschaftseinheit, die Grundlage, auf der sich ein gleichartiger Innenmarkt erhebt.“ (S. 98)

Was Renner das „Wirtschaftsgebiet“ nennt, ist sonach nichts anderes als der innere Markt. Glaubt unser Kolumbus, der dem Marxismus neue Welten entdecken will, wirklich, dass Marx und die Marxisten sich mit dieser altbekannten Erscheinung nie beschäftigt hatten, dass sie für uns etwas ganz Neues sei, das noch tiefgründiger Untersuchung durch die geläuterte Marxistenschule der Zukunft harre?

Der innere Markt ist nie übersehen worden, auch nicht in den Zeiten der weitesten Verbreitung der Freihandelslehre. Niemals und nirgends ist die „Entstaatlichung“ der Ökonomie so weit gegangen, dass die Landesgrenzen durch Abschaffung sämtlicher Zölle aufgehoben wurden. Selbst in England wurden nur die Schutzzölle beseitigt, Finanzzölle sind geblieben und dazu recht hohe. Die anderen staatlich geschaffenen Bedingungen des Wirtschaftens, Mass und Gewicht, Münze, Eisenbahnwesen, bürgerliches Recht, Steuerpolitik u. s. w., sind dabei gerade in England sehr eigenartig geblieben, zum großen Teil wegen seiner insularen Lage, die es von Natur aus zu einem besonderen Verkehrsgebiet gemacht hat. Marx hatte also in England, trotz seines Freihandels, ausreichend Gelegenheit, die Erscheinungen des inneren Marktes genau zu studieren.

In seinem Kapital hat er nicht naher von ihnen gehandelt, nicht deshalb, weil er sie übersah, sondern weil er die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise erforschen wollte, die allen Staaten gemeinsam sind, und weil der Unterschied zwischen dem inneren Markt und dem Weltmarkt hiefür nicht in Betracht kommt. Auch der innere Markt vermag sich den Gesetzen des Weltmarktes nicht zu entziehen.

Gelegentlich kommt Marx auf den Unterschied vom inneren Markt und Weltmarkt zu sprechen, so im 20. Kapitel des ersten Bandes über „nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne“. In dem 24. Kapitel, im Abschnitt über die Gestaltung des inneren Marktes für das industrielle Kapital, namentlich aber in dem Abschnitt über das Geld und dessen Verschiedenheiten als Weltgeld und Geld in der „inneren Zirkulationssphäre“.

Unterschiede in den staatlich geschaffenen technischen wie den politischen Produktions- und Verkehrsbedingungen der verschiedenen Verkehrsgebiete hat es stets gegeben. Und sie sind nicht im Zunehmen begriffen, wie Renner meint. Diese Bedingungen nähern sich einander vielmehr zusehends. Die Preise, die Löhne, die Arbeitszeiten der verschiedenen Gebiete haben die Tendenz, auf das gleiche Niveau zu kommen. Die Arbeitslöhne in England oder Frankreich und in Deutschland stehen heute einander viel naher als vor fünfzig und selbst vor dreißig Jahren.

Nach Conrad betrug zum Beispiel der Preis des Weizens per Tonne im Durchschnitt 1821 bis 1830 in England 266 Mk., in Preußen 121 Mk. Dagegen 1898 in England 154 Mk., in Preußen 184 Mk. Sie waren einander tatsächlich gleichgekommen und standen in Preußen nur um den Betrag des Zolls hoher. Die daraus hervorgehende Differenz war aber weit geringer als vor einem Jahrhundert die aus den allgemeinen Produktionsbedingungen entspringende.

Nun noch ein Beispiel aus der Lohnstatistik: Es betrugen nach den internationalen Erhebungen des Arbeitsamtes der Vereinigten Staaten die durchschnittlichen Stundenlöhne der Mobeltischler (in Pfennigen):

 

 

1885

 

1890

 

1900

 

1903

In Berlin

33.0

  43.0

  63.5

  67.2

In Paris

61.7

  66.3

  69.7

  69.7

Vereinigte Staaten (nordatlantisch)

105   

112   

134   

Im Jahre 1885 war in Paris der Arbeitslohn noch fast doppelt so hoch wie in Berlin. 1903 war der Unterschied schon fast völlig ausgeglichen. Im Jahre 1890 noch betrug in den nordatlantischen Staaten, den eigentlichen Industriestaaten Amerikas, der Arbeitslohn 244 Prozent des Berliner Lohnes. Zehn Jahre später nur noch 176 Prozent. Dann hob er sich infolge einer außerordentlich günstigen Konjunktur wieder auf 200 Prozent des Berliner Lohnes, aber den Niveauunterschied von 1890 vermochte er nicht mehr zu erreichen.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, die Metalldreher, deren durchschnittliche Stundenlöhne für Paris und Berlin bis 1878 zurückzuverfolgen sind. Diese Lohne betrugen (in Pfennigen):

 

 

1885

 

1890

 

1900

 

1903

In Berlin

28.0

31.7

  47.4

  60.9

In Paris

47.2

48.0

  47.8

  54.3

Vereinigte Staaten (nordatlantisch)

100   

104   

Ebenso wie die steigende Annäherung der Preise und Lohne wirken noch andere Momente in gleicher Richtung, so die Währungsverhältnisse. Alle modernen Staaten gingen in den letzten Jahrzehnten zur Goldwahrung über, die bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts allein von England angenommen war. Das metrische Mass und Gewicht ist aus Frankreich im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts auf Mitteleuropa übertragen worden u. s. w. Nehmen wir dazu noch die wachsende internationale Verflechtung des Finanzkapitals, die Vermehrung der internationalen Abkommen, die durch eine zunehmende Ausgleichung der Produktionsbedingungen der einzelnen Staaten die Abschleifung ihrer Eigenart ermöglichen, dann erkennen wir deutlich, wie gänzlich es aus der Luft gegriffen ist, wenn Renner behauptet:

„Sowohl ökonomisch als juristisch knüpft die kapitalistische Entwicklung in ihren Anfangen überall an andere staatliche Voraussetzungen an, sie strebt sie zunächst auszugleichen, zu nivellieren. Diese Nivellierungstendenz ist jedoch nur der äeren Periode eigentümlich und wird nur irrtümlicherweise auch für unsere Zeit behauptet. Die neustaatliche Periode (seit dem Sturz des Liberalismus) jedoch beginnt sie wieder zu differenzieren und gestaltet häufig sogar aus gleichen Anfangen sehr verschiedene Formen (Jüngere Periode).“ (S. 103, 104)

Schnell fertig ist nicht nur die Jugend, sondern auch Renner mit dem Wort und auch mit der Feststellung von Irrtümern, die er bei anderen zu entdecken vermeint. Die Beweise für seine Worte überlasst er klugerweise auch hier der erleuchteten marxistischen Nachwelt, denn die verblendete Mitwelt findet, sie stünden zu sehr in Widerspruch zu den Tatsachen.

Renner schließt auf die steigende Differenzierung wohl aus den modernen Bestrebungen nach steigender Abschließung der Staaten und Bildung privater Monopole in ihrem Innern. Aber weder Schutzzölle noch Kartelle sind imstande, der machtvollen Ausbildung der Verkehrstechnik und des Verkehrswesens entgegenzuwirken, die immer siegreicher im Frieden alle Zollhindernisse überwinden.

Der internationale Verkehr wachst mit ungeheurer Schnelligkeit.

Im Deutschen Reiche betrug der Spezialhandel in der Ära des Schutzzolls:

 

 

Einfuhr

 

Ausfuhr

Milliarden Mark

1880

  2.9

 

  2.9

1890

  4.3

  3.4

1900

  6.0

  4.8

1910

10.4

  8.1

1913

11.6

10.9

Nur deshalb konnte die Ära des Schutzzolls sich ohne große Schädigungen des ökonomischen Lebens behaupten, weil die Zolle ganz außerstande waren, die wachsende Annaherung der einzelnen natürlichen und staatlichen Verkehrsgebiete zueinander und die zunehmende Innigkeit ihrer gegenseitigen Beziehungen, damit aber auch die stete Verstärkung ihrer Abhängigkeit voneinander zu verhindern.

