Karl Kautsky

Wie der Weltkrieg entstand


20. Die Revolutionierung der Welt


Die ganze Kriegspolitik Wilhelms und seiner Leute war von Anfang an auf falschen Voraussetzungen aufgebaut gewesen. Sie hatten sich zur Teilnahme an dem serbischen Abenteuer entschlossen in der Erwarttmg, es werde den Mittelmächten einen leichten Triumph über Rußland und wohl auch Frankreich bringen. Beide Mächte unzureichend genistet, würden entweder den Schlag, den Österreich der russischen Macht auf dem Balkan versetzte, ruhig hinnehmen; oder, wenn sie sich zu einem Kriege hinreißen ließen, würden sie leicht besiegt werden, da Italien und Rumänien hinter Deutschland ständen und England neutral bleiben werde. So würde Deutschland auf Jeden Fall Ruhm und Macht gewinnen. Wenn der Konflikt zum Krieg würde, stand auch Landgewinn in Aussicht.

Da, am 29. Juli, stellte sichs heraus, daß die Rechnung falsch war. Es war zu befüchten, daß im Falle des Krieges gegen Rußland und Frankreich Rtunänien und Italien nicht mittaten, und vor allem Englands aktive Gegnerschaft eintrat. Nun drohte das Spiel gefährlich zu werden. Von da an trachtete Bethmann aus ihm mit heiler Haut herauszukommen, aber nun war’s zu spät. Österreich hatte den Krieg gegen Serbien bereits begonnen, tmd mit seiner eigenen Mobilisierung den Wettlauf der Kriegsvorbereitungen eröffnet, und als er aus diesem gefährlichen Stadium herauswollte, stieß Bethmann auf den Widerstand der österreichischen Regierung und des eigenen Generalstabs, der aus jener geepannten Situation nur noch einen Ausweg sah: raschestes Losschlagen. Und schließlich verlor er völlig den Kopf und goß Öl ins Feuer, das er zu löschen wünschte. So wurde aus dem frivolen serbischen Abenfeuer die entsetzliche Tragödie des Weltkriegs.

Aber wie die diplomatische Berechnung Bethmann Hollwegs vom Anfang Juli, erwies sich die militärische Moltkes vom Ende des gleichen Monats als falsch.

Das rasche Losschlagen konnte den Sieg nur sichern unter der Voraussetzung, daß Belgien sich widerstandslos unterwarf und den deutschen Durchzug ohne Gegenwehr gestattet. Dann lag der Erfolg Deutschlands nahe, gerade deswegen, weil die Begründung des deutschen Einfalls in Belgien eine erfundene war, das beißt, weil die Franzosen an ihrer Nordgrenze keine starken Truppenaufgebote stehen hatten.

Wehrte sich Belgien nicht, dann durfte die deutsche Heeresleitung erwarten, mit einigen entscheidenden Schlägen schleunigst bis nach Paris und Calais zu dringen, Frankreich zum Frieden zu zwingen und nicht minder England, dessen Eingangstor, Dover, in das Bereich der weittragenden deutschen Geschütze geriet, die dort die Passage über den Kanal beherrschten. Mit Rußland fertig zu werden, war keine schwere Aufgabe mehr.

Aber Belgien leistete Widerstand. Er wurde natürlich gebrochen, gab aber den Franzosen Zeit, ihre Nordgrenze besser zu bewehren. In der Marneschlacht kam der deutsche Vormarsch zum Stehen und damit war die militärische Voraussicht des Sieges ebenso zunichte gemacht, wie früher schon die politische. Die Fortsetzung des Krieges gegen die Übermacht, die von da an von Tag zu Tag wuchs, mußte nun zu jenem Verbluten Deutschlands führen, das Wilhelm schon am 30. Juli 1914 vorausgesehen, zwei Tage bevor er Rußland den Krieg erklärte. Das furchtbare Ringen ging nur noch darum, ob mit Deutschland auch seine Gegner verbluten sollten oder nicht. Bei Rußland ist dies edle Ziel vollauf erreicht worden. Nicht ganz so gelang es mit Frankreich und Italien, noch weniger mit England und schon ganz und gar nicht mit Amerika und Japan, die im Gegenteil enorm gewannen.

Und es ist ein Glück, daß der Krieg nicht zum Verbluten der ganzen Welt führte, denn wer wäre dann übrig geblieben, den Verblutenden die Wunden zu verbinden und ihnen Nahrung einzuflößen?

Von dem Tage an, daß Belgien sich zum Widerstand entschloß und England in den Krieg eintrat, wurde Deutschlands Lage eine verzweifelte.

