Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


6. Die Lage vor dem Kriege


Die Verteidiger des alten Regimes meinen, man müsse bei der Untersuchung der Schuldfrage nicht bloß die letzten Wochen vor dem Kriege heranziehen, sondern auch die Jahre vorher in Betracht nehmen. Wie man sieht, wird seine Position dadurch keineswegs verbessert.

Schon jahrelang vor dem Weltkrieg war die Politik der Zentralmächte eine solche, daß der Weltfriede nicht durch sie, sondern nur noch trotz ihnen erhalten blieb. Diese Politik nahm zuerst bestimmte Formen unter Leitung Bülows an, sie wurde fortgesetzt von Bethmann Hollweg, unter dem sie zur Katastrophe führte. Es bleibe ununtersucht, inwieweit diese Mämier dabei als Triebkraft tätig waren, wieweit als bloße Handlanger ihres Herrn, der selbst wieder von seiner Umgebung geschoben war, so sehr er sich einbilden mochte, die ganze ungeheure Reichsmasse zu schieben. Dieser bestimmte Zusammenhang wird nicht aufgehoben durch einen Hinweis auf die allgemeinen imperialistischen Tendenzen des Zeitalters, die sich in allen Staaten zeigten. Andererseits aber darf man diesen bestimmten Zusammenhang nicht zu einer Generalisation in der Art erweitem, als gehöre es etwa zu den Natureigenschaften des deutschen Volkes, nach der Weltherrschaft zu streben und durch brutale Gewalt um seine Ziele zu ringen.

Imperialistische Tendenzen finden sich bei allen kapitalistischen Regierungen der Großmächte. Ob sie die eine oder andere dieser Regierungen veranlassen, einen Krieg zu entzünden, hängt ab von der Gelegenheit, der internationalen Lage, den Machtmitteln, sowohl den eigenen wie denen der Bundesgenossen und nicht zum wenigsten auch von der inneren Lage, vor allem der politischen Kraft und Selbständigkeit der Arbeiterklasse.

Nicht immer waren es Deutschland und Österreich, die den Weltfrieden gefährdeten. Im Jahre 1902 veröffentlichte ich eine Schrift über Die soziale Revolution. Dort bemerkte ich:

„Die einzige Friedensbürgschaft liegt heute in der Angst vor dem revolutionären Proletariat. Es bleibt abzuwarten, wie lange diese den sich häufenden Konfliktsursachen gegenüber standhalten wird. Und es gibt eine Reihe von Mächten, die noch kein selbständiges revolutionäres Proletariat zu fürchten haben, und manche von ihnen werden völlig von einer skrupellosen, brutalen Clique von Männern der hohen Finanz beherrscht. Diese Mächte, bisher in der internationalen Politik unbedeutend oder friedliebend, treten jetzt ah internationale Störenfriede immer mehr hervor. So vor allem die Vereinigten Staaten, daneben England und Japan. Rußland figurierte ehedem in der Liste der internationalen Störenfriede an erster Stelle, sein heldenmütiges Proletariat hat es augenblicklich von ihr abgesetzt. Aber ebenso wie der Übermut eines im Innern schrankenlosen Regimes, das keine revolutionäre Klasse in seinem Rücken scheut, kann auch die Verzweiflung eines wankenden Regimes einen Krieg entzünden, wie es 1870 bei Napoleon III. der Fall war und vielleicht noch bei Nikolaus II. der Fall sein wird. Von diesen Mächten und ihren Gegensätzen und nicht etwa von dem zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Österreich und Italien, droht heute dem Weltfrieden die größte Gefahr.“ (I, S.53.)

Das wurde geschrieben unter dem Eindruck des Krieges der Japaner gegen China (1894), der Amerikaner gegen Spanien (1898), der Engländer gegen die Buren (1899–1902). Und der Krieg zwischen Rußland imd Japan bereitete sich bereits vor. Wohl war auch die neue deutsche Weltpolitik schon eingeleitet, aber noch zeigte sie nicht ihre Gefährlichkeit. Doch in den späteren Auflagen meiner Schrift habe ich den hier zitierten Passus gestrichen, denn inzwischen zeitigte die deutsche Politik ihre Konsequenzen, und in dem Maße, als diese mehr zutage traten, hörten die früheren internationalen Störenfriede auf, als solche zu wirken und traten die Zentralmächte an ihre Stelle.