Das liegt so offenkundig zutage, dass auch Renner selbst es weiß und laut verkündet in seinem Kapitel über „Die ausseren Beziehungen der Wirtschaftsgebiete und die Weltwirtschaft“. Was wird aber dabei aus dem „geschlossenen Wirtschaftsgebiet“, diesem „geschlossenen Organismus“, der im Gegensatz zur vorhergehenden „unmittelbaren Weltwirtschaft“ das Ergebnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte sein soll?
 

b) Das Wirtschaftsgebiet als sich selbst genügendes Gebiet

Renners widerspruchsvolle Auffassung des Wirtschaftsgebietes rührt nicht zum mindesten daher, dass er unter diesem Wort zwei ganz verschiedene Dinge versteht, die ihm unbewusst durcheinanderlaufen. Auf der einen Seite ist ihm das Wirtschaftsgebiet im Grunde nichts anderes als ein Verkehrsgebiet, ein Gebiet, innerhalb dessen durch natürliche oder staatliche Bedingungen der Güterverkehr leichter ist, als der Verkehr zwischen diesem und einem anderen Gebiet. Da er aber diesen Begriff nicht scharf erfasst, mengt sich mit ihm zeitweise ein anderer, wonach das Wirtschaftsgebiet nichts ist als ein Gebiet, das sich in allen wesentlichen Punkten wirtschaftlich selbst genügt, das alles, was es braucht, selbst produziert.

Das wird schon dadurch bezeugt, dass er seine Aufzählung der geschichtlich aufeinanderfolgenden Arten der Wirtschaftsgebiete mit der „geschlossenen Gutswirtschaft“ beginnt. Eine solche ist sicher kein Verkehrsgebiet, sondern ein Gebiet, das seinen Verbrauch selbst produziert, nichts von außen bezieht, nichts nach außen abgibt (im wesentlichen), das sich also wirtschaftlich genügt. Die Tendenz, das natürliche Streben nach solcher Selbstgenügsamkeit (nach „Autarkie“) entdeckt aber Renner auch in jedem anderen Wirtschaftsgebiet:

„Jedes Wirtschaftsgebiet hat naturnotwendig diese Autarkisierungstendenz, sie ist ein Haupthebel der Entwicklung, der Ausbreitung höherer Wirtschaftsformen über die Erdoberflache, der Ökumenisierung der Welt.“ (S. 118)

Die Unterschiede zwischen den beiden Arten Wirtschaftsgebiet sind fundamentaler Natur. Die Politik, welche die eine Art erheischt, bildet den geraden Gegensatz zur Politik der andern.

Die wirtschaftliche Entwicklung beruht auf fortschreitender Arbeitsteilung, die wieder abhängt von fortschreitender Vergrößerung des Absatzes der einzelnen Produkte. Wenn Millionen von Schrauben gebraucht werden, kann man eine besondere Fabrik für ihre Erzeugung einrichten. Werden nur einige Tausende gebraucht, kann man sie nur nebenher in einer Fabrik herstellen, die verschiedene Eisenwaren erzeugt. Würde sich der Absatz für eine “Ware auf ein bestimmtes Verkehrsgebiet beschränken, so müsste der Fortschritt der Arbeitsteilung “bald seine Schranken finden. Die Ausdehnung des Verkehrs über dieses Gebiet hinaus ist eine Bedingung des ökonomischen Fortschrittes, des Gedeihens der Industrie, der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Bildung der Vorbedingungen des Sozialismus. Sie wird ohneweiters erreicht durch Hinwegräumung jener natürlichen oder staatlichen Schranken, die ein bestimmtes Verkehrsgebiet, den „inneren Markt“, von anderen Verkehrsgebieten abschließen. Ausbau und Verbesserung der Verkehrsmittel, Aufhebung der Zölle u. s. w., das sind die Methoden, durch die bisher auch die Sozialdemokratie die Annäherung der Völker zu fördern suchte.

Anders steht die Sache, wenn das Wirtschaftsgebiet ein geschlossenes Gebiet sein will, das sich selbst genügt, das alles produziert, was es selbst braucht. Die Ausdehnung des Marktes, des Absatzes ist hier nicht zu erreichen durch die Erleichterung des Verkehrs mit anderen Gebieten, sondern durch Ausdehnung der Grenzen des geschlossenen Gebietes. In diesem Sinne sagt auch Renner: „Ausdehnung ist die allgemeine Tendenz der Wirtschaftsgebiete.“

Fallt aber das Wirtschaftsgebiet mit dem Staatsgebiet zusammen, so ist jene Ausdehnung gleichbedeutend mit der Ausdehnung des Staatsgebietes, die in der Regel nur möglich ist durch den Eroberungskrieg. Dieser wird so für Renner dort, wo er konsequent seinen eigenen Standpunkt zu Ende denkt, was nicht überall der Fall, eine Notwendigkeit des ökonomischen Fortschrittes, die auch der Sozialdemokrat anerkennen muss.

Wir haben einen seiner Aussprüche in diesem Sinne schon kennen gelernt.

Es ist nicht der einzige in dem Buche. So heißt es auf Seite 278:

„Niemand wird es einfallen, zu leugnen, weder dass das römische Weltreich für die Menschheit ein gewaltiger Gewinn war, noch dass der Krieg das Mittel war, diesen Erfolg herbeizuführen. Und also ist es nicht ausgeschlossen, dass auch in der Zukunft die Welt ihre Ordnung finde im Wege kriegerischer Auslese, dass diejenige Macht, die sich als die starkste Organisation erweist, auch durch die Geschichte zum größten Organisationswerk berufen und von Rechtswegen die höchste Gewalt wird, die Richterin, Walterin und Rechtsschöpferin der Völker.

Das römische Weltreich konnte im Kriege nur geschaffen werden durch den Ruin der römischen Bauernschaft, dessen Gegenstück der Despotismus der römischen Kaiser darstellt. Der Untergang der Volksfreiheit, der Verfaulungsprozess der römischen Kaiserzeit ist nach Renner ein so großer Gewinn, dass er durch die ewigen Kriege der römischen Machthaber nicht zu teuer bezahlt wurde. Dabei ist der Krieg für unseren Umlerner auch ein Gottesurteil, in dem stets der bessere, für die Menschheit nützlichere Teil siegt. Die im Kriege der Menschheit aufgezwungene Weltherrschaft der im Waffenhandwerk am besten geübten Nation ist ihm gleichbedeutend mit dem Triumph des Rechts durch „kriegerische Auslese“.

Derartige Ausführungen sind nicht neu, völlig neu aber ist es, dass Sozialdemokraten sie proklamieren. Sie bedeuten einen völligen Umsturz unserer bisherigen Grundsätze, eine Kapitulation vor der Machtpolitik. Darin hat ja Renner recht, wenn er in Voraussicht sozialdemokratischer Einwände hinzufügt: „Weichmütige Selbsttäuschung macht keine Geschichte.“ Hatten wir ihm nur moralische Entrüstung entgegenzusetzen, dann stünde es schlimm um unsere Sache.

Die hier vorgeführten Konsequenzen der Rennerschen Auffassung gelten nur dann, wenn wir das Wirtschaftsgebiet als einen sich selbst genügenden wirtschaftlichen Organismus betrachten. Einen solchen stellt der innere Markt nicht dar, neben dem stets noch der äußere Markt besteht, die beide die innigsten Wechselwirkungen aufeinander ausüben. Ein Wirtschaftsgebiet, das zusammenfiele oder zusammenfallen konnte mit dem Staatsgebiet in einem anderen Sinne als dem des inneren Marktes, gibt es aber innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht. Was uns Renner über sein Wirtschaftgebiet erzählt, beruht teils auf Konstruktionen, teils auf Verwechslungen.

Er führt uns die Entwicklung des Wirtschaftsgebietes vor, wie es wachst von der Gutswirtschaft zur Wirtschaft der Stadt, des Territoriums, des Nationalstaates und dann des Nationalitätenstaates. Aber von allen diesen Gebieten bildet nur das Gut der Feudalzeit einen Wirtschaftskörper mit der Tendenz, sich selbst zu genügen. Ein solches Gut hat nie ein souveränes Gemeinwesen dargestellt, es war stets nur ein wirtschaftlicher Betrieb innerhalb eines Staates, wie heute etwa eine Fabrik, nur mit dem Unterschied, dass die Gutsherrschaft auch politische Funktionen zu versehen hatte, ein Rädchen im Verwaltungsorganismus des Staates war. In der Periode der Gutsherrschaft finden wir bereits ungeheuer grosse Staaten, wie den Karls des Großen, der außer Frankreich und Norditalien auch den größten Teil des heutigen Deutschlands umfasste. Die geschlossene Gutswirtschaft und Gutsherrschaft bestand in Russland bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein.

