Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


11. Die Verschwörer an der Arbeit


Wilhelms Drängen

Wie die harmlose Unterhaltung über „die politische Lage“ am 5. Juli in Potsdam auf die österreichische Regierung wirkte, bekundete diese schon im Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten vom 7. Juli, dessen Protokoll jetzt veröffentlicht wurde. (Rotbuch 1919, S.25–38.)

Berchtold begann damit, zu erklären, daß der Moment gekommen sei, Serbien „für immer“ unschädlich zumachen. Dazu habe er mit der deutschen Regierung Fühlung genommen, diese habe für den Krieg mit Serbien ihre unbedingte Unterstützung zugesichert.

„Er sei sich klar darüber, daß ein Waffengang mit Serbien des Krieg mit Rußland zur Folge haben könnte.“

Aber lieber jetzt als später, denn Rußland werde auf dem Balkan immer stärker.

Tisza stimmte zu, daß ein Krieg mit Serbien möglich geworden sei, aber er sei weder für den Krieg unter allen Umständen, noch für die Kriegserklärung ohne diplomatische Vorbereitungen:

„Er würde niemals einem überraschenden Angriff auf Serbien ohne vorhergehende diplomatische Aktion zustimmen, wie dies beabsichtigt zu sein scheine, und bedauerlicherweise auch in Berlin durch den Grafen Hoyos besprochen wurde.“

Also man hatte in Berlin sogar den Fall besprochen, daß an Serbien ohne jedes Ultimatum der Krieg erklärt würde. Das wurde durch Tisza verhindert, der zu gut erkannte, daß man sich damit von vornherein ins Unrecht setzte. Er wollte ein Ultimatum, aber ein erfüllbares. Wenn Serbien es akzeptiere, habe man einen großen diplomatischen Erfolg errungen, mit dem man sich zufriedengeben könne.

Nach langen Erörterungen konnte zum Schlüsse konstatiert werden:

„1. daß alle Versammelten eine tunlichst rasche Entscheidung des Streitfalles mit Serbien im kriegerischen oder friedlichen Sinne wünschen,

2. daß der Ministerrat bereit wäre, sich der Ansicht des kgl. ungarischen Ministerpräsidenten anzuschließen, wonach erst mobilisiert werden sollte, nachdem konkrete Forderungen an Serbien gerichtet und dieselben zurückgewiesen sowie ein Ultimatum gestellt worden ist.

Dagegen sind alle Anwesenden mit Ausnahme des kgl. ung. Ministerpräsidenten der Ansicht, daß ein rein diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer diplomatischen Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre und daß daher solche weitgehenden Forderungen an Serbien gestellt werden müßten, die eine Ablehnung voraussehen ließen, damit eine radikale Lösung im Wege militärischen Eingreifens angebahnt würde.“

Dieses saubere Plänchen war die Folge der Besprechungen der „politischen Lage“ in Potsdam vom 5. Juli. Es wurde sofort nach Berlin gemeldet, in dem Bericht Tschirschkys vom 8. Juli, in dem es unter anderem hieß:

„Graf Berchtold meinte, er würde seinem Kaiser, falls sich dieser der Ansicht anschließen sollte, daß zunächst Forderungen an Serbien zu stellen seien jedenfalls raten, die Forderungen so einzurichten, daß deren Annahme ausgeschlossen erscheine.“

Darüber war man also in Berlin von Anfang an unterrichtet.

Wilhelm billigte nicht bloß diese Politik, er drängte auf ihre baldige Durchführung, Das bezeugen schon seine Bemerkungen zu Tschirschkys Berichten aus Wien.

Dieser teilt am 10. Juli mit:

„Ganz geheim.

„Über seinen gestrigen Vortrag bei S.M. dem Kaiser Franz Josef in Ischl teilt mir Graf Berchtold nachstehendes mit:

„S.M. der Kaiser habe mit großer Ruhe die Sachlage besprochen. Zunächst habe er seinem lebhaften Dank Ausdruck gegeben für die Stellungnahme unseres Allergnädigsten Herrn und der kaiserlichen Regierung und geäußert, er sei ganz unserer Ansicht, daß man jetzt (von Wilhelm unterstrichen, K.) zu einem Entschluß kommen müsse (da Sr. M. Promemoria etwa 14 Tage alt ist, so dauert das sehr lang! Das ist doch eigentlich zur Begründung des Entschlusses selbst entworfen. W.), um den unleidlichen Zuständen Serbien gegenüber ein Ende zu machen. Über die Tragweite eines solchen Entschlusses fügt Graf Berchtold hinzu, sei sich S.M. völlig klar.

Der Minister hat hierauf dem Kaiser Kenntnis gegeben von den zwei Modalitäten, die in bezug auf das nächste Vorgehen gegen Serbien hier in Frage ständen. S.M. hätten gemeint, es ließe sich vielleicht dieser Gegensatz überbrücken. Im Ganzen hätten aber S.M. eher der Ansicht zugeneigt, daß konkrete Forderungen an Serbien zu stellen sein würden (Aber sehr! und unzweideutig! W.). Er, der Minister wolle auch die Vorteile eines solchen Vorgehens nicht verkennen. Es würde damit das Odium einer Überrumpelung Serbiens, das auf die Monarchie fallen würde, vermieden und Serbien ins Unrecht gesetzt werden. Auch würde dieses Vorgehen sowohl Rumänien als auch England eine wenigstens neutrale Haltung sehr erleichtern.

Die Formulierung geeigneter Forderungen gegenüber Serbien bildet gegenwärtig hier die Hauptsorge (Dazu haben sie Zeit genug gehabt! W.). Graf Berchtold sagte, er würde gerne wissen, wie man in Berlin darüber denke. Er meinte, man könnte unter anderem verlangen, daß in Belgrad ein Organ der österr.ungarischen Regierung eingesetzt werde, um von dort aus die großserbischen Umtriebe zu überwachen, eventuell auch die Auflösung von Vereinen und Entlassung einiger (der! W.) kompromittierter Offiziere. Die Frist zur Beantwortung müsse möglichst kurz bemessen werden, wohl 48 Stunden. Freilich würde auch diese kurze Frist genügen, um sich von Belgrad aus in Petersburg Weisungen zu holen (Hartwig ist tot! W.). Sollten die Serben alle gestellten Forderungen annehmen, so wäre das eine Lösung, die ihm „sehr unsympathisch“ wäre und er sinne noch darüber nach, welche Forderungen man stellen könne, die Serbien eine Annahme völlig unmöglich machen würden. (Den Sandschak räumen! Dann ist der Krakeel sofort da! Den muß Österreich unbedingt sofort wieder haben, um die Einigung Serbiens und Montenegros und das Erreichen des Meeres seitens der Serben zu hindern. W.)

Der Minister klagte schließlich wieder über die Haltung des Grafen Tisza, die ihm ein energisches Vorgehen gegen Serbien erschwere. Graf Tisza behaupte, man müsse gentlemanlike vorgehen (Mördern gegenüber, nach dem was vorgefallen ist? W.), das sei aber, wenn es sich um so wichtige Staatsinteressen handle und besonders einem Gegner wie Serbien gegenüber schwerlich angebracht.

Der Anregung der kaiserlichen Regierung, schon jetzt die öffentliche Meinung im Inlande im Wege der Presse gegen Serbien zu stimmen, – worüber Graf Szögyeny telegraphiert hat – wird der Minister gern folgen. Nur müsse dies, seiner Meinung nach, vorsichtig gemacht werden, um Serbien nicht vorzeitig zu alarmieren.