Betrachtet man die imperialistischen Tendenzen als unmoralische und glaubt man, daß es sich bei der Entscheidung der Schuldfrage um ein moralisches Urteil handle, dann mag man mit Recht darauf hinweisen, daß Mönch und Rabbi, Zentralmächte und Entente, beide stinken. Anders steht es, wenn man die Frage der Schuld am Kriege nicht als eine der Moralität, sondern der Kausalität auffaßt und fragt, welche bestimmte Politik diesen bestimmten Krieg hervorgerufen hat. Dann wird man vielleicht nicht zu einer moralischen, sicher aber zu einer politischen Verurteilung bestimmter Personen und Institutionen kommen. Indes auch nur dieser, nicht etwa des gesamten Volkes, das von ihnen beherrscht wurde und das nach ihrer Beseitigung naturgemäß ganz andere Tendenzen entwickeln muß.

Der deutsche Professor hat das deutsche Volk in den Zeiten seiner größten militärischen Kraft verhaßt, in den Zeiten seiner Niederlage lächerlich gemacht, wenn er es als ein Volk idealer Helden hoch über die Engländer stellte, von denen er verächtlich als einem Volke schmutziger Händler sprach. Aber ebensowenig, wie die Deutschen mehr Helden sind, als ein anderes Volk, sind sie mehr händelsüchtige Raufbolde als ihre Gegner im Weltkriege. Eines ist allerdings zuzugeben:

Zeigten die Gegner Deutschlands zeitweise dieselben imperialistischen Tendenzen, dieselbe Neigung zu Krieg und Eroberung, waren sie Deutschland also moralisch nicht überlegen, so doch intellektuell, trotz des deutschen Professors.

Sie verstanden, namentlich die Engländer und Amerikaner, sehr gut zu rechnen. Sie trieben im Zeitalter des Imperialismus eine aggressive Kriegspolitik nur dort, wo sie das eigene Land nicht gefährdete. Sie waren zu kluge Geschäftsleute, um einen Krieg unter Bedingungen heraufzubeschwören, unter denen er sie ruinieren konnte. Sie waren solide Kapitalisten und nicht Va-banque-Spieler. Und darum ist es falsch, daß das Finanzkapital notwendigerweise kriegerische Gelüste und Kriegsgefahren mit sich bringt. Das tut es nur unter ganz bestimmten Bedingungen.

Einzig das deutsche Finanzkapital wuchs in einer Weise auf, die es aufs engste mit dem machtvollsten und siegessichersten Militarismus der Welt verband. Die angelsächsischen Staaten kannten bis zum Weltkriege überhaupt keinen Militarismus. Frankreich und Rußland hatten davon mehr als genug, aber besonders siegessicher fühlt er sich gerade nicht nach den zerschmetternden Niederlagen einmal von 1870–71 und dann von 1904–05.

Die Verbindimg mit dem stärksten und übermütigsten Militarismus der Welt ließ das deutsche Finanzkapital alles nüchterne Rechnen vergessen. Nur so wurde es möglich, daß es eine Politik nicht mir mitmachte, sondern sogar mit aller Kraft vorantrieb, die Deutschland völlig isolierte und dabei seine Nachbarn immer stärker provozierte. Es verlor jeden Sinn für das ökonomisch Mögliche und trieb seinen Don Quixotc, den Militarismus, in den Kampf gegen die Windmühlen der Entente, in dem nicht nur der kampffrohe Ritter, sondern auch sein vertrauender Sancho Pansa auf dem Platze bleiben mußten, zerschunden und zerschlagen.


Zuletzt aktualisiert am: 25.11.2008