Der Staat selbst ist in seinen Anfangen etwas ganz anderes als eine Gutsherrschaft. Er ist eine Herrschaftsorganisation, die eine ganze Reihe sich selbst genügender Wirtschaftsgebiete, Stammesgaue, Markgenossenschaften, Guts-Herrschaften und dergleichen zusammenfasst. Er ist kein Wirtschaftsorganismus, wenn der Staatsgewalt auch unter Umständen wirtschaftliche Aufgaben zufallen. Seine Ausdehnung ist sicher wirtschaftlich bedingt, aber nicht in der einfachen Weise, wie Renner sich es vorstellt, dass sie abhängt von der Ausdehnung eines Wirtschaftsgebietes.

Die Größe eines Staates hängt ab von der Kraft, namentlich der militärischen Kraft seiner herrschenden Klasse; sowohl von der Kraft, die sie selbst direkt besitzt, wie jenen Kraften, die sie sich dienstbar macht. Je größer die Machtmittel der Herrschaftsklasse, desto mehr Gebiet, desto mehr Menschen vermag sie zu erobern, desto mehr wird sie den Staat ausdehnen.

Die Kraft der herrschenden Klasse ist ökonomisch bedingt. Von der Produktionsweise und Gesellschaftsform, die in ihrem ursprünglichen Gebiet und von jener, die in einem Nachbargebiet herrscht, hängt es ab, ob in ihr die militärischen und sonstigen für die Ausdehnung des Staates erforderlichen Eigenschaften hoher entwickelt sind als bei dem Nachbarn, ob sie es vermag, diesen niederzuschlagen und ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Das Gebiet des Staates ist ein Herrschaftsgebiet, kein Wirtschaftsgebiet, es kann nicht nur die verschiedensten sich selbst genügenden Wirtschaftsgebiete, sondern sogar Gebiete der verschiedensten Produktionsweisen umfassen. Innerhalb der Grenzen desselben Staates können Gebiete liegen, die sich selbst genügen, und solche, die auf den regsten Außenhandel angewiesen sind und ausschließlich davon leben.

Die erobernde und zusammenfassende Kraft, die eine herrschende Klasse aus ihrer ökonomischen Grundlage zieht, ist der wichtigste, jedoch nicht der einzige ökonomische Faktor, der für die Bildung eines Staates in Betracht kommt.

Die Verkehrsverhältnisse spielen zum Beispiel für die militärische Kraft ebenso eine Rolle wie für den Handel. So hängt diese Kraft heute bekanntlich in hohem Maße vom Stande der Eisenbahnen ab. Zur Eroberungspolitik der alten Römer gehörte die Anlegung eines Straßennetzes, das ihre Stadt mit den Provinzen verband. Je leichter man Truppen vom Zentrum an die Grenze werfen kann, desto leichter wird der Staat unter sonst gleichen Umständen eine Grenzprovinz behaupten können. Anderseits wird eine Eroberung nicht leicht festzuhalten sein, die durch ein schwer überwindliches Verkehrshindernis, etwa ein unwegsames Gebirge, vom übrigen Reiche abgetrennt ist, dagegen keine natürliche Schranke zwischen sich und dem Nachbarstaat findet. In dem einen Falle wird die Leichtigkeit des Verkehrs nicht nur militärische, sondern auch ökonomische Verbindungen der Provinz mit dem Reich herstellen, die bewirken, dass ihre Bevölkerung an dem Zusammenhang mit ihm interessiert ist. Im anderen Falle erschwerten Verkehrs wird die Provinz, die nur mühsam militärisch zu behaupten ist, auch keinen ökonomischen Zusammenhang mit dem Gesamtreich gewinnen, eher ein Interesse an der Verbindung mit dem Nachbarstaat, mit dem der Verkehr für sie leichter ist. Ihre Bevölkerung wird jede Gelegenheit benützen, sich loszureißen.

Angesichts der Bedeutung, die die Verkehrsmittel für den Krieg wie für den Handel haben, werden daher Gebiete, die von Natur aus Verkehrsgebiete in dem hier bereits entwickelten Sinne sind, auch leichter staatlich zusammengehalten werden können. Insofern besteht also unter Umständen ein innerer Zusammenhang zwischen der Ausdehnung des Staates und des Verkehrsgebietes. Aber das gilt keineswegs allgemein, bildet nur einen Sonderfall, der unter gewissen Umständen eintritt. Die Staaten dieser Art sind weit entfernt, den allgemeinen Typus zu bilden, vielmehr nur als Ausnahmen zu betrachten.

Böhmen stellt zum Beispiel seit altersher gleichzeitig ein natürliches Verkehrsgebiet und ein Staatsgebiet dar. Der Umfang des Königreichs Böhmen ist deutlich auf einer physikalischen Karte Kuropas zu erkennen, auf der nur die Bodengestaltung verzeichnet ist, nicht die politischen Grenzen. Aber das ist ein Ausnahmsfall, der für die meisten anderen Staaten nicht zutrifft. Böhmen bildet auch darin eine Ausnahme, dass die Grenzen des Königreiches seit einem Jahrtausend bis in unsere Tage die gleichen blieben, was sich von den wenigsten Staatswesen sagen lässt.

Derartige besondere Falle mögen Renner vorgeschwebt haben, als er seine Behauptung aufstellte, Staatsgebiet und Wirtschaftsgebiet stünden in organischem Zusammenhang. Bestimmtes lasst sich darüber nicht sagen, da er nirgends seine Anschauungen begründet oder theoretisch entwickelt, sondern sich damit begnügt, sie mit großer Entschiedenheit zu bekunden, was freilich bequemer ist und auf manchen Leser mehr Eindruck macht als die überzeugendste Begründung.

Unvereinbar mit dieser Auffassung des Zusammenhanges von Wirtschaftsgebiet und Staatsgebiet ist jedoch der Ausgangspunkt der Darstellung, durch die Renner jenen Zusammenhang illustrieren will: die geschlossene Gutswirtschaft war nie ein selbständiges politisches Gemeinwesen, geschweige denn ein Staat. Bei ihr fiel also Wirtschaftsgebiet und Staatsgebiet nie zusammen.

Nicht besser steht es mit der Rennerschen Darstellung der weiteren Entwicklung über die Gutsherrschaft hinaus.

Die Stufenfolge, die er uns vorführt, ist Schmoller und Bücher entlehnt. Gar manches lasst sich gegen sie schon bei ihren Urhebern einwenden; noch mehr aber gegen die Art und Weise, wie Renner sie anwendet, um das Wachstum der Staaten durch die Ausdehnung der Wirtschaftsgebiete zu erklären.

Nach ihm folgt auf die Gutswirtschaft die Stadtwirtschaft, und die „Staatsgemeinschaft“ entwickelt sich vom Fronhof zur Stadt.

In Wirklichkeit bildet sich die Stadt innerhalb des Staates. Nichts irriger als die Vorstellung, die erste Form des Staates habe die Gutswirtschaft gebildet und die zweite die Stadt. Es kommt im Laufe der geschichtlichen Entwicklung vor, dass einzelne Städte eine überragende Bedeutung bekommen, die sie instand setzt, sich politisch unabhängig, ja ein kleineres oder größeres Landgebiet von sich abhängig zu machen. So kann die Stadt zu einem Staat werden, mitunter zu einem gewaltigen, wie Athen, Venedig, vor allem Rom. Mannigfach waren die Faktoren, von denen die Ausdehnung ihres Staatsgebietes abhing, aber nie wurde es bestimmt durch die Ausdehnung der Stadtwirtschaft, was immer man unter diesem Namen verstehen mag.

Auf die Stufe der Stadtwirtschaft folgt bei Renner wie bei Schmoller die der „Territorialwirtschaft“, die die „Landeshoheit erwirkt“.

Dieser Begriff ist gleich sonderbar, mag er eine ökonomische Entwicklungsstufe bezeichnen oder ein Wirtschaftsgebiet.