Der Kriegsminister wird morgen auf Urlaub gehen, auch Freiherr Conrad v. Hötzendorf Wien zeitweilig verlassen. Es geschieht das, wie Graf Berchtold mir sagte, absichtlich (kindisch! W.), um jeder Beunruhigung vorzubeugen. (Ungefähr wie zur Zeit der Schlesischen Kriege. „Ich bin gegen die Kriegsräthe und Beratungen, sintemalen die timidere Parthey allemal die Oberhand hat.“ Friedrich der Große. W.)“

Man sieht aus Wilhelms Randglossen seine Zustimmung dazu, daß Serbien ein Nachgeben unmöglich gemacht werde, aber auch seine Ungeduld, daß Österreich noch nicht losgehe. Endlich, am 13. Juli schien die träge österreichische Masse in Bewegung zu kommen. Tschirschky berichtet:

„Minister (Berchtold. K.) ist jetzt selbst überzeugt, daß schnellstes Handeln geboten ist. (von Wilhelm doppelt unterstrichen. K.) Er hofft morgen mit Tisza über Wortlaut der an Serbien zu richtenden Note ins Reine zu kommen, würde diese dann Mittwoch, den 15. Juli dem Kaiser in Ischl unterbreiten, worauf dann unverzüglich – mithin noch vor der Abreise Poincarés nach Petersburg – Übergabe in Belgrad erfolgen könnte.“

Der Zufall wollte es nämlich, daß gerade in jenen Tagen der Präsident der französischen Republik dem Zaren in dessen Hauptstadt einen Besuch abstattete. Ehe noch Poincaré die Reise antrat (es geschah am 15, Juli abends), sollte die Note an Serbien abgehen.

Aber so schnell vermochten die Österreicher doch nicht zu schießen. Indes verzeichneten Berchtold und Wilhelm zunächst den Triumph, daß Tisza sich zu ihnen bekehrte.

Tschirschky telegraphiert am 14. Juli „ganz geheim“:

„Graf Tisza suchte mich heute nach seiner Besprechung mit dem Grafen Berchtold auf. Der Graf sagte, er sei bisher stets derjenige gewesen, der zur Vorsicht gemahnt habe, aber jeder Tag habe ihn nach der Richtung hin mehr bestärkt, daß die Monarchie zu einem energischen Entschluß kommen müsse (unbedingt! W.), um ihre Lebenskraft zu beweisen und den unhaltbaren Zuständen im Südosten ein Ende zu machen. Die Sprache der serbischen Presse und der serbischen Diplomaten sei in ihrer Anmaßung geradezu unerträglich. ‚Ich habe mich schwer entschlossen‘, meinte der Minister, ‚zum Kriege zu raten, bin aber jetzt fest von dessen Notwendigkeit überzeugt und ich werde mit aller Kraft für die Größe der Monarchie einstehen!‘

Glücklicherweise herrsche jetzt unter den hier maßgebenden Persönlichkeiten volles Einvernehmen und Entschlossenheit. S.M. Kaiser Franz Josef beurteile, wie auch Baron Burian, der S.M. noch dieser Tage in Ischl gesprochen hat, berichte, die Lage sehr ruhig und werde sicher bis zum letzten Ende durchhalten. Graf Tisza fügte hinzu, die bedingungslose Stellungnahme Deutr.chlcnds zur Monarchie sei entschieden für die feste Haltung des Kaisers von großem Einfluß gewesen.

Die an Serbien zu richtende Note soll heute noch nicht in ihrem letzten Wortlaut festgestellt werden. Dies werde erst Sonntag (19. Juli) geschehen. In betreff des Zeitpunktes der Übergabe an Serbien sei heut beschlossen worden, lieber bis nach der Abreise Poincares aus Petersburg zu warten, also bis zum 25. (wie schade! W.) Dann aber würde sofort nach Ablauf der Serbien gestellten Frist, falls dieses nicht unbedingt alle Forderungen annehmen sollte, die Mobilmachung erfolgen. Die Note werde so abgefaßt sein, daß deren Annahme so gut wie ausgeschlossen sei. (von Wilhelm zweimal unterstrichen, K.) Es käme darauf an, nicht nur Versicherungen und Versprechungen zu fordern, sondern Taten. Bei der Abfassung der Note müsse seiner Ansicht nach, auch darauf Rücksicht genommen werden, daß sie für das große Publikum – besonders in England – verständlich sei und das Unrecht klar und deutlich Serbien zuschiebe.

Baron Conrad hat bei der letzten Besprechung auf ihn einen sehr guten Eindruck gemacht. Er habe ruhig und sehr bestimmt gesprochen. In nächster Zeit müsse man sich freilich darauf gefaßt machen, daß die Leute wieder darüber klagen werden, man sei hier unentschlossen und zögernd. Es komme darauf aber wenig an, wenn man in Berlin wisse, daß das nicht der Fall sei.

Zum Schluß drückte mir Tisza warm die Hand und sagte: ‚Wir wollen nun vereint der Zukunft ruhig und fest ins Auge sehn.‘ – (Na, doch mal ein Mann. W.)”

Man sieht, wie gänzlich unhaltbar die Meinung ist, als sei Wilhelm das arme Opferlamm Berchtoldscher Perfidie gewesen. Die beiden Verbündeten waren einander würdig.

Und wie der Herr, so seine Knechte.

Am 18, Juli berichtete der Botschaftsrat Prinz zu StolbergWernigerode aus Wien in einem persönlichen Schreiben an Herrn von Jagow:

„Gestern war ich bei Berchtold. der mir sagte, daß die bewußte Note am 23. d.M. in Belgrad überreicht werden soll. Wie ich gestern berichtet habe, hofft Berchtold, daß die österreichischen Forderungen, über die er sich im Einzelnen nicht ausließ, von Serbien nicht angenommen werden. Ganz sicher ist er aber nicht, und ich habe aus seinen wie aus Äußerungen von Hoyos den Eindruck, daß Serbien die Forderungen annehmen kann. Auf meine Frage, was dann geschehen solle, wenn die Sache auf diese Weise wieder im Sande verlaufe, meinte Berchtold, man müsse dann bei der praktischen Durchführung der einzelnen Postulate eine weitgehende Ingerenz üben. Will man hier wirklich eine endgültige Klärung des Verhältnisses zu Serbien, wie sie auch Graf Tisza in seiner Rede kürzlich als unabweislich bezeichnet hat, so wäre es allerdings unerfindlich, warum man nicht solche Forderungen aufgestellt haben sollte, die einen Bruch unvermeidlich machen. Verläuft die Aktion wieder, wie das Hornberger Schießen und bleibt es bei einem sogenannten diplomatischen Erfolg, so wird damit die hierzulande schon vorherrschende Anschauung, daß die Monnrrhie zu keiner Kraftäußerung mehr fähig ist, bedenklich befestigt. Die Folgen, die dies nach innen und außen haben würde, liegen ja auf der Hand.“

Die Herren der deutschen Diplomatie in Wien waren also mit Berchtold nicht ganz zufrieden und trauten ihm nicht vollständig. Nicht aber deswegen, weil er zum Kriege gedrängt und sie davon abgemahnt hätten, sondern weil sie fürchteten, „die Monarchie“ sei keiner „Kraftäußerung“ mehr fähig und die ganze Aktion werde, statt mit einem frisch-fröhlichen Krieg mit einem unblutigen diplomatischen Erfolg endigen.

Leider waren die Befürchtungen, die der deutsche Herr Botschaftsrat zum deutschen Herrn Staatssekretär über den öster reichischen Bundesgenossen äußerte, völlig unbegründet.
 

Österreichs Zögern

Nachdem die deutsche Regierung am 5. Juli ihren Segen zu dem von Österreich beabsichtigten Krieg gegen Serbien gegeben, drängte sie zu raschestem Losschlagen, während Österreich schwer aus seinem gemütlichen Tempo zu bringen war.

