Karl Kautsky

Neue Programme


6. Die Befestigung der Demokratie


Ist das bisher hier ausgeführte richtig, dann hat unser Wahlspruch für die kommenden Kämpfe gegen die Hitlerei nicht zu lauten: „Vorwärts zu einer neuen Diktatur“, sondern: „Zurück zur Demokratie“. – Trotz des „mitleidigen Lächelns“, mit dem Genosse X jedem begegnet, der noch über Demokratie redet. Doch in einem Punkte gebe ich Genossen S recht: „Kein Gott kann die Weimarer Verfassung wieder herstellen“. Das heißt, wir haben nicht deren bloße Wiederherstellung als unser Kampfziel zu verkünden. Sie hat zahlreiche Mängel geoffenbart, die wir nicht zu erneuern haben. Doch sehe ich diese Mängel anderswo, als Genösse X. Nicht in ihren demokratischen, sondern ihren nicht demokratischen Elementen. Diese, nicht jene waren es, die Ansatzpunkte für eine Diktatur boten und daher nicht zu erneuern sind. Dabei will ich die Bedeutung dieser Punkte für das Aufkommen Hitlers nicht übertreiben. In letzter Linie werden politische Kampfe nicht durch Verfassungsparagraphen entschieden, sondern durch die realen Machtverhältnisse der Parteien und der hinter ihnen stehenden Klassen. Aber man darf da Verfassungsbestimmungen auch nicht unterschätzen. Für die Art, wie politische Kämpfe ausgefochten werden, sind sie von größter Bedeutung. Und wo nicht eine ausgesprochene Übermacht einer einzelnen Partei besteht, sondern die Kräfte einander annähernd die Waage halten, kann die Art der Verfassung auch auf ein politisches Endergebnis bestimmend einwirken. Sie kann die eine Partei begünstigen, die andere hemmen.

Die Verfassung der deutschen Republik vom 11. August 1919 ist im Gegensatz zur zusammengebrochenen Militärmonarchie der Hohenzollern erstanden. Aber aus den verschiedensten Gründen, teils der inneren, teils der äußeren Politik, wurde der Bruch mit der Vergangenheit nicht weitgehend genug vollzogen – das war übrigens früher schon auch in den Verfassungen anderer Republiken der Fall, die aus Monarchien entstanden.

So weisen z. B. fast alle diese Republiken – im Gegensatz zur Schweiz – einen Monarchenersatz auf, einen Präsidenten. Auch die deutsche Republik glaubte ohne einen solchen nicht auskommen zu können. Noch mehr. Sie gab ihm eine Stellung, die weit einflußreicher war, als etwa die des Präsidenten der französischen Republik; ja, die ihm mehr Befugnisse verlieh, als sie der König von England besitzt. Er wurde vom Volke selbst erwählt, nicht von der Volksvertretung, stand ihr dadurch als ein selbständiger Machtfaktor gegenüber. Dabei wurde ihm der Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht zuerkannt, die er gegen einzelne Reichsteile nach eigenem Ermessen anwenden darf. Und überdies hat er die Befugnis, einzelne Artikel der Verfassung „vorübergehend“ außer Kraft zu setzen.

Der Präsident des Reichs bekam damit eine Stellung, ähnlich der, die die Verfassung der französischen Republik von 1848 für ihren Präsidenten festsetzte, der sich 1852 zum Kaiser machte. Die damaligen Erfahrungen wurden von den Vätern der deutschen Verfassung 1919 in den Wind geschlagen. In Weimar hat man wohl hauptsächlich die Verfassung der Vereinigten Staaten im Auge gehabt, die dem Präsidenten weit größere Befugnisse einräumt, als sie der Präsident der heutigen französischen Republik genießt. Man vergaß dabei eines: in Amerika durfte man ohne Gefährdung der Republik dem Präsidenten so bedeutende Rechte gegenüber der Volksvertretung verleihen, weil die Vereinigten Staaten keine stark zentralisierte Staatsverwaltung kennen und die Bevölkerung durch Jahrhunderte lange Gewöhnung frei von jedem Geist der Untertänigkeit gegenüber den Behörden ist. Und obendrein ist die Bundesarmee winzig.

Am besten für eine moderne Republik ist es, sich ohne jede persönliche Spitze zu behelfen. Die Volksvertretung, die die Gesetze macht, muß auch die Exekutive einsetzen, die sie durchzuführen hat. Wo der Präsident und die von ihm ernannte Regierung der Volksvertretung als selbständiger Faktor gegenübersteht, wird es ihm unter besonderen Umständen möglich, das Parlament auszuschalten und ohne ein solches zu regieren. Die Weimarer Verfassung ermöglichte es, daß der Kampf gegen Hitler sich schließlich auf die Alternative Hindenburg-Hitler zuspitzte. Damit hatte die Diktatur schon über die Demokratie gesiegt. Also weg mit der Präsidentschaft! Wahl der Regierung durch die Volksvertretung.