Die Landeshoheit der Territorialherren ist nicht etwa wie das Städtewesen eine allen Völkern auf einer gewissen Kulturhöhe gemeinsame Erscheinung, sondern eine besondere Spezialität des Deutschen Reiches. Eine Reihe seiner Fürsten entwickelte sich seit dem Ausgang des Mittelalters tatsächlich zu souveränen Monarchen, die aber doch über sich einen Kaiser anerkannten. Diese besondere Art fürstlicher Gewalt nannte man die Landeshoheit der Territorialherren. Die Eigenart dieser kleinen Fürstentümer innerhalb eines großen Reiches ermöglichte es, dass die Ausdehnung des Gebietes der einzelnen Dynastien viel unabhängiger von ökonomischen und militärischen Bedingungen war als die eines völlig selbständigen Staatswesens. Es konnten sich im Deutschen Reiche Staatswesen erhalten von einer Winzigkeit, die auf gleicher Kulturstufe anderswo unmöglich gewesen waren. Daneben gab es sehr ansehnliche Staaten, auch abgesehen vom Landgebiet des Kaisers. Im Jahre 1786 umfasste Deutsch-Preußen über 2.000 Quadratmeilen, Bayern über 1.000 Quadratmeilen, dagegen verfügte der Graf von Leiningen nur über 8 Quadratmeilen, der von Wernigerode gar nur über 4 Quadratmeilen.

Man kann schon aus diesen Andeutungen ermessen, was es heißt, von einer „Territorialwirtschaft“ als einem Wirtschaftsgebiet von einer bestimmten Ausdehnung zu sprechen, das einer bestimmten Höhe der ökonomischen Entwicklung entspricht und das sich mit Notwendigkeit überall durch Ausdehnung des Wirtschaftsgebietes bildete!

Schmoller bezeichnet als Periode der Territorialwirtschaft die Zeit vom 14. bis 18. Jahrhundert, für die Mittelstaaten von 1 bis 2 Millionen Einwohnern typisch seien. Jedoch ist für diese Zeit ebensowenig wie für den Zeitraum vor und nach ihr eine besondere Staatsgröße typisch. Neben kleinsten Staaten und Mittelstaaten finden wir in jener Epoche große Staaten, die ihre Geschichte bestimmen, Frankreich, Spanien, England, die habsburgische Monarchie. Jeder dieser großen Staaten zerfiel in zahlreiche Verkehrsgebiete, die durch Zölle voneinander getrennt waren, oft räumlich weit ab vom Hauptkörper des Staates lagen. In keiner Weise bedeutete der Staat jener Zeit ein Wirtschaftsgebiet.

Die nächste Stufe, die uns Renner vorführt, die „geschlossene Nationalwirtschaft“, die den Nationalstaat „erwirkt“, soll der Stufe entsprechen, die Bücher und Schmoller als die der „Volkswirtschaft“ bezeichnen. Doch von einer „geschlossenen Nationalwirtschaft“ sprechen sie nicht. Wo sollte diese auch zu finden sein? Wird sie „erwirkt“ durch das Streben nach dem Nationalstaat? Aber gleichzeitig mit diesem Streben finden wir das nach dem Freihandel, nach „Entstaatlichung“ der Ökonomie, nach Aufhebung der Grenzen, nach Schaffung der „staatslosen Weltökonomie“. Alles das sind Ergebnisse der gleichen ökonomischen Entwicklung.

Vergebens sehen wir uns nach Beispielen um, die uns den Begriff der „geschlossenen Nationalwirtschaft“ veranschaulichen und uns das geschlossene Wirtschaftsgebiet einer Nation zeigen konnten, das der Bildung eines Nationalstaates vorausgeht.

Wo eine Nationalitat in verschiedene Teile zerfiel, von denen jeder einem anderen Staat zugehörte, bildete die Nationalität nicht einmal jenes engere Verkehrsgebiet, das man den inneren Markt nennt, trotz der Gemeinsamkeit der Sprache, dieses wichtigsten aller Verkehrsmittel. Wo blieb die „geschlossene Nationalwirtschaft“ der Polen in Preußen, Österreich, Russland? Oder etwa die der Tschechoslowaken in Hungarn und Bohmen? Oder die der Deutschen in Österreich und Preußen?

Es ist eine rein aus der Luft gegriffene Behauptung, dass der Nationalstaat vorbereitet und seine Ausdehnung bestimmt wird durch die vorherige Bildung einer geschlossenen Nationalwirtschaft.
 

c) Nationalitatenstaat und Kolonialstaat

Als Abschluss der bisherigen Entwicklung des Staates betrachtet Renner den „übernationalen Weltstaat“. Hier kommen wir zur Gegenwart, zu dem Punkte, wo die theoretische Untersuchung des Wirtschaftsgebietes praktisches Interesse erfüllt. Leider bedeutet die größere Nähe des Gegenstandes nicht größere Klarheit. Was Renner „übernationalen Weltstaat“ nennt, das umfasst mehrere, untereinander sehr verschiedene Staatsformen. Allerdings ist diese Konfusion ihm heute nicht allein eigentümlich. Sehr allgemein ist die Auffassung, als wenn alle Staaten, in denen Volker verschiedener Sprache zusammengefasst sind, einen gemeinsamen Typus darstellen würden. Das ist keineswegs der Fall. Am allerwenigsten aber bildet eine solche Zusammenfassung eine Staatenart, die ausschließlich die jüngste Gegenwart kennzeichnet.

Da die Ausdehnung des Staates nicht durch die eines Wirtschaftsgebietes, was immer man unter einem solchen verstehen mag, notwendig bedingt wird, sondern durch die Machtmittel der ihn beherrschenden Klassen, finden wir in der geschriebenen Geschichte, soweit wir sie zurückverfolgen können, von ihren Anfängen an Staaten, die so ausgedehnt sind, dass sie verschiedene Sprachgebiete umfassen. Die Staaten dieser Art bilden eine ununterbrochene Reihe bis heute, von den Assyrern an.

Unter ihnen sind die verschiedensten Typen zu unterscheiden. Für die moderne Geschichte kommen zwei in Betracht, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen.

Da finden wir einmal Staaten, deren verschiedene Sprachgemeinschaften moderne Nationalitäten darstellen, wie sie der Kapitalismus und die aus ihm hervorgehende moderne Demokratie schafft: Nationalitäten, die die Fähigkeit und den Willen haben, die Staatspolitik selbständig und tatkräftig zu bestimmen. Diese Staaten sind Nationalitätenstaaten. Ihr auffallendster Vertreter heute ist Österreich.

Auf der anderen Seite haben wir Staaten, die, mögen sie bloß aus einer modernen Nation bestehen oder aus mehreren, sich daneben Völkerschaften einverleiben, die noch das Stadium der primitivsten Demokratie nicht überschritten haben, einer Demokratie, die sich sehr wohl in einem kleineren Rahmen, etwa einer Gemeinde oder Markgenossenschaft, zu betätigen weiß, die aber noch nicht über die materiellen und intellektuellen Vorbedingungen verfügt, um in die große Staatspolitik eingreifen zu können.

Sind im Nationalitätenstaat alle Nationen fähig und ge-[..] gleichen Rechtes an der Staatspolitik teilzunehmen, so [..]es für die annektierten Elemente in der zweiten Staatsart vornherein ausgeschlossen. Hier sind die zum Staat hinzugefügten Gebiete bloße Anhängsel, Kolonien.

Der Kolonialstaat und der Nationalitatenstaat sind zwei ganz verschiedene Arten von Staaten, obgleich sie beide „übernationale Weltstaaten“ sind.

Es ist, schlimm genug für Renner, dass er diese beiden Staaten nicht auseinanderhäalt. Außerdem aber hat er das Pech, dass keine der beiden Staatenarten erst nach dem Nationalstaat auftritt, wie es sein Schema der Wirtschaftsgebiete vorschreibt. Die heutigen Nationalitätenstaaten wie die Mehrzahl der heutigen Kolonialstaaten haben sich vielmehr in jenem Zeitraum gebildet, in dem Renner seine famose „Territorialwirtschaft“ entdeckt und der dem des Nationalstaates vorhergeht.