Das widersprach ganz den Regeln des preußischen Militarismus, der auf Raschheit der Bewegung den größten Wert legt. Es drohte aber auch das diplomatische Konzept zu verderben, das darauf angelegt war, Europa vor vollendete Tatsachen zu stellen, ehe es noch recht wußte, was geschah, und es zu erschweren, daß sich Serbien mit den Mächten imd die Mächte untereinander verständigten, Bestürzung und Wirrwarr sollten die Möglichkeit geben, im Trüben zu fischen imd die Gefahr verringern, daß sich die Mächte gegen die frivolen Ruhestörer vereinigten.

Deshalb die kurze Frist von 48 Stunden, die den Serben zur Beantwortung der Note zu geben war.

Da erschien es gefährlich, mit dem Absenden der Note zu warten, denn jeder Tag des Zögerns konnte neue Zwischenfälle bringen, konnte die Absichten der Verschworenen enthüllen und damit zunichte machen. Das deutsche Drängen, nachdem man einmal zum Kriege seine Zustimmung gegeben, ist also wohl begreiflich.

Nicht so begreiflich das österreichische Zögern. Zum Teil mag es der eingewurzelten schwarzgelben Schlamperei zuzuschreiben sein, zum Teil vielleicht auch der damit zusammenhängenden Langsamkeit der Kriegsvorbereitimgen, die sofort nach den Potsdamer Beschlüssen in Österreich begonnen hatten. Schon am 12. Juli telegraphiert Jagow an Tschirschky:

„Zur streng vertraulichen Orientierung des Grafen Berchtold.

Nach geheimen Nachrichten liegt Rußland und Serbien die vertrauliche Information vor, daß Österreich-Ungarn seine Garnisonen an serbischer und russischer Grenze unauffällig verstärkt.“

Also nicht bloß an der serbischen, sondern auch an der russischen Grenze traf damals schon Österreich Kriegsvorbereitungen.

Das ist sehr wichtig wegen der Erörterungen über die verschiedenen Mobilmachungen. Die Mobilisierung ist der wichtigste, auffälligste, letzte Akt der Kriegsvorbereitungen, aber nicht der einzige. Truppenverschiebungen, Ansammlung und Transport von Kriegsgerät, Rückberufung beurlaubter Offiziere, Bereitstellung von Transportmitteln und dergl. können vorgenommen werden, ehe die Mobilisierung verkündet wird. Diese wird um so rascher und wirksamer vor sich gehen können, je besser die übrigen Kriegsvorbereitungen getroffen sind. Die Zentralmächte konnten darin beim Ausbruch der Krise am 24. Juli den anderen weit voraus sein, weil sie ja seit dem 5. mit der Möglichkeit eines Krieges mit Rußland rechneten.

Trotzdem blieb wohl Österreich weiter zurück, als den deutschen Kriegspolitikem lieb war. Erklärte es doch auch schließlich Rußland erst am 6, August den Krieg, trotzdem es schon am 31. Juli die allgemeine Mobilmachung angeordnet hatte. Dazu kamen noch Unstimmigkeiten zwischen den Staatsmännern des Doppelstaates Österreich-Ungarn, der so wenig ein einheitliches Wesen war, daß seine Politiker keinen anderen Namen für ihn wußten, als „die Monarchie“.

Am 5. Juli hatte sich Berchtold schon in Potsdam die Erlaubnis zum Kriege gegen Serbien geholt, aber erst am 14. Juli konnte Tschirschky berichten, daß auch Budapest seine uneingeschränkte Erlaubnis gebe. Und da erst begannen die Minister in Wien mit dem Versuch, sich über die Absichten Serbien gegenüber untereinander zu verständigen. Merkwürdigerweise hatte man früher auch in Berlin nicht das Bedürfnis gehabt, sich über die Ziele des Krieges klar zu werden, den man bereits gebilligt hatte und zu dessen Eröffnung man drängte.

Erst am 17. Juli telegraphierte Jagow an Tschirschky:

„Wie Ew. Exz. aus der Verlesung der Aufzeichnung des Grafen Hoyos über seine Unterredung mit dem Herrn Unterstaatssekretär bekannt ist, hat Graf Hoyos hier geäußert, Österreich müsse Serbien völlig aufteilen.

Graf Berchtold und Graf Tisza haben hierzu bemerkt, daß diese Äußerung nur die persönliche Ansicht des Grafen Hoyos wiedergäbe, haben sich also mit mit ihr ausdrücklich nicht identifiziert, sich aber scheinbar über ihre territorialen Pläne auch nicht weiter ausgelassen.

Für die diplomatische Behandlung des Konfliktes mit Serbien wäre es von dessen Beginn an nicht unwichtig zu wissen, welches die Ideen der österreichisch-ungarischen Staatsmänner über die künftige Gestaltung Serbiens sind, da diese Frage von wesentlichem Einfluß auf die Haltung Italiens und auf die öffentliche Meinung und die Haltung Englands sein wird.

Daß die Pläne der Staatsmänner der Donaumonarchie durch den Gang der Ereignisse beeinflußt und modifiziert werden können, ist wohl als selbstverständlich anzusehen, immerhin sollte man annehmen, daß das Wiener Kabinett sich doch schon ein allgemeines Bild der zu erstrebenden Ziele auch in territorialer Hinsicht gemacht hat. Ew. Exz. wollen versuchen, im Gespräch mit dem Grafen Berchtold sich hierüber eine Aufklärung zu verschaffen, dabei aber den Eindruck vermeiden, als wollten wir der österreichischen Aktion von vornherein hemmend in den Weg treten oder ihr gewisse Grenzen oder Ziele vorschreiben. Es wäre uns nur von Wert, einigermaßen darüber orientiert zu sein, wohin der Weg etwa führen soll.“

Dieses Schriftstück ist sicher höchst merkwürdig.

Man denke! Am 5. Juli sanktioniert die deutsche Regierung den Krieg gegen Serbien mit dem Bewußtsein, daß es ein Weltkrieg werden kann. Seitdem drängt sie auf rasches Losschlagen, und am 17. fragt der Staatssekretär des Auswärtigen in Wien schüchtern an, ob er „einigermaßen darüber orientiert“ werden könnte, „wohin der Weg“ des Krieges „etwa führen soll“.

Und er fragt das nicht einmal, um seine eigenen Entschlüsse danach einzurichten– nach wie vor behält Österreich freie Bahn –, sondern nur, um imstande zu sein, Italien und England diplomatisch richtig zu „behandeln“.

Eine ganz klare Antwort hat Berlin darüber von Wien nie bekommen, aus dem einfachen Grunde, weil man dort selbst nicht wußte, „wohin der Weg führen sollte“. Die beiden Zentralmächte haben den furchtbarsten aller Kriege entfesselt, ohne über Zweck und Ziel auch nur seines Ausgangspunktes klar zu sein.

Die Antwort sollte in Wien am 19. Juli gegeben werden in einem Ministerrat „für gemeinsame Angelegenheiten“ über „die bevorstehende diplomatische Aktion gegen Serbien“, in dem die Ziele des Krieges festgelegt werden sollten, den zu erzwingen man entschlossen war. In jener Sitzung stellte Graf Tisza die Forderung auf, daß mit der Aktion gegen Serbien keine Eroberungspläne der Monarchie verknüpft werden dürften. Man müßte sich auf die aus militärischen Gründen bedingten Grenzberichtigungen beschränken. Er verlangte darüber einen einstimmigen Beschluß. Als Magyare wollte er keine Vermehrung der Zahl der Serben in der Monarchie. Graf Berchtold war anderer Meinung:

Er meinte, daß er sich dieser Auffassung nur mit einer gewissen Reserve anschließen könne. Auch er sei der Meinung, daß Österreich-Ungarn von Serbien kein Gebiet annektiere, wohl aber, daß möglichst große Stücke an Bulgarien, Griechenland und Albanien, eventuell auch an Rumänien zuzuweisen seien. Serbien müsse, so verkleinert werden, „daß es nicht mehr gefährlich sei“. Die Situation auf der Balkanhalbinsel könne sich jedoch ändern. Es sei möglich, „daß es uns am Ende des Krieges nicht mehr möglich sein wird, nichts zu annektieren.“

Man sieht, die Ansichten, die der Graf Hoyos am 5. Juli in Berlin entwickelt hatte, waren nicht nur seine persönlichen Ansichten, sondern ebenso sehr die des Grafen Berchtold.

