Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


15. Letzte Versuche zur Rettung des Friedens


Anders ist die Wirkung auf den Zivilkanzler, Er versucht zu retten, was zu retten ist. Dazu wird es aber dringend notwendig, dem Bundesgenossen gegenüber auch einmal etwas anderes zu entwickeln als „Nibelungentreue“. Dessen Dummheit und Halsstarrigkeit haben bewirkt, nicht nur, daß der europäische Krieg über Nacht hereinzubrechen drohte, damit hätte man sich abgefunden, mit seiner Möglichkeit rechnete man von vornherein. Aber diese Dummheit und Halsstarrigkeit drohte zu bewirken, daß die Zentralmächtc in den Krieg hineingingen imter den ungünstigsten Umständen, ohne Italien, vielleicht gegen Italien, und gegen England, und vor dem eigenen Volke beladen mit dem furchtbaren und lähmenden Vorwurf, leichtfertig diese entsetzliche Katastrophe herbeigeführt zu haben.

Der stärkste Druck mußte auf Wien ausgeübt werden, um es endlich zu einer vernünftigeren Politik zu veranlassen. Aber mit dieser Tendenz kreuzte sich eine andere militaristische, die, nachdem die Mobilisierungen einmal eingesetzt hatten, den Krieg für unvermeidlich hielt und gerade, weil die Zahl der Feinde so groß wurde, zu raschestem Losschlagen drängte als der einzigen Möglichkeit, sich zu behaupten, indem man durch einige überraschende entscheidende Schläge das militärische Übergewicht gewann, das schwankende Italien vielleicht mit sich riß und England einschüchterte.

Zwei entgegengesetzte Tendenzen kämpften so um die Entscheidung, die von dem haltlosen Kaiser abhing. Daher die widersprechenden Erscheinungen unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges: Auf der einen Seite das Drängen auf Österreich im Sinne des Friedens und gleichzeitig die Überstürzung der Mobilisierung und der Kriegserklärungen.

Man hat in diesen Widersprüchen eine berechnete, abgefeimte Perfidie gesehen. Ich sehe darin nur ein Ergebnis der Verwirrung, die seit Englands Warnung in den leitenden Kreisen Deutschlands eintrat, und die durch Österreichs Haltung noch vermehrt wurde. Die Einwirkung dieses kostbaren Bundesgenossen darf nicht vergessen werden. Einige Illustrationen seien hier gegeben.

Je näher der Krieg drohte, um so wichtiger wurde es, Italien zu gewinnen. Noch am 29. Juli schrieb der Reichskanzler an Jagow:

„Ist nicht doch noch ein Telegramm nach Wien notwendig, in dem wir scharf erklären, daß wir die Art, wie Wien die Kompensationsfrage mit Rom behandelt, für absolut ungenügend ansehen und die Verantwortung, die sich daraus für die Haltung Italiens in einem etwaigen Kriege ergibt, voll Wien zuschieben? Wenn an dem Vorabend einer möglichen europäischen Konflagration Wien in dieser Weise den Dreibund zu sprengen droht, gerät das gesamte Bundnis ins Wanken. Die Erklärung Wiens, daß es sich im Falle dauernder Besetzung serbischer Gebietsteile mit Italien benehmen werde, steht überdies im Gegensatz zu seinen in Petersburg bezüglich seines territorialen Desinteressements abgegebenen Versicherungen. Die in Rom abgegebenen Erklärungen werden mit Sicherheit in Petersburg bekannt. Eine Politik mit doppeltem Boden können wir als Bundesgenossen nicht unterstützen.

Ich halte das für notwendig. Sonst können wir in Petersburg nicht weiter vermitteln und geraten gänzlich ins Schlepptau Wiens. Das will ich nicht, auch auf die Gefahr, des Flaumachens beschuldigt zu werden.