Darin stimmen die beiden Staatenarten überein, doch weisen sie nicht die gleiche Entwicklung auf. Seit dem Aufkommen der modernen Nationalität und der Idee des Nationalstaates nimmt die Bildung von Nationalitätenstaaten ein Ende. Alte Nationalitätenstaaten verschwinden so die europäische Türkei – keine neuen erstehen mehr. Nirgends können wir in Europa seit einem Jahrhundert Ansätze zu der Neubildung eines „übernationalen Weltstaates“ durch Angliederung bisher souveräner moderner Staaten an einen größeren Staat anderer Nationalität bemerken, wohl aber Trennungen schon bestehender Staaten in verschiedene Teile, von der Belgiens von Holland 1830 angefangen bis zu der Norwegens von Schweden, 1905, der nun wohl die Selbständigkeit Polens folgen dürfte.

Die Nationalitätenstaaten, die heute in Europa bestehen, sind Überbleibsel der Vergangenheit. Sie mögen unter Umständen noch eine große Kraft entwickeln, wie etwa auch die katholische Kirche. Aber es ist eine Kraft, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, eine Kraft, die ebenso konservativ wirkt, wie sie von konservativen Machten abhängt. Wie immer man über die Zukunft solcher Staaten denken mag, es gehört eine erhebliche Dosis lokaler Selbstgenügsamkeit dazu, der Meinung zu verfallen, ihr politisches und ökonomisches Leben vollziehe sich ersprießlicher als in den Nationalstaaten und bilde ein verlockendes Vorbild für diese. Besonders erstaunlich ist diese Selbstgenügsamkeit, wenn sie sich nicht bei einem Konservativen findet, sondern bei einem Mann, der als Sozialdemokrat, also sozusagen als Revolutionär auftritt.

Anders steht es mit dem Kolonialstaat. Für eine Reihe von Staaten ist allerdings das, was sie an kolonialem Gebiet noch besitzen, ebenfalls nur ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, so bei Spanien, Portugal, Holland. Andere dagegen sind tatsächlich erst dann durch Annektierung von Kolonien zum „übernationalen Weltstaat“ übergegangen, nachdem sie das Stadium des Nationalstaates erreicht hatten. So Italien, Frankreich und England endlich waren schon früher Kolonialstaaten, haben aber in den letzten Jahrzehnten ihren kolonialen Besitz erheblich erweitert.

Diese Erscheinungen, des modernen Imperialismus sind es, aus denen die Auffassung Renners vom „übernationalen Weltstaat“ einen Schein von Berechtigung gewinnt.

Aber strittig ist ja nicht die Erscheinung selbst. Die pfeifen die Spatzen von den Dächern. Strittig ist bloß, wie sich das Proletariat zu ihr stellen soll.

Die Sozialdemokratie hat bisher die Auffassung vertreten, dass der Besitz von Kolonien für die industrielle Entwicklung nicht notwendig ist, dass er eine Gefahr bildet, da er zum Wettrüsten drangt und kriegerische Verwicklungen provoziert. Endlich aber auch, und das allein müsste für einen Sozialdemokraten genügen, dass die gewaltsame Besitznahme eines fremden Landes, die Unterjochung und Knechtung seiner Einwohner den Grundsätzen des Proletariats widerspricht, das sich, als unterste der Klassen, nicht befreien kann, ohne alle Unterdrückung und Ausbeutung aufzuheben.

Das haben wir Marxisten jahrzehntelang verfochten und ausführlich begründet. Wollte Renner eine andere Auffassung verfechten, dann müsste er zunächst unsere Beweisgründe widerlegen. Er weiß eine bequemere Methode. So nebenher lasst er ein paar Bemerkungen fallen, in denen die bisherige Auffassung der Sozialdemokratie so schief dargestellt wird, dass sie lächerlich erscheint.

>„Die Ausbreitung und Verdichtung der Ökumene (Weltwirtschaft) ist die größte geschichtliche Tatsache des letzten halben Jahrhunderts, der größte Fortschritt der bisherigen Geschichte überhaupt.

So im ganzen gesehen. Nachbarlich und sonderstaatlich gesehen, erscheint das freilich als Kolonialpolitik und koloniale Ausbeutung, Herrschaft und Knechtschaft u. s. w. Das ist allerdings und ist bei der dialektischen Natur des Kapitals auch gar nicht verwunderlich. Es will mir daher durchaus nicht gefallen, dass so viele und so namhafte Marxisten hinter der kolonialen Tagesbeschwerden und Nachbarschaftsrivalitäten das Säkular-Große der Ökumenisierung der Welt gar nicht sehen und ihr gegenüber einen hilflos-griesgrämigen sittenrichterlichen Standpunkt beziehen, der tief unter der Marxschen Denkweise liegt. Viele von ihnen spinnen sich in einen kleineuropäischen Gesichtskreis, in eine Art geschlossenen Handelestaat Europa ein, der bloß in Altväterweise Überschuss und Überbedarf zu tauschen, die Naturvölker einstweilen der Wildnis zu überlassen und sich selbst auf dem kürzesten Sonderweg in den Himmel des Sozialismus zu befädern habe, von wannen der Befreier Sozialismus dann wiederkehren und den Wilden das Evangelium des Sozialismus im Wege der Predigt beibringe soll. So vollzieht sich die Geschichte nicht. In solcher Art Gegner des Kolonialsystems sein, heißt Gegner der Weltgeschichte sein und nicht Antiimperialist.“ (S. 112, 113)

„Die Notwendigkeit der sogenannten Kolonisation zu verneinen, ist kindisch.“ (S. 362)

Renner gehört also zu jenen „Antiimperialisten“, die die Notwendigkeit der Kolonisation und damit des Imperialismus verfechten. Den Imperialismus dadurch zu bekämpfen, dass man seine Notwendigkeit verneint, erscheint ihm „kindisch“. Wer gegen die Kolonialpolitik auftritt, ist sogar ein „Gegner der Weltgeschichte“, am Ende gar noch ein Gegner der Geographie. Es mag das ja ein fürchterliches Vergehen sein, ich ziehe es aber immer noch einer Gegnerschaft gegen die Logik vor.

Natürlich ist es eine reine Phantasie Renners, dass die Gegner der Kolonialpolitik Europa in einen geschlossenen Handelsstaat verwandeln und die Ausdehnung seines Handels einschränken wollten. Es gehört zu den unausrottbarsten Wahnideen der Anhänger der Kolonialpolitik, dass Ausdehnung des Handelsverkehrs nur möglich sei durch Ausdehnung des kolonialen Besitzes.

Der Wert der deutschen Ausfuhr betrug 1913 über 10.000 Millionen Mark, der nach den deutschen Kolonien 53 Millionen Mark. Nach Chile oder nach Finnland allein exportierte das Deutsche Reich mehr als nach allen seinen Kolonien zusammengenommen.

Bedeutend größer als das deutsche ist das französische Kolonialreich. Trotzdem gingen 1913 von der französischen Gesamtausfuhr im Betrag von 6.900 Millionen Franken nur 284 Millionen Franken in die Kolonien (abgesehen von Algier). Wieviel davon Lieferungen für Staatszwecke oder Staatsbeamte waren, die mit französischem Geld bezahlt wurden, lasst sich leider nicht feststellen. Es wird nicht wenig sein. Die Kolonien kosteten Frankreich 1913 105 Millionen Franken.

Über das gewaltigste Kolonialreich verfügt England. Jedoch selbst dort ist der Handel mit der übrigen Welt wichtiger als der mit den Kolonien. Von der Gesamtausfuhr von 525 Millionen Pfund Sterling gingen 1913 nur 205 Millionen Pfund Sterling in die britischen Besitzungen. Dabei sind aber eine Reihe derselben gar keine Kolonien in dem hier gebrauchten Sinne mehr, sondern autonome Staaten. Diese, Kanada, Australien, Südafrika allein bezogen von der englischen Ausfuhr 91 Millionen Pfund Sterling.

Bemerkenswert ist endlich, dass von der übrigen Ausfuhr nach den Kolonien im Betrag von 114 Millionen der Löwenanteil auf Indien (83 Millionen) und Ägypten (10 Millionen) entfiel, zusammen 93 Millionen Pfund. Von dem unbedeutenden Rest von 20 Millionen Pfund geht aber auch noch der größte Teil in Gebiete, die durchaus nicht von „Wilden“ bewohnt werden, darunter die Inseln an der französischen Küste im Kanal, Gibraltar, Malta, Zypern.