Das erkannte man sofort im deutschen Generalstab und er zog ohne weiteres in seiner Art die Konsequenzen daraus. Das bezeugt unter anderm eine Denkschrift, die der Chef des Generalstabs dem Auswärtigen Amt tun 5. August zusandte und in der die Kriegspolitik festgelegt wird – ein neuer Beweis dafür, daß der Leiter der deutschen Politik nunmehr der Chef des Generalstabs war und nicht der Reichskanzler, der nur noch des ersteren Aufträge auszuführen hatte. Die Denkschrift lautete:

„Die Kriegserklärung Englands, die nach sichern Nachrichten von Beginn des Konflikts an beabsichtigt war, zwingt uns, alle Mittel zu erschöpfen, die zum Siege beitragen können. Die ernste Lage, in der das Vaterland sich befindet, macht die Anwendung jedes Mittels zur Pflicht, das geeignet ist, den Feind zu schädigen. Die skrupellose Politik, die unsere Gegner gegen uns führen, berechtigt zu rücksichtslosem Vorgehen.

Die Insurrektion Polens ist eingeleitet. Sie wird auf fruchtbaren Boden fallen, denn schon jetzt werden unsere Truppen in Polen fast als Freunde begrüßt. In Wloclavek z.B. sind sie mit Salz und Brot empfangen.

Die Stimmung Amerikas ist Deutschland freundlich. Die amerikanische öffentliche Meinung ist empört über die schmachvolle Art, in der man gegen uns vorgegangen ist. Diese Stimmung gilt es rtach Kräften auszunutzen. Die einflußreichen Persönlichkeiten der deutschen Kolonie müssen aufgefordert werden, die Presse weiter in unserem Sinne zu beeinflussen. Vielleicht lassen sich die Vereinigten Staaten zu einer Flottenaktion gegen England veranlassen, für die ihnen als Siegespreis Kanada winkt.

Von höchster V/ichtigkeit ist, wie ich schon in meinem Schreiben vom 2. d.Mts. Nr.1 P ausführte, die Insurrektion von Indien und Ägypten, auch im Kaukasus. – Durch den Vertrag mit der Türkei wird das Auswärtige Amt in der Lage sein, diesen Gedanken zu verwirklichen und den Fanatismus des Islam zu erregen.

(gez.) v. Moltke“

Wir sehen davon ab, daß Herr v. Moltke dem Reichskanzler sogar zumutete, ohne jeden Beweis, auf das bloße Vorgeben „sicherer Nachrichten“ hin, eine Behauptung gläubig hinzunehmen, wie die, daß „Englands Kriegserklärung von Beginn des Konflikts an beabsichtigt war“.

Furchtbarer ist es, daß der Generalstab schon im Anfange des Krieges aus der verzweifelten Lage, in die er Deutschland durch seine eigene Politik gebracht hatte, nicht den Schluß zog, den jeder vernünftige Zivilist gezogen hätte, wenigstens solange, als er nicht selbt vom militaristischen Kriegsfieber angesteckt war, daß man trachten müsse, das Reich so rasch als möglich durch eine Politik der Versöhnlichkeit und des ausgesprochenen Verzichts auf jegliche Eroberung aus dieser gefahrvollen Lage zu befreien, sondern daß er schloß, nun gelte es, jedes Mittel in Anwendung zu bringen, das den Feind schädigen konnte, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, und aufs schonungsloseste vorzugehen. Damit beschritt er jene Bahn wohlüberlegter Scheußlichkeiten, die militärisch nichts halfen, da sie vom Gegner nachgeahmt werden konnten und dann oft mit verstärkter Wucht auf die Armee und das Volk Deutschlands zurückfielen, die aber vor allem das Ansehen Deutschlands in der Welt vollends ruinierten. Hatte ihm der Einfall in Belgien die letzten Freunde geraubt, so verwandelten die sofort gerade in Belgien einsetzenden Scheußlichkeiten der deutschen Kriegführung den Respekt, den ehemals Deutschlands Leistungen sogar bei seinen Gegnern erzeugt hatten, in wütenden Haß und wegwerfende Verachtung selbst bei den Neutralen, und erzeugten jene Stimmung, die es schließlich ermöglichte, daß nicht nur Amerika in den Krieg eintrat, sondern daß die Sieger am Ende uns Friedensbedingungen von ausschweifendster Härte auferlegen durften, ohne ausreichenden Widerstand bei ihren Völkern zu finden.

Aus einer selbst herbeigeführten Not geboren, die glaubte, kein Gebot anerkennen zu müssen, hat diese Kriegführung die deutsche Not auf den Gipfel gesteigert.

Noch eines ist an den Ausführungen Moltkes bemerkenswert. Sie spinnen einen Gedanken weiter, der Wilhelm bereits am 30. Juli in seiner ersten Bestürzimg über Englands Warnung aufgedämmert war. Schon damals hatte er die Revolutionierung der Mohammedaner und Indiens, wenn nicht zur Rettung Deutschlands, so zur Ruinierung Englands ins Auge gefaßt. Moltke fügt hinru die Insurrektion Polens. Und er hofft die Vereinigten Staaten zu gewinnen, indem er ihnen Kanada in Aussicht stellt! Diese sinnreiche Politik wurde im Kriege immer weiter getrieben. Da die Vereinigten Staaten nicht zu gewinnen waren, stellte man nun Mexiko einige Staaten der Union in Aussicht. Gleichseitig aber suchte man Regung bei den Rebellen Irlands, bei Anarchisten Italiens, Dynamitern in Amerika und schließlich bei den Bolschcwisten Rußlands, die alle nach Kräften vom deutschen Generalstab gefördert wurden.