Falls keine Bedenken Ihrerseits, bitte ich um schleunige Vorlegung eines entsprechenden Telegramms.“

Genützt haben die dringenden Mahnungen dieser Art bei den obstinaten Wiener Diplomaten nichts. Berchtold beharrte darauf, ausweichende Antworten zu geben, und er wurde noch übertrumpft durch den fanatischen Italienerfeind Herrn von Merey, den die österreichische Slaatsweisheit zum Botschafter in Rom gemacht hatte. Am 29. Juli schrieb er nach Wien, je entgegenkommender Österreich sei, desto anmaßender und begehrlicher würde Italien werden, und am 31. Juli beschwerte er sich darüber, daß entgegeii seinen Ratschlägen Graf Berchtold unter dem Druck der deutschen Regierung Italien in der Kompensationsfrage bereits zu Dreivierteln entgegengekommen sei, was natürlich übertrieben war, denn mehr als unbestimmte Andeutungen konnten Berchtold nicht entlockt werden. Vielmehr mußte Jagow sich über Merey beschweren, daß er die ihm zugegangenen Weisungen in der Kompensationsfrage nicht ausführe.

Graf Berchtold selbst berichtete im Ministerrat vom 31. Juli, er habe

„den k.u.k. Botschafter in Rom bisher beauftragt, mit vagen Phrasen auf die Kompensationsforderungen zu antworten und dabei immer wieder nachdrücklich zu betonen, daß dem Wiener Kabinett der Gedanke an territoriale Erwerbungen fern liege. Wenn die Monarchie aber dazu gezwungen würde, eine nicht nur vorübergehende Okkupation vorzunehmen, so wäre noch immer Zeit, der Kompensationsfrage näherzutreten.“ (Gooß, S.305.)

Bei dieser hinhaltenden, geradezu äffenden Politik ging natürlich Italien den Mittelmächten verloren.

Viel wichtiger, als Bundesgenossen zu werben, war es indes, aus der Kriegsgefahr selbst herauszukommen.

Angesichts der Mobilisierungen war diese Gefahr so groß geworden, daß der rascheste Weg, ihr zu entrinnen, am ehesten gewählt werden mußte. Dazu könnte sich der Reichskanzler nicht entschließen, wohl Angesichts der Abneigung seines Herrn gegen jede Vermittlung zu vieren und gegen das Haager Schiedsgericht. Noch am 29. Juli, abends, kam jenes bekannte Telegramm des Zaren an, das später so viel Aufsehen erregte, da in dem deutschen Weißlbuch bei Kriegsbeginn, das alle damaligen Zarentelegramme brachte, gerade dieses „vergessen“ wurde. Es lautet:

„Dank für Dein versöhnliches und freundliches Telegramm. Dagegen war die offizielle Mitteilung, die heute von Deinem Botschafter meinem Minister gemacht wurde, in einem ganz anderen Ton gehalten. Ich bitte Dich, diesen Unterschied zu erklären. (Nanu! W.) Es wäre gut, das österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz zu übermitteln. (! W.) Ich vertraue auf Deine Weisheit und Freundschaft. Dein Dich liebender Nicky. (Danke gleichfalls. W.)“

Darauf telegraphierte umgehend Bethmann Hollweg an den Botschafter in Petersburg;

„Bitte Ew. Exz. durch sofortige Aussprache mit Herrn Sasonow angeblichen Widerspruch zwischen Ihrer Sprache und dem Telegramm S.M. aufzuklären. Der Gedanke der Haager Konferenz wird natürlich in diesem Falle ausgeschlossen sein.

Angesichts dieser Abneigung gegen den direkten Weg zum Frieden blieb nur der indirekte übrig, der des Drucks auf das schwerfällige bornierte Österreich, in dem der Krieg bereits alle militaristischen Instinkte entfesselt hatte.

In der Nacht vom 29. zum 30. Juli war man nicht mehr so ängstlich bestrebt, wie noch am 28. jeden Eindruck zu vermeiden, „als wünschten wir Österreich zurückzuhalten“. (Vergl. S.95.)