Will Renner behaupten, alle diese Gebiete konnten nur in der Form von Kolonien an der „Ökumene“ teilnehmen, seien für die wirtschaftliche Entwicklung verloren, wenn sie aufhörten, Kolonien zu sein? Empört er sich nicht gegen „die ausbeuterischeste und herrschbegierigste Bourgeoisie der Welt, die angelsächsische Bourgeoisie“? (S. 200)

Entrüstet er sich nicht über die „englische Eroberungspraxis in Indien und Ostasien“ sowie in Ägypten und über den „Raub Marokkos“. (S. 200, vgl. auch S. 298)

Oder ist er gegen die Kolonialpolitik bloß dort, wo sie England oder Frankreich zugute kommt?

Jener Verkehr mit den „Wilden“, der durch koloniale Eroberungen erschlossen wird, bedeutet nur einen winzigen Bruchteil des Weltverkehrs. Aber auch die Ausdehnung des Handelsverkehrs mit Wilden lehnen wir nicht grundsätzlich ab, sondern nur die Methode der Gewalt.

Renner kennt freilich nur die Alternative gewaltsamer Unterdrückung oder der Überredung „im Wege der Predigt“. Dass man den Verkehr in einer Weise gestalten kann, in der die Wilden Nutzen ans ihm ziehen und dadurch bewogen werden, sich auf ihn einzulassen, das kommt ihm nicht in den Sinn, und doch ist das die alte Methode des Handelsverkehrs zwischen gleich Starken, von denen keiner den anderen vergewaltigt.

Aber natürlich, größer ist der Gewinn für die eine Seite, wenn sie der anderen als die stärkere, als Unterdrückerin und Ausbeuterin entgegentreten kann. Seit wann bildet aber dies kapitalistische Motiv der Kolonialpolitik eine „Notwendigkeit“ für Sozialdemokraten?

Ich spreche hier nicht von dem Problem, wie dort, wo ein kolonialer Besitz bereits vorhanden ist, die Bevölkerung am besten zu politischer und ökonomischer Selbständigkeit zu überführen ist. Das ist eine Sache für sich. Hier handelt es sich um die angebliche ökonomische Notwendigkeit steter Erweiterung des „Wirtschaftsgebiets“ durch Eroberung neuer Kolonien, entweder auf dem Wege der Versklavung und Expropriierung bisher freier Volker oder auf dem Wege des Krieges gegen eine andere Kolonialmacht.

Diese Politik hat die Sozialdemokratie bis zum Weltkrieg stets abgelehnt als eine Politik des Krieges für kapitalistische Zwecke, für „Ausbeutung, Herrschaft und Knechtschaft“.

Renner rechtfertigt diese Politik als Gebot des ökonomischen Fortschrittes, er tut Ausbeutung und Knechtschaft als bloße nebensächliche Schönheitsfehler der kapitalistischen Dialektik ab, die uns nicht beirren dürfen als kleine „Tagesbeschwerden und Nachbarschaftsrivalitäten“. Ja er wagt es, unseren Kampf gegen Ausbeutung und Knechtschaft zu verhöhnen als einen „hilflos-griesgrämigen sittenrichterlichen Standpunkt“, der „tief unter der Marxschen Denkweise liegt“.

Renner hat vollständig die wuchtigen Worte vergessen, mit denen Marx in seinem Kapital die ursprüngliche Akkumulation des Kolonialsystems brandmarkt, dessen Methoden „auf brutalster Gewalt“ beruhen, seine Mitleidlosigkeit und Schamlosigkeit. Marx endet den Abschnitt, in dem das Kolonialsystem behandelt wird, mit den Worten: „Wenn das Geld, nach Augier, mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.“ (Kapital, I., S. 688)

Welch „hilflos-griesgramiger sittenrichterlicher Standpunkt, der tief unter der Marxschen Denkweise liegt“!

Wenn jemals, würde Marx diesen Rennerschen Ausführungen gegenüber gesagt haben: Sollte das Marxismus sein, dann bin ich kein Marxist.

Was bleibt vom Sozialismus übrig, wenn der Kampf gegen Ausbeutung und Knechtschaft nicht seine allgemeine Pflicht ist. Es gibt keine Partei, die sich nicht gegen Ausbeutung und Knechtschaft einzelner Gegenden und Schichten wendete. Was den Sozialismus kennzeichnet, ist die Tatsache, dass er sich gegen „jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung“ wendet, „richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse“. (Erfurter Programm) Es genügt nicht, für die Befreiung der arbeitenden Klassen in Wien und Umgebung einzutreten.

Doch tun wir Renner nicht unrecht? Tritt er nicht als der Verteidiger rückstandiger Nationen gegen industriell überlegene auf? Vergleicht er nicht deren Gegensatz mit dem Klassengegensatz zwischen Proletariat und Kapital?

Das tut er allerdings. Aber nicht, um die Kolonialpolitik zu bekämpfen, sondern den Freihandel.
 

d) Der Freihandel

Kolonialpolitik und Schutzzollpolitik gehen Hand in Hand, sind Kinder der gleichen Politik des Kapitals, das durch Staatshilfe Extraprofite zu erlangen sucht. Es ist nur konsequent, wenn Renner, nachdem er sich für die koloniale Eroberungspolitik erwärmt hat, dem Freihandel zu Leibe geht, natürlich unter den stärksten Ausfallen gegen die Verständnislosigkeit der Marxisten:

„Wir helfen uns fort mit den abgelegten Schlagworten der bürgerlichen Freihandelsbewegung! Ein beschämender Ausweg!“ (S. 122)

Und die Schutzzöllnerei? Ist die keine bürgerliche Bewegung?

Doch sehen wir zu, durch welchen Ausweg Renner uns beschamt.

Der Freihandel ist ihm Unterdrückung und Ausbeutung:

„Der Freihandel schafft erst recht zwischen den Bewohnerschaften aller Zonen und Klimate die schlimmsten kapitalistischen Abhängigkeitsverhältnisse.“ (S. 383)

Als Beweis dafür sollen wohl folgende Ausführungen gelten:

„Im ganzen fernen Osten wird der Außenhandel von westeuropäischen Kaufleuten besorgt. Hier monopolisiert der Fremde den allergrößten Teil des im Lande realisierbaren Handelsprofits und vermindert dem Lande den verfügbaren Mehrwert, dessen einzige Akkumulations- und Entwicklungsquelle, um einen beträchtlichen Teil. Dieser Ausfall verkümmert das Wachstum des heimatlichen Kapitals und verlangsamt damit die allgemeine Kulturentwicklung des ganzen Volkes ...

Das altliberale Freihandelsargument, dass der Freihandel an sich der gleiche Vorteil beider durch ihn verbundenen Völker sei, ist damit Lügen gestraft. Es beruht auf dem gleichen Trugschluss, wie das von Karl Marx so oft gegeißelte Argument, dass der freie Lohnvertrag die ökonomische Freiheit des Arbeiters bewirke. Für das Volk, dessen Handelskapital ein anderes Wirtschaftsgebiet sich dienstbar macht, bewahrt sich der Freihandel ebenso als der heuchlerische Vorwand kolonialer Ausbeutung, wie für den Kapitalisten die Vertragsfreiheit als Deckmantel der Lohnsklaverei. Und doch unterliegen ganze Schwärme von Vulgärmarxisten solchen simplen Trugschlüssen, weil sie das Wort ‚Freiheit‘ dabei täuscht. Nur dann bewirkt Freihandel nicht Ausbeutung zwischen zwei Volkswirtschaften, wenn sie ökonomisch auf gleicher Stufe stehen.“ (S. 213, 214)

Und der gute Renner ist jahrzehntelang mitgelaufen im Schwarm dieser Vulgärmarxisten, die vom Freihandel nichts verstehen als das Wörtchen „frei“. Um ihn zur Widerlegung ihrer „simplen Trugschlüsse“ zu veranlassen, war ein Weltkrieg nötig!

Indessen nicht nur das Wort „Freiheit“, sondern auch das Wort „Handel“ gestattet „simple Trugschlüsse“, und Renner macht von dieser Möglichkeit ausgiebigen Gebrauch. Seine ganze Argumentation beruht darauf, dass er zwei verschiedene Begriffe einander gleichsetzt: eine Anzahl von Kaufleuten und ein Zollsystem. Das eine wie das andere sind „Handel“. Wenn englische Kaufleute China ausbeuten, soll das am englischen Freihandelssystem liegen!