Graf Tisza ließ jedoch die Reserven des Grafen Berchtold nicht gelten. Graf Stürgkh meinte, auch wenn die Besetzung serbischer Gebietsteile ausgeschlossen wäre, könnte durch die Absetzung der Dynastie, durch eine Militärkonvention oder durch andere entsprechende Maßnahmen Sicherheit geschaffen werden. Da der Kriegsminister sich bereit zeigte, die Beschränkung einer Annexion auf strategische Grenzberichtigungen und auf die dauernde Besetzung eines Brückenkopfes jenseits der Save gutzuheißen, v/urde von den versammelten Ministern einstimmig beschlossen :

„daß sofort bei Beginn des Krieges den fremden Mächten erklärt werde, daß die Monarchie keinen Eroberungskrieg führe und nicht die Einverleibung des Königreichs beabsichtigt. Natürlich sollen strategisch notwendige Grenzberichtigungen, sowie die Verkleinerung Serbiens zugunsten anderer Staaten sowie eventuelle notwendige vorübergehende Besetzungen serbischer Gebiete durch diesen Beschluß nicht ausgeschlossen werden.“ (Rotbuch von 1919, S.65–67.)

Von diesem ganzen Programm teilte man vorsichtigerweise den Mächten nur den ersten Satz mit, daß „die Monarchie keinen Eroberungskrieg“ führe. Man unterschlug der Öffentlichkeit die weiteren Sätze, die in Wirklichkeit das verleugnete Programm des Grafen Hoyos enthielten und auch den Vorbehalt des Grafen Berchtold nicht ausschlössen, den er so fein in die Worte gekleidet hatte, es werde uns „am Ende des Krieges nicht mehr möglich sein, nichts zu annektieren“.

Tisza war merkwürdigerweise mit diesem Abschluß ganz einverstanden. Er machte zwar nicht die Eroberung, wohl aber die Vernichtung Serbiens zum Kriegsziel, Dorthin sollte also der Weg „etwa“ führen nach den Absichten der österreichischen Staatslenker.

Wohin er wirklich führte, hat unmittelbar vorher, am 16. Juli, Fürst Lichnowsky dem Reichskanzler in einem trefflichen Expose auseinandergesetzt, das hier vollständig wiedergegeben sei.

Lichnowsky schrieb:

„Vom Standpunkt des Grafen Berchtold ist es vollkommen begreiflich, daß er seine durch den Bukarester Frieden stark erschütterte Stellung und den durch den Abfall Rumäniens verminderten Einfluß der Monarchie auf dem Balkan dadurch wieder zu heben gedenkt, daß er die jetzige verhältnismäßig günstige Gelegenheit zu einem Waffengange mit den Serben benutzt. Die leitenden militärischen Persönlichkeiten in Österreich haben bekanntlich schon seit längerer Zeit dahin gedrängt, das Ansehen der Monarchie durch einen Krieg zu befestigen. Einmal war es Italien, dem der Irredentismus ausgetrieben, ein andermal Serbien, das durch Kriegstaten à la Prinz Eugen zur Entsagung und zu besseren Sitten gezwungen werden sollte. Ich begreife, wie gesagt, diesen Standpunkt der österreichischen Staatsleiter und würde in ihrer Lage vielleicht schon früher die serbischen Wirren dazu benutzt haben, um die südslawische Frage im Habsburgischen Sinne zu lösen.

Die erste Voraussetzung für eine derartige Politik müßte aber ein klares Programm sein, das auf der Erkenntnis beruht, daß der heutige Staatsund völkerrechtliche Zustand innerhalb der serbokroatischen Völkerfamilie, der einen Teil dieser nur durch die Religion, nicht aber durch die Rasse gespaltenen Nation dem österreichischen, einen anderen dem ungarischen Staat, einen dritten der Gesamtmonarchie und einen vierten und fünften endlich unabhängigen Königreichen zuweist, auf die Dauer nicht haltbar ist Denn das Bestreben, den geheiligten Status quo aus Bequemlichkeitsgründen unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, hat schon oft und so erst bei der jüngsten Balkankrise, zu einem völligen Zusammenbruch des auf diesen Grundlagen erbauten politischen Kartenhauses geführt.

Zunächst bezweifle ich nim, daß in Wien ein großzügiger Plan, der allein die Grundlage einer dauernden Regelung der südslawischen Frage bieten würde, ich meine den Trialismus mit Einschluß Serbiens, gefaßt worden ist. Nach meiner Kenntnis der dortigen Verhältnisse glaube ich auch gar nicht, daß man in der Lage ist, eine derartige staatsrechtliche Umgestaltung der Monarchie in die Wege zu leiten. Denn es wäre hierzu vor allem der Widerstand Ungarns zu überwinden, das sich gegen eine Abtretung von Kroatien mit Fiume auf das äußerste wehren würde. Zur Durchführung eines derartigen Programms fehlt es in Wien auch an der hierzu geeigneten kraftvollen Persönlichkeit. Man sucht dort vielmehr wohl nur den Bedürfnissen des Augenblicks zu genügen und ist froh, wenn die vielen politischen Schwierigkeiten. die niemals aussterben, da sie sich aus der Verschiedenartigkeit der Zusammensetzung des Reiches ergeben, so weit behoben sind, daß Aussicht besteht, wieder einige Monate fortwursteln zu können.

Eine militärische Züchtigung Serbiens hätte daher niemals den Zweck oder das Ergebnis einer befriedigenden Lösung der so überaus schwierigen südslawischen Frage, sondern bestenfalls den Erfolg, die mühsam beigelegte orientalische Frage von neuem ins Rollen gebracKt zu haben, um Österreich eine moralische Genugtuung zu verschaffen.

Ob Rußland und Rumänien hierbei müßig zusehen und Österreich freie Hand Tassen würden, werden Euere Exzellenz besser zu beurteilen in der Lage sein als ich. Nach meinen hiesigen Eindrücken, namentlich aber nach den vertraulichen Unterhaltungen, die ich mit Sir Edward Grey gehabt habe, glaube ich, daß meine kürzlich in Berlin vertretenen Ansichten über die Absichten Rußlands uns gegenüber zutrafen. Sir Edward Grey versichert mir, daß man in Rußland nicht daran denke, mit uns Krieg führen zu wollen. Ähnliches sagt mir mein Vetter Graf Benckendorff. Eine gewisse antideutsche Stimmung kehre dort von Zeit zu Zeit regelmäßig wieder, das hänge mit dem slawischen Empfinden zusammen. Dieser Strömung gegenüber bestehe aber immer eine starke prodeutsche Partei, Weder der Kaiser noch irgendeine der maßgebenden Persönlichkeiten sei antideutsch und seit der Beilegung der Liman-Frage sei keine ernste Verstimmung wieder eingetreten. Hingegen gab Graf Benckendorff offen zu, daß ein starkes antiösterreichisches Empfinden in Rußland bestehe. Es denke aber dort niemand daran, Teile von Österreich, wie etwa Galizien, erobern zu wollen.