Am 30. Juli, 3 Uhr morgens, wurde dem Botschafter in Wien vom Reichskanzler das Telegramm Lichnowskys mit Greys Warnung mitgeteilt und daran folgende Ausführungen geknöpft:

„Wir stehen somit, falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflcgration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden und wir zwei gegen vier Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs politisches Prestige, die Waffenehre seiner Armeen, sowie seine berechtigten Ansprüche Serbien gegenüber fiönnten durch Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegenüber starJi machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung des V/iener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Österreich und uns eine ungemein schwere.“

Noch energischer klingt in seinem Schlüsse das Telegramm, das der Reichskanzler dem Botschafter in Wien zur selben Stunde, 30. Juli 2:55 morgens, unter Mitteilung eines Berichts aus Petersburg sandte:

„Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustauschs mit Petersburg aber würde schwerer Fehler sein, da er kriegerisches Eingreifen Auslands geradezu provoziert, das zu vermeiden Österreich-Ungarn in erster Linie interessiert ist.“

Das Telegramm fuhr fort:

„Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint Wien unsere Ratschläge zu mißachten.

Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst auszusprechen.“

Österreich setzte dem deutschen Drängen passive Resistenz entgegen. Das brachte Bethmann Hollweg nachgerade zur Verzweiflung. Am 30. Juli um 9 Uhr abends sandte er an Tschirschky in Wien ein Telegramm; Nr.200.

„Wenn Wien, wie nach dem telephonischen Gespräch Ew. Exz. mit Herrn v. Stumm anzunehmen, jedes Einlenken in Sonderheit den letzten Greyschen Vorschlag ablehnt, ist es kaum mehr möglich, Rußland die Schuld an der ausbrechenden europäischen Konflagrction zuzuschieben. S.M. hat auf Bitten des Zaren die Intervention in Wien übernommen, weil er sie nicht ablehnen konnte, ohne den unwiderleglichen Verdacht zu erzeugen, daß wir den Krieg wollen. Das Gelingen dieser Intervention ist allerdings erschwert dadurch, daß Rußland gegen Österreich mobilisiert hat. Dies haben wir heute England mit dem Hinzufügen mitgeteilt, daß wir eine Aufhaltung der russischen und französischen Kriegsmaßregeln in Petersburg und Paris bereits in freundlicher Form angeregt haben, einen neuen Schritt in dieser Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, das den Krieg bedeuten würde. Wir haben deshalb Sir Eduard Grey nahegelegt, seinerseits nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken und erhalten soeben seine entsprechende Zusicherung durch Lichnoivsky. Glücken England diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt, so dokumentiert Wien, daß es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Rußland schuldfrei bleibt. Das ergibt für uns der eigenen Nation gegenüber eine ganz unhaltbare Situation, Wir können deshalb nur dringend empfehlen, daß Österreich den Greyschen Vorschlag annimmt, der seine Position in jeder Beziehung wahrt.

Ew. Exz. wollen sich sofort nachdrücklichst in diesem Sinne Graf Berchtold, eventuell auch Graf Tisza gegenüber äußern.“

Man kann auch bei diesem Telegramm in Zweifel sein, ob es Bethmann Hollweg mehr darum zu tun war, den Frieden zu erhalten oder die Verantwortung für den Krieg Rußland zuzuschieben. Aber der Druck auf Wien war da, und er sollte schließlich doch im Sinne des Friedens wirken.

Nun stieß dieser Druck auf den ebenso hartnäckigen wie tückischen Widerstand Österreichs, das sich durchaus nicht scheute, den deutschen Bundesgenossen ebenso zu betrügen wie die übrige Welt, indem es dessen Drängen zum Schein nachgab, in Wirklichkeit aber nichts Ernsthaftes tat.