Eins ist richtig: Wenn sich in China englische Kaufleute festsetzen und dort Handelsprofite einstecken, die sie in England statt in China akkumulieren, so wird dadurch die Akkumulation des chinesischen Kapitals verlangsamt. Aber das geschieht, weil jene Kaufleute Engländer sind, die nach England zurückkehren, und nicht deshalb, weil China niedrige Zölle hat, oder gar deshalb, weil in England der Freihandel herrscht.

Was geschieht aber in Agrarländern, in denen die Kaufleute nicht aus dem Ausland kommen? In Preußen und den Vereinigten Staaten waren sie auch in der agrarischen Periode Inländer. Hier blieb also der Handelsprofit im Lande. Wo kam da die Ausbeutung her, die der Freihandel bewirkt? Und wieso kommt es, dass diese einheimischen Kaufleute ebensosehr für den Freihandel eintraten wie die ausländischen?

Es ist klar, dass ein Schutzzoll dem inländischen Kaufmann gegenüber dem ausländischen keine bevorzugte Stellung schafft. Der Zoll von eingeführten Produkten muss entrichtet werden ohne Unterschied, ob der Importeur ein Ausländer oder ein Inländer ist.

Nicht zum Schütze des heimischen Kaufmannes, sondern zum Schütze des heimischen Industriellen wird der Zoll eingeführt. Dessen Wirkung besteht darin, dass er nur vom ausländischen, nicht vom inländischen Produkt zu tragen ist. Renner lasst die Ausbeutung durch den Freihandel als Ausbeutung durch das Handelskapital erscheinen.

Etwas ist ja daran an der Rennerschen Behauptung, dass die Agrarstaaten gegenüber den Industriestaaten im Nachteil sind. Aber er sucht diesen Nachteil an falscher Stelle.

Ein Land ohne eigene kapitalistische Industrie vermag nur schwer seine ökonomische und politische Unabhängigkeit gegenüber den Industrieländern zu behaupten, die ihm so vielfach überlegen sind. Daher versucht auch jedes Agrarland, seine eigene Großindustrie zu entwickeln.

Dies Streben nach einer eigenen Industrie, das ist jene Erscheinung, die Renner fälschlich als das naturnotwendige Streben jedes Wirtschaftsgebietes nach „Autarkie“, nach der Fähigkeit, sich selbst zu genügen, bezeichnet.

Äußerlich hat es den Anschein, als wäre beides gleichbedeutend: Wenn ein Agrarstaat sich eine Industrie schafft, erzeugt er nun nicht alles selbst, was er braucht, wahrend er früher seine Industrieerzeugnisse importieren musste? In Wirklichkeit besitzt nur der Agrarstaat die Fähigkeit zur Autarkie. Denn ihm fehlt nicht jede Industrie, er ist nur in dem Stadium, in dem die landwirtschaftliche Bevölkerung den größten Teil der industriellen Erzeugnisse, die sie braucht, in ihren eigenen Betrieben herstellt, so dass insofern noch keine Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft und Industrie hergestellt ist. Erst muss diese urwüchsige landwirtschaftliche Industrie verdrängt sein, ehe der Agrarstaat als Markt für eine großkapitalistische Industrie in Betracht kommt.

Dieser Vorgang bedeutet aber notwendigerweise rasch wachsende Abhängigkeit vom Weltmarkt, also das Gegenteil von Autarkie auch dann, wenn die Großindustrie im Agrarstaat selbst erstellt. Selbst ein Land, das über fast alle Rohmaterialien in reichstem Masse verfügt, steigert seit dein Aufkommen seiner Großindustrie seine Einfuhr wie seine Ausfuhr. So die Vereinigten Staaten. Ihre Einfuhr machte 1862 189 Millionen, 1892 827 Millionen, 1902 903 Millionen und 1912 1.653 Millionen Dollar aus, davon konsumreife Industrieprodukte für 360 Millionen Dollar (1862 für 109 Millionen), Rohmaterialien für die Industrie und Halbfabrikate 850 Millionen (1862 61 Millionen), Lebensmittel 426 Millionen (1862 89 Millionen).

Man kann ermessen, wie sehr die Abhängigkeit von anderen Gebieten durch die Entwicklung der Großindustrie in einem Lande wachsen muss, das nicht, wie die Vereinigten Staaten, Baumwolle und Kupfer, Eisen und Kohle in reichster Fülle selbst produziert.

Das Wachstum der Großindustrie bedeutet also nichts weniger als Zunahme der Autarkie, selbst wenn, wie in den Vereinigten Staaten, die Landwirtschaft dabei fortfahrt, den eigenen Bedarf zu decken, ja Überschüsse zu liefern. Aber das Wachstum der Großindustrie bedeutet erhöhte Kraft des Landes, sich im Wettbewerb der Volker nicht nur in der Ökonomie, sondern auch der Politik und der Wissenschaft zu behaupten.

Als Mittel zur Förderung dieses Strebens nach Entwicklung einer eigenen Großindustrie können die Schutzzölle dienen, wenn sie auch nicht unbedingt dazu notwendig sind.

Die kapitalistische Produktionsweise bedarf zu ihrem Gedeihen bestimmter Vorbedingungen – Sicherheit des Eigentums, eine geeignete Rechtsordnung, entwickelte» Verkehrswesen, eine gewisse Verbreitung von Kenntnissen im Volke, Einschränkung der Vergeudung des Mehrproduktes in unproduktivem Aufwand und dergleichen. Wo diese Bedingungen in ausreichendem Masse vorhanden sind, vermag sich der industrielle Kapitalismus auch bei freiem Handel oder niederen Schutzzöllen zu entwickeln, wie das Aufblühen der Industrie in der Zeit nach den napoleonischen Kriegen in der Schweiz und in Deutschland beweisen. Gute Volksschulen und geringe Heereslasten haben in der Schweiz das Aufkommen der modernen Industrie sehr begünstigt. Auch Deutschland wurde durch relativ gute Volksschulen begünstigt. Seine Heeresausgaben waren freilich reichlich, immerhin hat dort die lange Friedensperiode von 1815 bis 1866 mächtig zur Entwicklung der Industrie beigetragen, trotz der niedrigen Tarife des Zollvereines.

Aber in rückständigen Agrarstaaten, die sehr oft von einem kriegerischen, unwissenden Despotismus beherrscht werden, sind diese Bedingungen nicht immer leicht zu schaffen. Sie wirken stets langsam und kosten entweder Geld, wie Volksschulen, Straßenbauten etc., oder erheischen den Verzicht der herrschenden Klassen auf Prunk und Macht. Rasch und sofort wirken dagegen Schutzzölle, und sie belasten bloß die Volksmasse, den Kapitalisten bringen sie Extraprofite, den Herren des Staates neue Steuereinnahmen.

Unter den Maßnahmen zur Förderung der Industrie in einem rückständigen Lande stehen daher für die praktischen Staatsmänner in der Regel die Schutzzölle in erster Linie. Marx und Engels sowie deren Schüler haben denn auch ihre Bedeutung nie verkannt. Die „Schwärme von Vulgärmarxisten“, die sich durch das bloße Wörtchen „Freiheit“ für den absoluten Freihandel gewinnen Hessen, sind bloß eine Rennersche Schwärmerei. Wenn er nichts anderes sagen wollte, als auf die ökonomische Rolle von Erziehungszöllen hinweisen, hatte er gerade nichts Neues vorgebracht. Sonderbar bliebe es bloß, warum er zu diesem Zwecke den so irreführenden Umweg über das Handelskapital nahm. Irreführend waren seine Ausführungen über den Freihandel in ihrem Zusammenhang jedoch auch dann, wenn sie an sich richtig waren.

Denn die Frage der Handelspolitik, die die Sozialdemokratie heute beschaftigt, ist die des Freihandels oder Schutzzolls nicht in den Agrarländern, sondern in den Industrieländern.

