Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


Vorwort


Nach der Revolution vom 9. November 1918 ersuchten mich die Volksbeauftragten, als beigeordneter Staatssekretär in das Auswärtige Amt einzutreten. Eine der ersten Aufgaben, die ich mir stellte, ging dahin, mich zu vergewissern, ob in seinem Archiv belastendes Material beiseite geschafft worden sei, wie damals vielfach befürchtet wurde. Ich konnte nichts bemerken, was diesen Verdacht bestätigt hätte. Schon die ersten Stichproben zeigten mir vielmehr, daß wichtiges Material da war. Ich schlug den Volksbeauftragten vor, die Akten zunächst über den Kriegsausbruch herauszugeben. Das seien wir dem deutschen Volke schuldig, das Anspruch darauf habe, die Wahrheit über seine bisherigen Staatslenker zu erfahren. Das sei auch notwendig, weil es dem mißtrauischen Auslande gegenüber am deutlichsten den völligen Bruch des neuen Regimes mit dem alten zum Ausdruck bringe.

Die Volksbeauftragten stimmten mir zu und betrauten mich mit der Sammlung und Herausgabe der Akten. Meine bisherige Haltung werde dafü;“ bürgen, daß ich kein unbequemes Material unterschlage. Gewünscht wurde nur, daß ich nicht die einzelnen Akten sofort, nachdem ich sie gefunden, vor die Öffentlichkeit bringe, wie es Eisner getan, sondern daß sie erst herauskommen sollten, wenn sie vollzählig gesammelt vorlägen. Das war politisch nicht ganz erwünscht, weil es die Veröffentlichung und ihre günstigen Wirkungen für das neue Regime im Inund Auslande hinausschob. Aber es schnitt die Einrede der Verfechter des alten Regimes ab, als habe man es bloß mit tendenziös ausgelesenen und aus dem Zusammenhang gerissenen Dokiunenten zu tun, die keine Beweiskraft hätten.

Dem Gewicht dieser Auffassung verschloß ich mich nicht und danach verfuhr ich.

Als im Dezember meine Parteigenossen Barth, Dittmann und Haase aus der Regierung austraten, verzichtete auch ich auf meine Stellung als beigeordneter Staatssekretär, erklärte mich jedoch bereit, die Sammlung und Herausgabe der Kriegsakten auch weiterhin zu besorgen. Darauf erhielt ich die Zuschrift vom 4. Januar:

Werter Genosse!

Auf Ihr Schreiben vom 2. Januar erwidere ich Ihnen, daß die Reichsregierung Sie bittet, Ihre Tätigkeit als Mitherausgeber der Akten über den Kriegsausbruch auch weiterhin ausüben zu wollen.

Die Reichsregierung
Ebert.

Das Wort „Mitherausgeber“ bezieht sich darauf, daß kurz vorher nach dem Usus jener Wochen, jede höhere Stellung doppelt mit einem Rechtssozialisten und einem Unabhängigen zu besetzen, man Quarck mir zur Seite gestellt hatte.

Der Usus hörte nach dem Ausscheiden der Unabhängigen aus der Regierung auf und damit nahm bald auch die „Mitherausgeberschaft“ Quarcks ein Ende und ich stand als alleiniger Herausgeber da.

Natürlich besorgte ich nicht die ganze große Arbeit allein. Ehe ich noch andere Hilfskräfte heranzog, stand mir meine Frau getreulich zur Seite, die ja schon seit Jahrzehnten mit Rat und Tat fast an jedem meiner Werke beteiligt ist. Doch bald wurde ein eigenes Bureau zur Besorgung der Herausgabe notwendig.