Ob angesichts dieser Stimmung es möglich sein würde, die russische Regierung beim österreichisch-serbischen Waffengange zur passiven Assistenz zu bewegen, vermag ich nicht zu beurteilen. Was ich aber glaube mit Bestimmtheit sagen zu können, ist, daß es nicht gelingen wird, im Kriegsfalle die hiesige öffentliche Meinung zuungunsten Serbiens zu beeinflussen, selbst durch Heraufbeschvvörung der blutigen Schatten Dragas und ihres Buhlen, deren Beseitigung vom hiesigen Publikum schon längst vergessen ist und daher zu den historischen Ereignissen gehört, mit denen, soweit außerbritische Länder in Frage kommen, man hier im allgemeinen weniger Vertrautheit besitzt, als bei uns etwa der durchschnittliche Quartaner.

loh bin nim weit entfernt, für eine Preisgabe unserer Bundesgenossenschaft oder imseres Bundesgenossen einzutreten. Ich halte das Bündnis, das sich in dem Empfindungsleben beider Reiche eingelebt hat, für notwendig und schon mit Rücksicht auf die vielen in Österreich lebenden Deutschen für die natürliche Form ihrer Zugehörigkeit zu uns. Es fragt sich für mich nur, ob es sich für uns empfiehlt, imseren Genossen in einer Politik zu imterstützen bzw. eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche ansehe, da sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch zu einer Vernichtung der groß serbischen Bewegung führen wird. Wenn die k.u.k. Polizei und die bosnischen Landesbehörden den Thronfolger durch eine ‚Allee von Bombenwerfern‘ geführt haben, so kann ich darin keinen genügenden Grund erblicken, damit wir den berühmten pommersohen Grenadier für die österreichische Pandurenpolitik aufs Spiel setzen; nur damit das österreichische Selbstbewußtsein gekräftigt werde, das in diesem Falle, wie die Ära Aehrenthal gezeigt hat, sich als vornehmste Aufgabe die möglichste Befreiung von der Berliner Bevormundimg hinstellt.

Sollte aber wirklich für unsere politische Haltung die Ansicht ausschlaggebend sein, daß nach Verabreichung des ‚Todesstoßes‘ an die großiserbische Bewegung das glückliche Österreich von dieser Sorge befreit sich uns für die geleistete Hilfe dankbar erweisen wird, so möchte ich die Frage nicht unterdrücken, ob nach Niederwerfung des ungarischen Aufstandes durch die Hilfe des Kaisers Nikolaus und die vielseitige Inanspruchnahme des Galgens nach Bezwingung der Ungarn bei Vilagos und unter der Oberleitung des kaiserlichen Generals Haynau die nationale Bewegung in Ungarn erdrückt wurde imd ob die rettende Tat des Zaren ein. inniges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden Reichen begründet hat.“

So Lichnowsky am 16. Juli. Natürlich hatten alle seine Warnungen den üblichen Erfolg von Kassandrarufen. Sie wurden absolut nicht begriffen.

Inzwischen war Poincarés Abreise nach Petersburg gekommen, ohne daß die Note an Serbien abgegangen war. So entschloß man sich wie wir schon gesehen, mit ihrer Überreichung zu warten, bis Poincaré Petersburg verlassen hatte. Darüber berichtete Tschirschky am 14. Juli:

„Nachdem mich Graf Tisza verlassen hatte, bat Graf Berchtold mich zu sich, um mir seinerseits das Ergebnis der heutigen Besprechung mitzuteilen. Zu seiner großen Freude sei allseitige Übereinstimmung über den Tenor der an Serbien zu übergebenden Note erzielt worden. Graf Tisza sei seiner, des Ministers Auffassung in erfreulicher Weise entgegengekommen und habe sogar in manche Punkte eine Verschärfung hineingebracht. Allerdings habe sich in technischer Beziehung die Unmöglichkeit herausgestellt, die Note schon am 16. oder 18. in Belgrad zu übergeben.

Es habe Einmütigkeit darüber in der heutigen Besprechung bestanden, daß es empfehlenswert sei, jedenfalls die Abfahrt des Herrn Poincaré aus Petersburg abzuwarten, ehe man Schritte in Belgrad tue (schade! W.), denn es sei, wenn möglich, zu vermeiden, daß in Petersburg bei Champagner Stimmung und unter dem Einfluß der Herren Poincaré, Iswolsky und der Großfürsten eine Verbrüderung gefeiert werde, die dann die Stellungnahme beider Mächte beeinflussen und womöglich festlegen würde. Es sei auch gut, wenn die Toaste nach der Übergabe der Note erledigt seien. Es würde also die Übergabe am 25. Juli erfolgen können.

Graf Berchtold bat mich, wie dies auch Graf Tisza getan, ausdrücklich und wiederholt meiner Regierung gegenüber keinen Zweifel darüber zu lassen, daß lediglich die Anwesenheit Poincares in Petersburg der Grund für den Aufschub der Übergabe der Note in Belgrad sei, und daß man in Berlin vollkommen sicher sein könne, daß von einem Zögern oder einer Unschlüssigkeit hier keine Rede sei.“

Diese steten Versicherungen, Berlin könne sich auf Wiens Kriegswillen verlassen, sind sehr bemerkenswert.

Im Wiener Ministerrat vom 19. Juli erklärte auch Berchtold, er sei gegen jede unnötige Verschiebung,

„da man schon jetzt beginne, in Berlin nervös zu werden und Nachrichten über unsere Intentionen schon nach Rom durchgesickert seien, so daß er nicht für unerwünschte Zwischenfälle gutstehen könne, wenn man noch die Sache hinausschieben würde. Conrad v. Hötzendorf dränge auf Eile. Der Kriegsminister erklärt: für die Mobilmachung sei alles bereit!“

Man wollte also die Note so bald als möglich überreichen, aber nicht früher, als der französische Präsident Rußland verlassen. Es ist ergötzlich, zu sehen, mit welcher Sorgsamkeit nun dessen Reiseroute studiert wird und einer der beiden Verschworenen dem andern seine Beobachtungen über die Bewegungen des ahnungslosen Wanderers zukommen läßt.

Am 17. Juli wird aus Wien mitgeteilt, man werde die Note schon am 23. Juli übergeben, da an diesem Tage Poincaré Petersburg verlasse. Nun aber wurde sogar die Stunde der Abfahrt wichtig.

Am 21. Juli teilt der Admiralstab der Marine Jagow mit, die Abfahrt von Kronstadt sei auf den 23. um 10 Uhr abends festgesetzt. Am selben Tage telegraphiert Jagow an den Gesandten in Petersburg die Frage:

„Um wieviel Uhr ist am Donnerstag Abfahrt des Präsidenten von Kronstadt vorgesehen?“

Am 22. telegraphiert Jagow nach Wien:

„Hatte Graf Pourtalès nach Programm des Besuches Poincarés befragt. Derselbe meldet, daß Präsident Donnerstag abend 11 Uhr von Kronstadt abfährt. Dies wäre nach mitteleuropäischer Zeit 9.30 Uhr. Wenn Demarche in Belgrad morgen nachmittag 5 Uhr gemacht wird, würde sie also noch während Anwesenheit Poincarés in Petersburg bekannt werden.“

Darauf antwortet Tschirschky am 23.:

„K.u.k. Regierung dankt für Information. Baron Ciesl ist angewiesen, Übergabe um eine Stunde zu verschieben,“

So kam es, daß die Note eim 23. um 6 Uhr abends überreicht wurde.

Man sieht, welche Sorgen die österreichischen und deutschen Minister vor Ausbruch des Weltkrieges plagten.
 