Nur in diesen gibt es eine starke Sozialdemokratie, die die Handelspolitik zu beeinflussen vermag. In den Industrieländern hat aber der Schutzzoll langst aufgehört, als Erziehungszoll zu wirken. Er tritt jetzt stets im Verein mit Zöllen auf Lebensmittel und Rohstoffe auf, Zöllen, von denen die Befürworter des Erziehungszolls nichts wissen wollen. Die Aufgabe des Zolls ist eben im entwickelten Industrieland nicht mehr die Erleichterung des Aufkommens der Industrie im eigenen Lande, sondern bloß die Gewährung einer privilegierten Monopolstellung für die Industriellen sowie für die Produzenten der Rohstoffe und Lebensmittel, durch die sie erhöhte Profite und Grundrenten auf Kosten der Gesamtbevölkerung gewinnen, und die es ihnen gleichzeitig ermöglicht, kraft dieser Extraprofite an das Ausland billiger zu verkaufen als an das eigene Land, auf dem Weltmarkt andere Nationen zu unterbieten.

Das weiß Renner so gut wie wir. Er weiß aber auch, dass die Marxisten diese Veränderung im Charakter des Zolls seit langem erforscht haben. Schon 1888 wies Friedrich Engels in der Neuen Zeit darauf hin in einem Artikel über Schutzzoll und Freihandel. Ich habe später ebenfalls davon gehandelt. Unter den Jüngeren hat namentlich Hilferding den Gegenstand eingehend untersucht in seiner Abhandlung über den Funktionswechsel des Schutzzolls (Neue Zeit, XXI., 2, S. 274. Vgl. darüber noch Otto Bauer, Die Nationalitatenfrage, S. 404 ff. sowie Die Arbeiterklasse und die Schutzzölle, Neue Zeit, XXIII., 1, S. 536, endlich jüngst Karl Emil in der grundlegenden Artikelserie Handelspolitische Fragen, Neue Zeit, XXX., 1).

Dieser ganze „Schwarm von Vulgärmarxisten“ erklarte sich dem neuen Schutzzoll gegenüber unter allen Umständen für den Freihandel – natürlich bloß deshalb, weil in dem Wort die Silbe „frei“ vorkommt und weil sie nur den „beschämenden Ausweg“ wussten, sich mit den „abgelegten Schlagworten der bürgerlichen Freihandelsbewegung zu behelfen“. Schämt sich Renner denn gar nicht, gegen seine alten Freunde, mit denen er so eifrig zusammengearbeitet, von denen er so viel gelernt hat, so nichtsnutzige Anklagen zu erheben? Alles kann man bei ihm doch nicht mit Kriegspsychose erklären.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der moderne Schutzzoll der Industrieländer diese instand setzt, auf dem Weltmarkt eine Schleuderkonkurrenz zu entfalten, billiger zu verkaufen als Industrieländer, die den Freihandel akzeptiert haben. So weit die aufkeimende Industrie durch billige Zufuhren von dem Auslande gefährdet wird, kann auf diese Weise der Schutzzoll der Industrieländer für die industrielle Entwicklung der Agrarländer eine viel größere Gefahr werden als allgemeiner Freihandel. Der jetzige Schutzzoll der Industrieländer soll auch nach den Absichten seiner Propagandisten in derselben Richtung wirken, wie die Kolonialpolitik. Beide wollen die Agrarländer verhindern, dass sie zu einer selbständigen Großindustrie gelangen; sie wollen ein Mittel sein, jene Gebiete in ständiger Abhängigkeit von den großindustriellen Ländern zu erhalten – und „damit die allgemeine Kulturentwicklung zu verlangsamen“, welche Wirkung Renner dem Freihandel zuschreibt. (S. 213)

Am allerwenigsten kann die aufkeimende Industrie der Agrarländer durch den Freihandel dann bedroht werden, wenn sie selbst Schutzzölle eingeführt haben und nur die Industrieländer zum Freihandel übergehen. Und darum handelt es sich uns tatsächlich bei der heutigen Agitation für den Freihandel.

Wir verlangen den Freihandel in den Industriestaaten, ohne Rücksicht darauf, ob die Agrarstaaten auch ihre Zolle reduzieren. Nur eines muss der freihändlerische Staat in seinen Handelsvertragen mit anderen Staaten verlangen: die Meistbegünstigung, die Zusicherung, dass er in einem Lande nicht ungünstigeren Einfuhrzöllen unterworfen wird, als andere importierende Länder.

Sehr nett ist es, dass Renner dort, wo er die koloniale Eroberungspolitik verteidigt, es „tief unter der Marxschen Denkweise“ findet, wenn man die koloniale Ausbeutung und Knechtung bekämpft, oder wie er es bezeichnet, ihnen gegenüber einen „hilflos griesgrämigen, sittenrichterlichen Standpunkt bezieht“. Wo es dagegen gilt, den Freihandel zu verdächtigen, da entrüstet er sich gar sittenrichterlich-griesgrämig über ihn als „heuchlerischen Vorwand kolonialer Ausbeutung“. (S. 214)

Dieses Sittenrichtertum unterscheidet sich von dem der „Vulgärmarxisten“ allerdings dadurch, dass es den Tatsachen ins Gesicht schlagt.

Gemeint ist offenbar der englische Freihandel. Es ist zwar unsinnig, in ihm ein Mittel oder gar einen heuchlerischen Vorwand kolonialer Ausbeutung zu sehen, aber es passt ganz gut zu Renners sonstigen Äußerungen über England, von denen wir eine schon zitiert haben, wonach die angelsächsische Kapitalistenklasse die ausbeuterischste und herrschbegierigste Bourgeoisie der Welt ist. (S. 200)

Angesichts aller dieser Gedankengänge ist es wohl klar, welcher Art der „Antiimperialismus“ Renners ist, der für Schutzzölle und Kolonialpolitik eintritt, den Krieg als Mittel der Vereinigung der Nationen preist und eine Zukunft voraussieht, in der eine Herrennation, gleich ehedem der römischen, auf dem Wege kriegerischer Auslese „durch die Geschichte zum größten Organisationswerk berufen und von Rechts wegen die höchste Gewalt wird“. (S. 278)

Welches Volk damit gemeint ist, unterliegt keinem Zweifel:

„Unzweifelhaft ist, ökonomisch gesehen, Deutschland heule das neueste, das vorbildliche Staatswesen, und nicht England oder gar Frankreich.“ (S. 104.)

Einen derartigen Antiimperialismus können sich die Imperialisten wohl gefallen lassen.

Um ihre Politik wirksam zu betreiben, brauchen sie die Gefolgschaft der Arbeiter. Die blieb ihnen bisher versagt. Vor Jahren versuchte es Naumann, die Proletarier Deutschlands für den Imperialismus zu gewinnen. Sie Hessen seinen Versuch der Begründung einer nationalsozialen Partei scheitern, obwohl er nicht einmal Schutzzöllner war, sondern dem Freihandel anhing.

Otto Bauer schrieb darüber vor zehn Jahren:

„Die Arbeiterklasse ward überall des Imperialismus Feind ... So ist auch im Deutschen Reiche der von tüchtigen Männern unternommene Versuch, die deutschen Arbeiter dem Gedanken des Imperialismus zu gewinnen, schmählich gescheitert.

Naumann war ausgezogen, die Sozialdemokratie abzulösen, die Arbeiterklasse dem Gedanken der kapitalistischen Machtpolitik zu erobern; er landete in der freisinnigen Vereinigung, der Partei der deutschen Banken, Börsen und Großhändler. Der Imperialismus Naumanns war übrigens freihändlerisch ... Die Konsequenz, die Naumann nicht zog, hat Schippel gezogen. Wenn er Schutzzölle befürwortet, wenn er die ,Milizgläubigen‘ verhohnt, über die ‚dogmatische‘ Ablehnung der Kolonialpolitik spöttelt, rät er den deutschen Arbeitern zu einer imperialistischen Politik. Im Vergleich zu Naumann hat seine Politik den Vorzug der Konsequenz; nur wäre sie freilich nicht proletarische, sondern kapitalistische, nicht sozialdemokratische, sondern nationalliberale Politik.“ (Die Nationalitätenfrage, S. 490, 491)

Das, was Otto Bauer damals nationalliberale Politik nannte, das ist heute die Politik Renners. Der Fortschritt, den er gemacht hat, besteht darin, dass sie durch ihn nicht mehr als antimarxistische betrieben wird, sondern dass er sie als die höchste Blüte eines geläuterten Marxismus dem Proletariat anpreist, dessen Vertrauen zu Marx und dem Marxismus auf diese Weise dem Imperialismus dienstbar gemacht würde, wenn es Rennens Lehre kritiklos hinnähme.


Zuletzt aktualisiert am 3. September 2016