Sie war zu beschleunigen und ich hatte neben ihr in der Sozialisierungskommission und mit schriftstellerischen Arbeiten zu tun. Quarck und ich wendeten uns daher schon im Dezember an Dr. Gustav Mayer mit der Bitte, seine Arbeitskraft für die Zwecke der Sammlung und Ordnung der Akten in höherem Maße zur Verfügung zu stellen, als ich selbst es vermochte. Er willigte gern ein, trotzdem auch er manche ihm liebe Arbeit deshalb liegen lassen mußte. Auf seine Anregung zogen wir namentlich für die archivalische Arbeit noch Dr. Hermann Meyer, Archivar beim Geheimen Staatsarchiv heran, dann Anfang Februar zur Beschleunigung des Abschlusses der Arbeit, angesichts des sich häufenden Materials noch Dr. Richard Wolff und Frl. N. Stiebel, cand. hist.

Ich empfinde es als meine Pflicht, ihnen allen, namentlich den beiden erstgenannten Herren für ihre hingebende wertvolle Arbeit an dem großen Unternehmen herzlichst zu danken.

Sie setzte mich in die Lage, dem Grafen Brockdorff-Rantzau am 26, März mitzuteilen, daß die Sammlung im Wesentlichen fertig vorliege urtd sofort in Satz gegeben werden könne. Wohl waren noch eine Reihe von Feststellungen zu machen, da sich z.B. nicht bei jedem Dokument die Zeit seines Einlaufens oder seiner Absendung ohne weiteres genau konstatieren ließ. Doch konnten diese und andere Ergänzungen, wie Register u. dergl, auch während des Satzes noch eingefügt werden.

Mit der Drucklegung durfte nicht mehr gezögert werden, wenn man noch vor Beginn der Friedensverhandlungen der Welt die offenbarste Bekundung dafür vorlegen wollte, daß die deutsche Regierung, von der diese Verhandlungen geführt wurden, nicht das mindeste gemein habe mit jener, die den Krieg erklärt.

Die Regierung faßte die Sache offenbar anders auf, Sie schob die Herausgabe hinaus und veröffentlichte statt der Dokumente einen Bericht über den Kriegsausbruch im Weißbuch von Juni 1919, auf das in dem vorliegenden Buch noch Bezug genommen wird und das alles andere eher als einen Bruch mit der Politik des gestürzten Regimes erkennen ließ.

Während meine Mitarbeiter und ich die Aufforderung erwarteten, an die Drucklegung der Sammlung heranzutreten, waren wir weiter mit der Feilung und Ergänzung des Materials beschäftigt. Aber als immer mehr die Aussichten schwanden, daß die Regierung bald die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Akten gebe, vermochte ich meine Mitarbeiter, auf die andere, dringende Pflichten warteten, nicht länger zusammenzuhalten, Sie schlössen im Beginn des Mai ihre Arbeit an den Akten ab, doch durfte ich darauf rechnen, daß sie sich sofort wieder einfinden würden, sobald endlich der Auftrag zur Drucklegung erteilt wäre.

Doch ließ dieser auch nach der Unterzeichnung des Friedens noch auf sich warten.

Endlich in der Mitte des September wurde ich eines schönen Tages in der Angelegenheit der Akten telephonisch angerufen, nicht vom Auswärtigen Amt, sondern von einer Zeitung, die mich fragte, ob es wahr sei, daß die Herren Mendelssohn, Montgelas und Schücking meine Sammlung herausgeben sollten, und nicht ich. Ich konnte darauf bloß antworten, daß ich davon weniger wisse, als diie Zeitung selbst. Ich habe die Tatsache nur aus den Zeitungen erfahren.

Die Regierung war wirklich so illoyal gewesen, die Herausgabe der vcn mir unternommenen und unter meiner Leitimg durchgeführten Sammlung von Akten anderen zu übergeben, ohne mich auch nur davon zu verständigen.

Welche Gründe man hatte, mich auszuschiffen, ist mir bis heute noch nicht klar geworden. Die Regierung hat nie welche angegeben.