Ebenso undemokratisch, wie die Präsidentschaft ist die Einrichtung eines stehenden Berufsheeres. Die Demokratie fordert die Miliz. Allerdings kennen die Vereinigten Staaten auch ein stehendes Heer. Doch ist es wenig zahlreich und neben ihm besteht noch die Miliz. Daß in der deutschen Republik von einer solchen abgesehen wurde, ist nicht die Schuld des Weimarer Verfassungswerks, sondern des Versailles Friedens. Dessen Urheber glaubten besonders schlau zu sein und das deutsche Volk zu jedem Angriffskrieg unfähig zu machen, indem sie bestimmten, es müsse völlig wehrlos sein, mit Ausnahme eines kleinen stehenden Heeres von 100.000 Mann. Sie bewirkten damit nur, daß das deutsche Volk wehrlos wurde gegenüber seinen eigenen Militaristen und daß die aufgezwungene Wehrlosigkeit Aufstellung geheimer Privatarmeen veranlaßte, geführt von Militaristen und Nationalisten. Die demokratischen Parteien suchten der Wehrlosigkeit des Volkes allen diesen antidemokratischen Streitkräften gegenüber durch die Errichtung eigener Abwehrformationen abzuhelfen. Aber auf diesem Gebiete sind die privaten und die staatlichen Militaristen den arbeitenden Klassen über.

Wenn die Hitlerschen Banden in Deutschland zur Allmacht kamen, ist das nicht zum wenigsten dem Versailler Friedensvertrag zuzuschreiben, der das deutsche Volk wehrlos machte. Das heißt, dieser Vertrag stärkte gerade die Militaristen gegenüber den Pazifisten, technisch und moralisch. Er machte die Pazifisten, wehrlos, andrerseits erfüllte das Bewußtsein der aufgezwungenen Wehrlosigkeit zahlreiche sonst friedlich gestimmte Volkskreise mit dem Drang nach Abschüttlung des Friedens Vertrags.

Aufhebung der Reichswehr und der privaten Armeen, ihre Ersetzung durch eine allgemeine Volksbewaffnung ist noch wichtiger, als die Beseitigung der Präsidentschaft. [1]

Das allein wird indes nicht genügen, die Demokratie zu sichern. Der ganze Staatsapparat muß gründlich umgeändert werden. Er ist hervorgegangen aus der Militärmonarchie, war deren Bedürfnissen angepaßt. Die Revolution von 1918 und die aus ihr hervorgegangene Republik haben diesen Apparat nicht genügend umgestaltet. Ob dazu die Kraft oder die Einsicht der demokratischen Parteien fehlte, braucht hier nicht untersucht zu werden. Jedenfalls ist auf diesem Gebiet radikal vorzugehen, wenn es gelingt, die Hitler Diktatur zu überwinden.

Schon 1871 hatte Marx bemerkt, daß „die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent“ darin besteht, „nicht mehr, wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu Übertragen, sondern sie zu zerbrechen“. (Brief an Kugelmann, 12. April 1871)

Das ist das gerade Gegenteil dessen, was die Verfechter einer sozialdemokratischen Diktatur wollen. Sie möchten die „bürokratisch-militärische Maschinerie“ aus der Hand Hitlers in unsere Hand „übertragen“, um mit ihrer Hilfe die „wirkliche Volksrevolution“, die Aufhebung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu vollziehen.

Auf die Ersetzung der überlieferten militärischen Maschinerie der Militärmonarchie durch die Miliz haben wir bereits hingewiesen. Sie dürfte relativ einfach sein. Weniger einfach die Umwandlung der „bürokratischen Maschinerie“. Das Verlangen danach stößt auf eine andere, ihm entgegengesetzte Tendenz, die dem Staat immer mehr Aufgaben zuweist, ökonomische, hygienische und andere. Der Sieg der Sozialdemokratie kann diese Aufgaben des Staates nicht einschränken, er wird sie noch gewaltig erweitern. Aber das braucht die Allmacht der staatlichen Bürokratie nicht zu vermehren. Gerade das Wachstum der staatlichen Aufgaben macht es vielmehr besonders wichtig, dem Staat seinen zentralistisch-bürokratischen Charakter zu nehmen. Denn dieser verwandelt jegliche Staatswirtschaft in eine unerträgliche Sklaverei, eine schlimmere Sklaverei, als die kapitalistische, er macht aber auch die Staatswirtschaft zu einer der schwer fälligsten Arten von Zwangswirtschaft, die ökonomisch tief unter der kapitalistischen steht.

Kein Großbetrieb ist möglich, ohne einen ausgedehnten Verwaltungsapparat, eine „Bürokratie“. Je größer der Staat, je zahlreicher seine Funktion, desto zahlreicher seine Bürokratie. Das ist nicht zu ändern. Aber die staatliche Bürokratie will nicht bloß verwalten, sondern kommandieren; sie strebt die Machtlosigkeit des Volkes ihr gegenüber an. Das erreicht sie am sichersten dort, wo sie jede Tätigkeit freier Organisationen neben der ihrigen unmöglich macht. Die organisationslose Bevölkerung steht ihr dann wehrlos gegenüber.