In dem Wiener Ministerrat vom 31. Juli berichtete Graf Berchtold:

„Seine Majestät haben den Antrag genehmigt, daß das Wiener Kabinett zwar sorgsam vermeide, den englischen Antrag in meritorischer Hinsicht anzunehmen, daß es aber in der Form seiner Antwort Entgegenkommen zeige und dem Wunsche des deutschen Reichskanzlers, die (englische) Regierung nicht vor den Kopf zu stoßen, auf diese Weise entgegenkomme.“

Der Herr Graf fügte hinzu:

„Wenn die Aktion jetzt nur mit einem Prestigegewinn endigte, so wäre sie nach der Ansicht des Vorsitzenden. (Berchtold) ganz umsonst unternommen worden. Die Monarchie hatte von einer einfachen Besetzung Belgrads gar nichts, selbst wenn Rußland hierzu seine Einwilligung geben würde.“

Berchtold teilte seine Ansicht mit, auf den englischen Vorschlag in sehr verbindlicher Form zu antworten, dabei aber Bedingungen ru stellen, deren Ablehnung er voraussehen mußte, und zu vermeiden, auf den „meritorischen Teil“, das heißt, aus dem osterreich-parlamentarischen Kauderwelsch ins deutsche übersetzt, auf die Sache selbst einzugehen.

Tisza schloß sich Berchtold vollständig an. Er wrar ebenfalls der Ansicht,

„daß es verhängnisvoll wäre, auf das Meritum, (das heißt, den Inhalt) des englischen Vorschlags einzugehen. Die Kriegsoperationen gegen Serbien müßten jedenfalls ihren Fortgang nelimen. Es frage sich aber, ob es notwendig sei, schon jetzt die neuen Forderungen an Serbien den Mächten überhaupt bekanntzugeben, und er würde vorschlagen, die englische Anregung dahin zu beantworten, daß die Monarchie prinzipiell bereit wäre, derselben näher zu treten, jedoch nur unter der Bedingung, daß die Operationen gegen Serbien fortgesetzt würden und die russische Mobilisierung eingestellt werde.“

Diese tatsächliche Verhöhnung des Friedcnsvorschlags fand die einstimmige Zustimmung des sauberen Ministerrats.

Daß die deutsche Regierung auch für diese perfide Politik Österreichs, jede Friedensvermittlung scheltern zu lassen, verantwortlich gemacht wurde, darf nicht wundernehmen, angesichts ihres engen Zusammenarbeitens mit dem Bundesgenossen und ihrer anfänglichen Unterstützung seiner Friedenssabotierung. Aber an dieser Schlußsünde, die den Krieg unvermeidlich machte, ist sie unschuldig. Ihr Schuldkonto ist auch ohnedem schwer genug belastet.

Nach dem 29. suchte sie den Frieden zu retten. Das eine Hindernis, das sie dabei fand, war, wie wir gesehen, die österreichische Regierung.

Aber sie fand noch ein anderes, mächtigeres und ihr näher liegendes.

Der letzte Auftrtig des Reichskanzlers an Tschirschky, die Aufforderung, Österreich zur Nachgiebigkeit zu drängen, von dem wir hier gesprochen, kam nicht zur Ausführung. Am 30. Juli, 9 Uhr abends ging die Depesche ab, um 11 Uhr 20 Min. eilte ihr bereits eine zweite nach, die sagte:

„Bitte Instruktion Nr.200 vorläufig nicht auszuführen.“

Was war inzwischen geschehen?

Die Antwort gibt folgendes Telegramm des Reichskanzlers an den Botschafter in Wien:

„Ich habe Ausführung der Instruktion Nr.200 sistiert, weil mir Generalstab soeben mitteilt, daß militärische Vorbereitungen unserer Nachbarn namentlich im Osten zu schleuniger Entscheidung drängen, wenn wir uns nicht Überraschungen aussetzen wollen. Generalstab wünscht dringend über dortige Entschließungen namentlich über diejenigen militärischer Art in definitiver Weise möglichst unverzüglich unterrichtet zu werden. Bitte dringend vorstellig zu werden, daß wir Antwort morgen erhalten.“

Auch dieses Telegramm wurde nicht abgesandt, sondern durch ein anderes ersetzt, in dem das Sistieren der Instruktion mit dem Eintreffen eines Telegramms des Königs von England erklärt wurde. Aber es ist nicht daran zu zweifeln, daß die erste Erklärung die richtige war. Man scheute wohl davor zurück, eine derartige Einiwirkung des Generalstabs auf die äußere Politik zuzugeben. In ihm tritt ein neuer Faktor hervor, der entscheidend wird für den Ausbruch des Krieges.


Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008