Um so mehr erregte ihr Vorgehen so böses Blut, daß sie sich gezwungen sah, einzulenken. Die Herren Prof, Schücking und Graf Montgelas wendeten sicah Ende September an mich, mit der Versicherung, daß das, was sie herauszugeben gedächten, ausschließlich meine Sammlung sei, an der ohne meine Zustimmung keine Zeile geändert werden solle. Auch wollte man mir jede Möglichkeit der Überwachung des Drucks geben. Sie baten mich, die Ausgabe gutzuheißen.

Die beiden Herren hatten danach im Wesentlichen nur die Aufgabe, meine Arbeit einer Kontrolle zu unterziehen, die ich nicht zu scheuen brauchte, und jene Kleinarbeit zu verrichten, die mit der Drucklegung eines Werkes dieser Art notwendigerweise verbunden ist und die ich ihnen gerne überließ.

Da mir nichts an meiner Persönlichkeit, um so mehr an der Sache liegt, sah ich also keine Veranlassung, mich in den Schmollwinkel zu stellen, und ich erklärte mich bereit, mitzuwirken unter der Bedingung, daß die Drucklegung sofort in Angriff genommen werde.

Auch das wurde mir zugesagt und so erscheint jetzt endlich die schon fast sagenhaft gewordene Sammlung der Dokumente des Auswärtigen Amtes über den Kriegsausbruch.

Während der Arbeit hatte ich mich natürlich nicht damit begnügt, ein Dokument an das andere zu reihen. Es drängte mioh, alle die Aufschlüsse, die mir die große Masse von fast 900 Aktenstücken bot in einen inneren Zusammenhang zu bringen und ihren Zusammenhang mit dem übrigen, bisher schon bekannten Material über den Kriegsausbruch herzustellen. Ich tat es nicht als Ankläger, sondern als Geschichtsschreiber, der erforschen will, wie die Dinge gekommen sind.

Diese Arbeit unternahm ich zunächst bloß zu meiner Selbstverständigung, Ein Historiker kann nicht Quellen sammeln, ohne sie auch innerlich zu verarbeiten. Doch je mehr die Arbeit voranschritt, um so reger wurde in mir der Wunsch, sie nicht bloß für mich zu machen, sondern auch für das große Publikum, das weniger Zeit und meist auch Gelegenheit haben dürfte, als ich, die ungeheure Menge des Materials sorgsam durchzuarbeiten.

So entwickelte sich allmählich das vorliegende Buch. In wesentlichen Teilen ist es schon seit Monaten fertig, doch habe ich seine Herausgabe immer wieder hinausgeschoben, was auch stete Zufügungen und Umarbeitungen durch das Auftauchen neuen Materials erforderlich machte, so namentlich durch das deutsche Weißbuch vom Juni und die Publikationen des Herrn Dr. Gooß.

Es kostete mich viel Selbstverleugnung, mit meiner Schrift nicht herauszukommen angesichts der Flut von Enthüllungen über den Krieg, die in den letzten Monaten hereinbrach. Da zu schweigen, wo ich so viel zu sagen gehabt hätte, war nicht leicht.

Ich hätte mich wohl berechtigt gefühlt, angesichts des steten Zaudems der Regierung, mein Buch erscheinen zu lassen, nodi ehe sie sich zur Publikation der längst gesammelten Akten entschloß.

Ich hatte in dem Archiv des Auswärtigen Amtes nicht gearbeitet als sein Beamter, sondern als freier Historiker, seitdem ich aufgehört hatte, als beigeordneter Staatssekretär zu fungieren. Beweis dafür die Tatsache, daß ich seitdem kein Gehalt und auch keine sonstige Entschädigung von der Regierung bezogen habe.

Ein Historiker, der ein Archiv benutzt, ist keinem Vorgesetzten Rechenschaft darüber schuldig, welchen Gebrauch er von den Früchten seiner Arbeit macht.