Eine falsche Rechnung

Man hatte beabsichtigt, überraschend loszuschlagen, um Europa ehe es recht zur Besinnung gekommen war, vor vollendete Tatsachen zu stellen, denen es sich am ehesten beugen mochte. In dieser Weise hoffte man durch die Überrvmipelung mit der Kriegserklärung den Weltfrieden zu erhalten.

Das war eine Friedenspolitik eigener Art, dennoch wagt noch das deutsche Weißbuch vom Juni 1919 die friedlichen Absichten der Reichsregierung von 1914 zu beteuern. Diese sollen daraus hervorgehen, daß sie wohl die Möglichkeit eines Krieges mit Rußland in Betracht zog, aber mit der Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Krieges nicht rechnete.

Sie hoffte sogar, Rußland werde sich wieder, wie schon bei den früheren Balkankrisen, einschüchtern lassen, wenn man es überrumpelte, vor vollendete Tatsachen stellte und nicht nachgab. Im übrigen verließ man sich auf sein Glück.

Noch am 28. Juli berichtete Baron Beyens aus Berlin:

„In Wien wie in Berlin war man überzeugt, trotz der jungst erst zwischen dem Zaren und Poincaré ausgetauschten offiziellen Versicherungen über die vollständige Rüstung der Armeen des Zweibundes sei Rußland nicht imstande, einen europäischen Krieg zu unternehmen und es würde nicht wagen, sich in ein so furchtbares Abenteuer zu stürzen. Die beunruhigende Lage im Innern, revolutionäre Umtriebe, unvollständige Rüstung, unvollkommene Verkehrswege – alle diese Gründe zwängen die russische Regierung, ohnmächtig der Exeliution Serbiens zuzusehen. Dieselbe geringschätzige Meinung hegte man, wenn nicht von der französischen Armee, so doch von dem Geist, der in den Regierungskrisen Frankreichs herrscht ...

Die Meinung, daß Rußland einem europäischen Krieg nicht gewachsen ist, herrschte nicht nur im Schoß der kaiserlichen Regierung, sondern auch bei den deutschen Industriellen, deren Spezialität Kriegslieferungen sind. Der Kompetenteste unter ihnen, um ein Beispiel anzuführen, Herr Krupp von Bohlen, versicherte einem meiner Kollegen, die russische Artillerie sei weit davon entfernt, gut und vollständig zu sein, während die deutsche niemals besser gewesen sei. Er fügte hinzu: Es wäre für Rußland ein Wahnsinn, unter diesen Bedingungen den Krieg an Deutschland zu erklären.“

Diese Mitteilung Beyens wird bestätigt durch den oben mitgeteilten Bericht Szögyenys über sein Gespräch mit Wilhelm am 5. Juli, der seinerseits wieder seine Bestätigung findet in dem, was Tirpitz in seinen Erinnerungen vom 6. Juli erzählt:

„Nach den Ausführungen, die er (Kaiser Wilhelm) am Vormittag des 6. Juli meinem Amtsvertreter im Park des Potsdamer Neuen Palais machte, hielt der Kaiser ein Eingreifen Rußlands zur Deckung Serbiens für nicht wahrscheinlich, weil der Zar die Königsmörder nicht unterstützen würde und Rußland zurzeit militärisch und finanziell kriegsunfähig wäre. Der Kaiser setzte ferner etwas sanguinisch voraus, Frankreich würde Rußland bremsen, wegen Frankreichs ungünstiger Finanzlage und seines Mangel an schwerer Artillerie. Von England sprach der Kaiser nicht. An Verwicklungen mit diesem Staat wurde überhaupt nicht gedacht.“ (S.209.)

In gleichem Sinne äußerte sich Jagow am 18. Juli in einem Briefe an Lichnowsky:

„Je entschlossener sich Österreich zeigt, je energischer wir es stützen, um so eher wird Rußland still bleiben. Einiges Gepolter wird in Petersburg, zwar nicht ausbleiben, aber im Grunde ist Rußland jetzt nicht schlagfertig. Frankreich und England werden jetzt auch den Krieg nicht wünschen. In einigen Jahren wird Rußland nach aller kompetenten Annahme schlagfertig sein. Dann erdrückt es uns durch die Zahl seiner Soldaten, dann hat es seine Ostseeflotte und seine strategischen Bahnen gebaut. Unsere Gruppe wird inzwischen immer schwächer. Jn Rußland weiß man es wohl, und will deshalb für einige Jahre absolut noch Ruhe. Ich glaube gern Ihrem Vetter Benckendorff, daß Rußland jetzt keinen Krieg mit uns will. Dasselbe versichert Sasonow. Aber die Regierung in Rußland, die heute noch friedliebend und halbwegs deutschfretfndlich ist, wird immer schwächer, die Stimmung des Slawentums immer deutschfeindlicher ... Ich will keinen Präventivkrieg. Aber wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen.“

Also Jagow glaubt nicht, daß Rußland im Moment Krieg führen kann und wird. Er will auch einen Präventivkrieg nicht geradezu erzwingen. Aber wenn er doch kommt, ist er eigentlich ein Glücksfall für das Deutsche Reich und seinen Verbündeten.

Das war in jenen Tagen eine verbreitete Meinung nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland. Unmittelbar nach Kriegsausbruch erklärte Herr Paul Rohrbach, eine alldeutsche Größe und mit den Gedankengängen des deutschen Generalstabs wohl vertraut:

„Für uns, d.h. für Deutschland und Österreich-Ungarn, bestand die Hauptsorge diesmal darin, daß wir durch eine vorübergehende und scheinbare Nachgiebigkeit Rußlands moralisch gezwungen werden konnten, zu warten, bis Rußland und Frankreich wirklich bereit wären.“ (Der Krieg und die deutsche Politik, Dresden, Verlag „Das größere Deutschland“, S.82, 83.)

Für die Kriegsbegierde dieser Kreise ist es bezeichnend, daß sie den Krieg, als er wirklich hereinbrach, nicht angstvoll oder mit Trauer, als eine furchtbare Katastrophe, sondern mit Jubel, als eine Erlösung begrüßten.

Am 7. Juni 1915 erzählte der König von Bayern:

„Auf die Kriegserklärung Rußlands folgte die Frankreichs, und als dann auch noch die Engländer über uns herfielen, da habe ich gesagt:

Ich freue mich darüber, und ich freue mich deswegen, weil wir jetzt mit unsern Feinden Abrechnung halten können; und weil wir jetzt endlich einen direkten Ausgang vom Rhein zum Meere bekommen.‘“

Das war die Friedensliebe deutscher Regenten beim Ausbruch des Krieges. Aber sicher waren nicht alle so dumm und leichtfertig, den Krieg zu ersehnen. Die entscheidenden Männer des Auswärtigen Amtes „riskierten“ ihn allerdings, hofften indes doch, es werde wieder so gehen, wie 1909 und 1913, wo Rußland wegen mangelnder Rüstung zurückwich. Sie zogen nicht in Betracht, daß das russische Reich diesmal auf eine besonders harte Probe gestellt würde: es sollte ohne Schwertstreich alle seine politischen Positionen auf dem Balkan räumen, diesen völlig an Österreich ausliefern.

Indes, wenn man überraschend handelte, Rußland keine Zeit ließ, sich mit seinen Freunden .zu verständigen, dann war es am ehesten möglich, es „friedlich“ auf die Knie zu zwingen. Sollte es sich aber unerwarteterweise wehren, dann hatte man militärisch auch die besten Aussichten, wenn man dem Gegner möglichst wenig Zeit ließ, sich vorzubereiten.
 