Man sieht, Lenin und Trotzki sind nicht die ersten, die in der durch ihre Emissäre herbeigeführten Weltrevolution die Rettung aus einer unmöglichen Situation sahen. Wilhelm und Moltke waren ihnen damit vorausgegangen.

Wie jede Aktion ihrer Weltpolitik vollzogen sie auch diese ohne jegliche tiefere Kenntnis der Welt, die sie beherrschen oder bewegen wollten. Sie wendeten die ungeeignetsten Mittel an, riefen die ungeeignetsten Faktoren zu Hilfe, ließen sich von den unerfüllbarsten Erwartungen leiten.

Ein Pröbchen der Art, wie man die mohammedanische Welt zu rebellieren suchte, erzählt Bernhard Shaw in seinen Peace Conference Hints (London 1919, S.90):

„In der ersten Zeit des Krieges wünschte die deutsche Regierung eine Rebellion gegen die Franzosen in Marokko und Algier hervorzurufen und verbreitete zu diesem Zweck eine Flugschrift in bestem Arabisch, in der es hieß, ich (Shaw) sei ein großer Prophet und ich hätte einmal einem amerikanischen Senator gesagt, die Verletzung der belgischen Neutralität sei eine Episode des Krieges und nicht seine Ursache. Es ist mir ganz unmöglich, jenen Weg des deutschen Denkens zu verfolgen, der zu dem Schluß führte, irgend ein maurischer Scheik könnte veranlaßt werden, die Waffen zu ergreifen, weil irgend ein Hund von einem Ungläubigen zu einem andern Hund von einem Ungläubigen eine Bemerkung machte, die für einen Marokkaner weder von Interesse noch überhaupt verständlich sein konnte. Aber die Deutschen waren dieser Meinung und gaben Geld dafür aus.“

Sie verloren dabei leider nicht nur Geld, sondern auch ihren guten Namen, denn sie beschränkten sich nicht darauf, Flugblätter bei den Feinden zu verbreiten, sie benutzten auch den Schutz der Exterritorialität ihrer Vertretungen bei den Neutralen, um Attentate der verschiedensten Art auf Leben und Eigentum der feindlichen Zivilbevölkerung hervorzurufen.

Erfolg hatten sie nicht, außer im Osten. Wie die deutsche Politik, mit Deutschland zusammen auch seine Gegner verbluten zu lassen, nur in Rußland zu dem angestrebten Ziel gelangte, so erreichte sie auch nur dort ihr Ziel der Revolutionierung der Bevölkerung. Die beiden Ziele hingen eben aufs engste mit einander zusammen, und dem russischen militärischen Zusammenbruch wäre der Sturz des Zarismus gefolgt auch ohne die Förderung des Bolschewismus durch die deutsche Regierung.

Die Borniertheit der deutschen Politik zeigte sich hier auch wieder darin, daß sie nicht merkte, wie sie in dem Bestreben, das Haus des Nachbarn anzuzünden, das eigene in Flammen stockte.

Sie huldigte dem Aberglauben, den sie allerdings mit vielen Anhängern der Weltrevolution gemein hat, als ließen sich Revolutionen durch geschickte und rührige Emissäre, die über die notigen Geldmittel verfügen, nach Belieben hervorrufen. Sic fügte dem aber noch den weiteren Aberglauben hinzu, als könne man die Geister, die man rief, nach Belieben kommandieren und, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, wieder in die Ecke stellen.

Es war unglaublich kurzsichtig von einer deutschen kapitalistisch- großagrarischen Militärmonarchie, die den Antimilitarismus und die proletarische Revolution haßte wie die Sünde, die schärfsten Verfechter der proletarischen Revolution und der Auflosung der militärischen Subordination zu fordern, wie es die Bolschewiki im Stadium ihres Kampfes um die politische Macht waren. Die russische Revolution und namentlich ihr zweiter Akt, der Sieg des Bolschewismus, hat auf das deutsche Proletariat und auch auf die deutsche Armee den tiefsten Eindruck gemacht und ihre revolutionäre Entschlossenheit gewaltig erhöht.

Daß bei den deutschen Generalstäblern ihre frühere Liebe zu den Bolschewisten sich dann in den grimmigsten Haß verwandelte, hat die revolutionäre Rückwirkung des Bolschewismus auf Deutschland nicht vermindert, sondern vielmehr gesteigert. So sind die Machthaber, die den Weltkrieg entzündet haben, schließlich mit ihren eigenen Waffen geschlagen worden. Insofern war die Weltgeschichte wieder einmal das Weltgericht, was ihr nicht oft passiert, denn die Welt ist durchaus nicht teleologisch eingerichtet.

Wilhelm hatte den Zusammenbruch bereits am 30. Juli geahnt, ehe von ihm noch der Krieg erklärt war. Wenn die Pompadour das Wort gesprochen haben soll : „Nach uns die Sintflut“, so dürfte man bei Wilhelm das Wort dahin variieren: „Durchhalten bis zur Sintflut“.


Zuletzt aktualisiert am: 26.11.2008