Wenn ich trotzdem schwieg, geschah es nicht aus einer juristischen, sondern einer politischen Erwägung. Der ganze politische Vorteil, den die Herausgabe der Akten für die Beurteilung des deutschen Volkes durch seine bisherigen Gegner haben konnte, war nur zu erwarten, wenn die Veröffentlichung durch die Regierung, nicht gegen sie erfolgte. Wohl wäre sie auch in letzterem Falle geboten gewesen, schon aus Gründen der inneren Politik. Aber solange die Möglichkeit bestand, daß die Regierung selbst die Akten erscheinen ließ, wollte ich ihr nicht mit der Publizierung meiner Verarbeitung des Materials zuvorkommen.

Nun erscheinen sie tatsächlich und damit ist für mich jeder Grund entfallen, weiter zu warten.

Kein Zweifel, meine Auffassungen werden viel umstritten werden -es gibt keine Auffassung dieses Krieges, die allseitige Zustimmtmg gefunden hätte. Und keine Sprache ist zweideutiger und mehr auf das Lesen zwischen den Zeilen berechnet, keine mannigfacherer Deutungen fähig als die der Diplomaten, mit denen wir es hier fast ausschließlich zu tun haben. Nur der Kaiser befleißigt sich keiner diplomatischen Ausdrucksweise. Sie läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und seine Randglossen gewähren das seltene Vergnügen, daß da,s Volk einmal einen Kaiser in Unterhosen zu sehen bekommt.

Doch trotz aller diplomatischen Verschlagenheit haben die österreichischen Dokumente eine nahezu einmütige Auffassung von der Schuld der österreichischen Staalskunst gezeitigt. Wer dazu gelangt ist, diese richtig einzuschätzen, für den kann nach der Sprache der deutschen Dokumente auch die Entscheidung über die deutsche Staatskunst nicht schwer fallen.

Die Verführung lag nahe, angesichts der heutigen Klarheit zu zeigen, wie sehr das deutsche Volk von jenen irregeführt worden ist, die namentlich aus den Reihen der Rechtssozialisten, meine und meiner Freunde Haltung während des Krieges auf das heftigste angegriffen und die stärkste Apologetik der Kriegspolitik der wilhelminischen Regierung geliefert hatten. Ihre Auffassung ist heute wahrhaftig nur ein Scherbenhaufen.

Aber eben deshalb hat es kaum noch einen Zweck, sich heute mit den David und Heilmann usw. darob herumzuschlagen, auch würde die Straffheit der Darstellung darunter leiden, und es war zu befürchten, daß die Schrift, die sich an alle wendet, denen die Wahrheit über die Entstehung des Krieges am Herzen liegt, durch eine derartige Polemik einen parteipolitischen, ja persönlichen Charakter bekam, den ich vermieden wissen wollte. Ich bin daher nur dort polemisch geworden, wo es im Interesse der Klarlegung der Verhältnisse lag, im übrigen aber jeder Rekrimination aus dem Wege gegangen.

Daß die vorliegende Schrift mir indes neue Polemiken einbringen wird, darauf bin ich gefaßt.

Wie immer man sich zu ihr stellen mag, auf jeden Fall möge man eines bei der Lesung der hier veröffentlichten Dokumente stets im Auge behalten: Sie bezeugen Gedanken und Handlungen deutscher Staatsmänner, nicht des deutschen Volkes, Soweit dieses eine Schuld trifft, kann sie nur darin liegan, daß es der äußeren Politik seiner Lenker zu wenig Beachtung schenkte. Das ist aber ein Vergehen, das das deutsche Volk mit allen andern Völkern teilt. Vergebens hat Marx schon vor mehr als einem halben Jahrhundert bei der Begründung der ersten Internationale die „Pflicht der arbeitenden Klassen“ proklamiert, „selber die Mysterien der internationalen Staatskunst zu bemeistern, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen.“

Das ist bisher nur höchst unzureichend geschehen. Der jetzige Krieg mit seinen grauenvollen Konsequenzen weist gebieterischer als je auf diese „Pflicht der arbeitenden Klassen“ hin.

Als ein Teilchen unserer Pflichterfüllung betrachte ich vorliegende Arbeit.

 

Berlin, 1. November 1919,
            K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008