Das erreichte sie im Absolutismus des 18. und dem der Anfänge des 19. Jahrhunderts. Das erreicht sie wieder in den Diktaturen seit dem Kriege. Dem gegenüber gilt es auf der einen Seite die Einheitlichkeit der zentralisierten Staatsbürokratie zu durchbrechen durch weitgehende Autonomie der Gemeinden und Provinzen oder Länder – nur dürfen diese nicht so groß sein, daß sie einen besonderen Staat im Staate bilden, wie etwa Preußen und auch Bayern im deutschen Reich. Die Männer der französischen Revolution von 1789 verliehen den Departements vollkommene Selbstverwaltung. Sie machten aber jedes Departement so klein, daß es aus eigener Kraft nicht bestehen konnte.

Andrerseits muß der Bevölkerung völlige Organisationsfreiheit zugestanden werden in Gewerkschaften, Genossenschaften, Parteien etc.

Dabei strebt der Sozialismus wohl darnach, diejenigen Produktionsmittel, die nicht individuell, sondern gesellschaftlich bewirtschaftet werden, aus Privateigentum in Gemeineigentum zu verwandeln. Aber Marx und Engels haben sich stets gehütet, darunter eine allgemeine Verstaatlichung der Produktion zu verstehen. Sie sprachen von ihrer „Vergesellschaftlichung“, heute sagt man Sozialisierung, nicht ihrer Verstaatlichung.

Schon 1902 in meiner Schrift über den Tag nach der Revolution wies ich darauf hin, daß Großbetriebe mit bloß lokaler Bedeutung am besten von Gemeinden oder Gemeindeverbunden bewirtschaftet würden. Die Produktion für den persönlichen Konsum werde am besten durch die Eigenproduktion von Konsumgenossenschaften betrieben.

Nur ein Teil der großen Betriebe der Produktion und des Verkehrs wird in den Besitz des Staates übergehen müssen, soweit das nicht schon geschehen ist, wie bei den meisten Eisenbahnen. Aber auch deren Verwaltungsapparat wird, wenn sie gedeihen sollen, in hohem Maße autonom werden müssen mit möglichst weitgehender Selbstverwaltung der einzelnen Betriebe und der ganzen Produktionszweige.

Ist das alles durchgeführt, Aufhebung der Präsidentschaft, Einführung der Miliz, Dezentralisierung des Staatsapparats, möglichst weitgehende Selbstverwaltung der einzelnen Organisationen im Staat, dann ist die „formale“ Demokratie – Freiheit der Presse, des Wortes, der Versammlungen, der Wahlen, der Volksvertretungen – auf das festeste gesichert – wenigstens bei einer Bevölkerung, die gelernt hat, selbständig zu denken und zu handeln, was bei den Deutschen doch der Fall ist.

Eine derartige Stabilisierung der Demokratie, das muß unsere dringendste Sorge sein, sobald es gelungen ist, die Hitlerdiktatur niederzuwerfen. Sie ist, wie schon Marx vor einem halben Jahrhundert gesagt hat, die unerläßliche Vorbedingung jedes Aufstiegs zum Sozialismus. Es heißt das Pferd hinten am Wagen anspannen, wenn man die Sache umgekehrt machen, den Sozialismus durch Aufrichtung einer neuen Diktatur erreichen will. Eine solche verrammelt alle Wege des sozialistischen Aufstiegs, mag sie ihn auch noch so eifrig wünschen, planen, kommandieren.


Anmerkung

1. Dies wurde geschrieben, lange bevor ich den Artikel Richard Kerns im Wiener Kampf über Krieg, Abrüstung und Internationale kennen lernte. Ich stimme diesem bemerkenswerten Artikel in allen wesentlichen Punkten vollkommen zu, obwohl er sich gegen die Miliz ausspricht. Er geht eben von ganz anderen Voraussetzungen aus, als ich. Er untersucht die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht in Milizform, in Hitlerdeutschland eingeführt, ein Faktor der Friedenserhaltung wäre, und er verneint mit vollem Recht diese Frage. Aber ich fordere die Miliz nicht für die Länder der Diktatur, sondern der Demokratie. Ich fordere sie als Teil jenes Zustandes, den wir im deutschen Reich nach der Niederwerfung der Hitler-Diktatur herbeizuführen haben.

Das ist keineswegs unvereinbar mit R. Kerns Wunsch, die demokratischen Regierungen ebenso wie die sozialistische Internationale sollten erklären, daß mit kriegslüsternen Diktaturen auf der Basis der Gleichberechtigung keine Verhandlung möglich sei. Zu den von Kern dafür vorgebrachten Argumenten möchte ich noch das hiezufügen, daß diese Diktaturen von Haus aus aufs tiefste unehrlich und illoyal sind. Hitler soll ein Meister des Wortes sein, er ist sicher ein Meister des Wortbruchs. Diese Herrn erkennen keine andere Bindung an, als die der überlegenen Gewalt.


Zuletzt aktualisiert am: 31. März 2018