Die Einschläferung Europas

Die öffentliche Meinung mußte unter allen Umständen eingeschläfert werden bis zu dem Zeitpunkt, wo man losgehen konnte. Das war nicht so einfach. Man wollte das Ausland kalmieren und gleichzeitig die eigene Bevölkerung in Kriegsstimmung versetzen, was unbedingt notwendig war, wollte man nicht von Anfang an in seinen Aktionen gelähmt sein. Und anderseits scheint keiner der beiden Verbündeten dem andern recht getraut zu haben. Jeder witterte bei dem andern „Flauheit“, wenn die Presse nicht energisch hetzte.

Das gab zu mancher erbaulichen Darlegung Anlaß:

So telegraphiert am 18, Juli Jagow an Tschirschky: .

Norddeutsche bringt morgen Bemerkungen zum österreichischserbischen Streit, die mit Rücksicht auf europäische Diplomatie absichtlich mild gefaßt sind. Das hochoffiziöse Blatt sollte nicht vorzeitig alarmieren. Bitte dafür zu sorgen, daß dies nicht fälschlicherweise als deutsches Abrücken von dortiger Entschlossenheit gedeutet wird.“

Vorher schon, am 15. Juli, hatte Berchtold sich zu Szögyeny nach Berlin geäußert:

„Aus dieser auch uns nicht erwünschten Verzögerung läßt sich auch die Haltung unserer offiziösen Presse unschwer erklären.

Wir müssen momentan einerseits ein Abflauen der unserer Politik günstigen öffentlichen Meinung der Monarchie verhindern, anderseits nicht durch eine die Situation systematisch zuspitzende Sprache unserer Presse bei andern Mächten etwa einen Mediationsgedanken aufkommen lassen.“

Zu der Regelung der Sprache der Presse gesellten sich noch andere Einschläferungsmittel. Vor allem das Verreisen der militärischen Chefs. Wir haben schon gesehen, daß der Kriegsminister und der Chef des Generalstabs in Österreich ausdrücklich zu dem Zweck der Irreführung Europas auf Urlaub geschickt wurden,

Wilhelm bemerkt dazu, das sei kindisch. Das ist nicht recht zu verstehen, denn er selbst ging damals auch auf Urlaub.

Hier ist nochmals auf die so geheimnisvollen Besprechungen zurückzukommen, die Wilhelm vor Antritt seiner Nordlandsfahrt noch abgehalten hat. Und zwar so geheim als möglich abgehalten, um nicht vorzeitig zu alarmieren. Die strenge Geheimhaltung bezeugt der Schlußsatz der Bussche’schen Aufzeichnung vom August 1917: „Quelle durchaus zuverlässig.“ Es handelte sich demnach nicht um eine in Regierungskreisen allgemein bekannte Tatsache, sondern um eine, von der nur wenige Vertraute wußten.

Wenn die Öffentlichkeit etwas von einem Kriegsrat erfahren hätte, dann war sofort der Katze die Schelle angehängt, dann wußte alle Welt, was in jenen Beratungen ausgeheckt worden war. So unumgänglich notwendig die Zusammenkunft mit Militärs upmittelbar nach der Besprechung des Kaisers mit Bethmann dadurch geworden war, daß der Kaiser sofort darauf seine Nordlandsreise antrat, so war nicht minder notwendig die ängstliche Geheimhaltung jener Zusammenkunft.

Diese Nordlandreise war vorher geplant gewesen, Ihre Verschiebung hätte Verdacht erregen können, Sie wurde nun ebenfalls ein Mittel, Europa in Sicherheit zu wiegen. Wie konnte eine Ahnung des Ernstes der Situation aufkommen, wenn der deutsche Kaiser mit seiner Flotte eine Spazierfahrt nach dem Norden unternahm!

Am 7. Juli trat er seine Reise an, von der er erst am 27. zurückkehrte. Natürlich stand er auch auf hoher See in steter Verbindung mit Berlin. Das Bestreben, Europa einzuschläfern, zeitigte da manche eigenartigen Blüten. So telegraphiert am 11. Juli der Graf Wedel im Gefolge des Kaisers von Bergen aus:

„Bei Vorlage des vom Auswärtigen Amt redigierten üblichen Glückwunschtelegrammentwurfs für morgigen Geburtstag des Königs von Serbien haben S.M. mir befohlen, bei Ew. Exz. anzufragen, ob ein solches Telegramm im gegenwärtigen Augenblick notwendig und unbedenklich erscheint.“

Worauf Jagow antwortet:

„Da Wien noch keinerlei Schritte in Belgrad unternommen hat, würde Unterlassung des gewohnten Telegramms zu sehr auffallen und eventuell zu frühzeitige Beunruhigung herbeiführen. Befürworte daher Absendung.“

So wurde auf den lieben Vetter, den man für einen bluttriefenden Mörder erklärte, rasch noch auf zärtlichste Weise vom Himmel aller Segen herabgefleht, bevor man ihm den Dolch in den Rücken stieß.

So vergnüglich die Lustfahrt vor dem Beginn des großen Mordens sein mochte, sie machte Wilhelm schließlich nervös, als die Entscheidung nahte. Der Reichskanzler wollte ihn solange als möglich fort haben, damit Europa ruhig bleibe, nicht Lunte rieche. Wilhelm dagegen begann zu fürchten, die brennende Lunte könne eine vorzeitige Explosion hervorrufen und er sei dann mit seiner Flotte an der norwegischen Küste den Engländern preisgegeben oder Rußland bekomme bei Kriegsbeginn freie Hand in der Ostsee. Er drängte heim.

Am 18. Juli bat Jagow den Grafen Wedel um genaue Angabe der Reiseroute der Hohenzollern und fügte hinzu:

„Da wir eventuellen Konflikt zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren wünschen, dürfen wir Welt durch verfrühte Rückkehr S.M. nicht alarmieren, anderseits müßte Allerhöchst derselbe erreichbar sein, falls nicht vorherzusehende Ereignisse auch für uns wichtige Entscheidungen (Mobilmachungen) benötigen sollten. Eventuell wäre an Kreuzen in der Ostsee für letzte Reisetage zu denken.“

Am 19. Juli befiehlt Wilhelm, die Flotte bis zum 25. zusammenzuhalten, so daß sie „Befehl zum Abbruch der Reise schnell ausführen kann.“

Bethmann, der in jener Krisenzeit statt in Berlin auf HohenCnow weilt (auch zur Beruhigung der Nerven Europas?) telegraphiert daraufhin am 21. ans Auswärtige Amt:

„Befehl S.M. wegen Zusammenhaltens der Flotte bis 25. läßt mich besorgen, daß, wenn alsdann Ultimatum abgelehnt ist, auffällige Flottenbewegungen von Balmholm aus (wo der Kaiser weilte) befohlen werden fzönnten. Auf der andern Seite fiönnte im Falle einer Krise falscher Standort der Flotte verhängnisugll werden!“

Daher bat Bethmann um die Ansicht des Admiralstabs. Dieser antwortete am 22. Juli, im Falle einer Kriegserklärung Englands sei „mit Sicherheit mit einem Überfall unserer Flotte durch die englische zu rechnen.“

Jagow telegraphiert dem Reichskanzler beruhigend, England sei ganz friedlich, lasse seine Flotte, die zu Manövern zusammengezogen war, am 27. auseinandergehn.

Am 23. telegraphiert dann der Reichskanzler an den Grafen Wedel, die österreichische Note werde „heute nachmittag“ überreicht, das Ultimatum laufe am 25. ab. Deutschland werde zunächst sagen, die ganze Geschichte gehe es nichts an.

„Erst Eingreifen anderer Mächte würde uns in den Konflikt einbeziehen. Daß dies sofort geschieht, namentlich daß England sich gleich zum Eingreifen entschließt, ist nicht anzunehmen: Schon die Reise des Präsidenten Poincaré, der heute abend Kronstadt verläßt, den 25. Stockholm, den 27. Kopenhagen, den 29. Christiania besucht und den 31. Dünkirchen eintrifft, dürfte alle Entschlüsse verzögern.

Englische Flotte soll nach Mitteilungen des Admiralstabes den 27. auseinandergehn und Heimatshäfen aufsuchen. Etwaige vorzeitige Rückberufung unserer Flotte könnte allgemeine Beunruhigung hervorrufen und namentlich in England als verdächtig angesehen werden.“

Doch Wilhelm traut dem Frieden nicht, er gibt am 25. der Flotte den Befehl, sich zu sofortiger Heimreise bereit zu halten. Bethmann beschwört den Kaiser, noch zu warten. Darüber kommt es zu einem Zornesausbruch des Kaisers. Das Telegramm des Reichskanzlers mit Wilhelms Hinzufügungen lautet:

„Der Chef des Admiralstabes der Marine teilt mir mit, daß Ew. M. mit Rücksicht auf ein Wolfftelegramm (unerhört! W.) der Flotte Befehl zur schleunigen Vorbereitung der Heimreise erteilt haben (unglaubliche Zumutung! Ist mir gar nicht eingefallen!!! Auf die Meldung meines Gesandten von der Mobilmachung in Belgrad! Dieses kann Mobilmachung Rußlands, wird Mobilmachung Österreichs nach sich ziehen! In diesem Fall muß ich meine Streitmacht zu Lande und zu Wasser beisammen haben. In der Ostsee ist kein einziges Schiff!! Ich pflege im Übrigen militärische Maßnahmen nicht nach einem Wolfftelegramm zutreffen, sondern nach der allgemeinen Lage, und die hat der Zivilkanzler (Zivil vom Kaiser unterstrichen. K.) noch nicht begriffen. W.)

Admiral von Pohl dürfte E.M. inzwischen die Meldungen E.M. Marineattachés in London und des Vertrauensmannes der Marine in Portsmouth unterbreitet haben, wonach die englische Marine keinerlei auffällige Maßnahmen trifft (braucht sie nicht! Sie ist bereits kriegsbereit, wie die Revue eben gezeigt hat und hat mobilisiert! W.), vielmehr die früher vorgesehenen Dislokationen planmäßig ausführt.

Da auch die bisherigen Meldungen E.M. Botschafters in London erkennen lassen, daß Sir E. Grey vorläufig wenigstens an eine direkte Teilnahme Englands an einem eventuellen europäischen Kriege nicht denkt und auf tunlichste Lokalisierung des Österreich-ungarisch-serbischen Konflikts hinwirken will, wage ich all eruntertänigst zu befürworten, daß E.M. vorläufig keine verfrühte Heimreise der Flotte befehlen. (Wenn Rußland mobil macht, muß meine Flotte schon in der Ostsee sein, also fährt sie nach Haus. W.)“

Am 26. Juli beschwört Bethmann nochmals seinen kaiserlichen Herrn, „vorläufig in Norwegen zu bleiben, da dies England seine geplante Vermittlungsaktion in Petersburg, das ersichtlich schwankend ist, wesentlich erleichtern wird.“ Wozu Wilhelm bemerkt:

„Woher ist das (Petersburgs Schwanken) zu entnehmen? Aus dem mir vorgelegten Material nicht.“

Und vorher schon sagt er zu dem Wunsch, in Norwegen zu bleiben:

„Es gibt eine russische Flotte! In der Ostsee sind jetzt auf Übungsfahrten begriffen 5 russische Torpedobootsflottillen, welche ganz oder teilweise in 16 Stunden vor den Belten stehn und dieselben sperren können. Port Arthur sollte eine Lehre sein! Meine Flotte hat Marschorder nach Kiel und dahin fährt sie!“

Man sieht, Wilhelm rechnet nach der Übergabe des Ultimatums an Serbien mit dem sofortigen Ausbruch des Weltkriegs. Er dampfte daher eilends heim, Bethmann Hollweg zum Trotz. Er beginnt sein aktives Eingreifen in die Kriegspolitik damit, daß er seinen eigenen „alleruntertänigst zu befürworten wagenden“ Kanzler wie einen Stiefelputzier anschnauzt als, ein Subjekt, das die allgemeine Lage noch nicht begriffen hat. Die militaristische Überhebung glaubt, den Kanzler besonders verächtlich zu behandeln, wenn sie ihn als „Zivilkanzler“ anspricht, der auf die militärischen Maßnahmen nicht den geringsten Einfluß hat.

Auf der andern Seite bezeugt das Telegramm nicht nur die Unterwürfigkeit Bethmanns, der sich weniger als Zivilkanzler, denn als Zivilknecht geberdet, sondern auch die Kurzsichtigkeit und Dummpfiffigkeit seiner Politik, die sich einbildete, die Engländer über die Gefährlichkeit des österreichischen Ultimatums dadurch wenigstens für einige Tage wegzutäuschen, wenn er den Kaiser länger an der norwegischen Küste ließ.

Übrigens erwies sich auch seine Spekulation auf Poincarés Reise als verfehlt. Er hatte gehofft, sie werde alle Entschlüsse der Entente verzögern und Österreich bis über den 31. Juli hinaus freie Hand gegenüber Serbien lassen. Aber Poincaré hatte es mit der Heimkehr ebenso eilig wie Wilhelm, und angesichts der gefahrdrohenden Situation mit Recht. Er sagte Besuche ab und traf schon am 29. Juli in Frankreich ein.

Nicht minder eifrig hatte gleichzeitig Österreich die Politik der Einschläferung Europas betrieben. Doch faßten die österreichischen Diplomaten die Sache plumper an. Auch stießen sie von vornherein auf größeres Mißtrauen. Seit der Aufdeckung ihrer Fälscherkunststücke gegen Serbien stand der Ruf ihrer Wahrheitsliebe fast ebenso niedrig im Kurs, wie heute die österreichische Valuta. Sie machten diesem Rufe alle Ehre, indem sie die beruhigendsten Versicherungen über ihre versöhnlichen Absichten abgaben, unmittelbar vor der Übergabe ihres Ultimatums, das absichtlich so brutal gehalten war, daß es unannehmbar erschien.

Der französische Botschafter Dumaine in Wien berichtet am 26. Juli:

„Herr Schebeko (russischer Botschafter in Wien) ist plötzlich von einer Reise nach Rußland zurückgekehrt. Er hatte sie erst nach der vom Grafen Berchtold gegebenen Versicherung angetreten, daß die an Serbien gerichteten Forderungen höchst annehmbar seien.“

Am 23. Juli berichtet der stellvertretende Minister des Äußern in Paris, Herr Bienvenu Martin an die französischen Botschafter:

„Herr Dumaine, den ich beauftragt hatte, die Aufmerksamkeit der österreichischen Regierung auf die in Europa entstandene Unruhe zu lenken, erhielt auf seine Frage von dem Freiherrn von Macchio die Versicherung, der Ton der österreichischen Note und die darin gestellten Bedingungen ließen auf eine friedliche Lösung rechnen. Ich weiß nicht, wie weit man diesen Versicherungen Glauben beimessen kann, wenn man die Gepflogenheiten der kaiserlichen Kanzlei in Betracht zieht.“

Die Gepflogenheiten der Diplomatie keines Landes zeichnen sich durch übermäßige Aufrichtigkeit aus. Aber zu einer so kurzsichtigen Perfidie, die heute etwas behauptet, dessen Verlogenheit sie, selbst morgen an den Tag bringen muß, gehört nicht nur eine Schamlosigkeit, sondern auch eine Dummheit, die doch, trotz Oxenstierna, außergewöhnlich ist.

Nach derartiger Vorbereitung der öffentlichen Meinung wurde das Ultimatum an Serbien am 23. Juli abends überreicht.


Zuletzt aktualisiert am: 27.11.2008