Karl Kautsky


Grenzen der Gewalt



I. Defensive und Offensive

Ein so riesenhaftes und fürchterliches Ereignis wie die Erhebung der Februartage in Österreich äußert sich naturgemäß zuerst in höchst intensiven Stimmungen und Erregungen, die sehr verschieden sein können bei den direkt Betroffenen und bei den Zusehern. Die einen sind oft ebenso tief deprimiert wie die andern erhoben. Langsam nur reifen die Bedingungen für eine andere Betrachtungsweise, die unabhängig ist von Stimmungen und Leidenschaften, die auch nicht danach fragt, ob wir zu verurteilen oder zu bewundern haben, sondern die zu begreifen und aus dem Begreifen zu lernen sucht.

Für die Vorkommnisse des Februar in Österreich scheint die Zeit ihrer objektiven Untersuchung, um aus ihnen zu lernen, gekommen zu sein (die vorliegende Arbeit wurde Mitte März begonnen, einen Monat nach den großen Kämpfen und Anfang Mai 1934 abgeschlossen).

In der Tschechoslowakei hat Dr. Emil Franzel schon Anfang März ein Schriftchen erscheinen lassen unter dem Titel „Der Bürgerkrieg in Österreich, eine politisch-militärische Betrachtung“ (Bodenbach a.E.), in der er die Ursachen des Misserfolges der Erhebung zu erforschen sucht.

Nach Franzel seien es zwei Gründe gewesen, die den militärischen Zusammenbruch der Erhebung bewirkten. Einmal die Überzahl der Gegner, dann aber die „tödliche Legalität“ und die reine Abwehrstellung des Schutzbundes. Diese militärisch defensive Haltung sei die Folge einer politischen Ideologie der Defensive, von der die österreichische Sozialdemokratie beherrscht wurde. Eine Insurrektion, die nicht zur Offensive übergehe, sei zum Untergang verurteilt.

Dieser letzte Satz stimmt vollständig mit dem überein, was Engels darüber sagt. Im Jahre 1851 verfasste er eine Artikelserie über Revolution und Konterrevolution in Deutschland für Marx, damit dieser sie in der New York Tribune veröffentliche. Als von Marx herrührend, wurde sie denn auch später englisch und deutsch in Buchform veröffentlicht. Dort spricht Engels (S. 117 der deutschen Ausgabe) vom bewaffneten Aufstand und seinen Regeln. Als solche bezeichnet Engels:

„Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spiels Trotz zu bieten. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern kann; die Streitkräfte, gegen die man zu kämpfen hat, haben den Vorteil der Organisation, Disziplin und der herkömmlichen Autorität ganz auf ihrer Seite; kann man nicht große Gegenmächte dagegen aufbringen, so wird man geschlagen und vernichtet. Zweitens, ist der Aufstand einmal begonnen, dann handle man mit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jeder bewaffneten Erhebung; diese ist verloren, ehe sie sich noch mit dem Feinde gemessen hat.“

Derselbe Engels hat mehr als vierzig Jahre später noch einmal über den Aufstand unter den Verhältnissen der Neuzeit geschrieben. Er tat es wenige Monate vor seinem Tode in seiner Vorrede zu den Marxschen Klassenkämpfen in Frankreich, 1895. Dort heißt es:

„Das Höchste, wozu es die Insurrektion in wirklicher taktischer Aktion bringen kann, ist die kunstgerechte Anlage und Verteidigung einer einzelnen Barrikade. Gegenseitige Unterstützung, Aufstellung, respektive Verwendung von Reserven, kurz, das schon zur Verteidigung eines Stadtbezirkes, geschweige einer ganzen großen Stadt, unentbehrliche Zusammenwirken und Ineinandergreifen der einzelnen Abteilungen wird nur höchst mangelhaft, meist gar nicht zu erreichen sein; Konzentration der Streitkräfte auf einen entscheidenden Punkt fällt da von selbst weg. Damit ist die passive Verteidigung die vorwiegende Kampfform; der Angriff wird sich hier und da, aber auch nur ausnahmsweise, zu gelegentlichen Vorstößen und Flankenanfällen aufraffen, in der Regel aber sich nur auf Besetzung der von der zurückgehenden Truppe verlassenen Stellungen beschränken.“

Hier zeichnet Engels schon 1895 genau das Bild der Kämpfe des Wiener Schutzbundes im Februar 1934. Schon das weist darauf hin, dass dessen defensive Taktik aus der Natur der Dinge entsprang, und nicht aus irgendeiner verfehlten Defensivideologie. Die Engelssche Auffassung von 1895 widerspricht keineswegs der von 1851. Sie begründet bloß, warum er die Erfolgsmöglichkeiten einer bewaffneten Insurrektion 1895 weit geringer einschätzte als 1851.

Was Engels 1851 und 1895 ausführte, gilt auch heute noch, aber mit einer gewaltigen Modifikation, die sich in den letzten vier Jahrzehnten vollzog. Engels rechnete nicht mit dem Generalstreik. Er ebenso wie Marx standen dieser Idee ablehnend gegenüber. Aber seit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, nach Überwindung der großen Krise der siebziger und achtziger Jahre ist das Proletariat stellenweise und unter günstigen Umständen so sehr erstarkt, dass es die ihm eigentümliche entscheidende ökonomische Waffe, den Streik, auch zu politischen Zwecken erfolgreich einzusetzen vermochte. Es kam in die Lage, dadurch geradezu revolutionäre Wirkungen zu erzielen, zuerst 1905 in Russland. Wo er lückenlos war und die große Mehrheit der Bevölkerung sich für ihn begeisterte, indes die Regierung auf schwachen Füßen stand, konnte er siegen, ohne bewaffnete Erhebung. Er konnte mit einer solchen Erhebung zusammenfallen. Nie aber hat seitdem in einem kapitalistischen Staat ein Aufstand in Waffen allein gesiegt, ohne Zusammenhang mit einem überwältigenden Generalstreik.

Dessen Ausbleiben entschied in erster Linie die Niederlage der Wiener Insurgenten in den Februartagen, nicht eine angebliche defensive Ideologie.
 

II. Politische Defensive und Offensive

Wenn die Wiener Kämpfer des Februar nicht zur Offensive übergingen, soll die Schuld daran die allgemeine Defensivideologie der österreichischen Sozialdemokratie tragen. Wie verhält es sich mit dieser Ideologie?

Fast das ganze vorige Jahrhundert hindurch konnte man sagen, der Satz des Kommunistischen Manifestes sei richtig: Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben eine Welt zu gewinnen. Das heißt, sie hatten politisch und ökonomisch im Staate nichts zu verteidigen. Wenn sie in einen politischen oder ökonomischen Kampf eintraten, konnte es nur zu offensiven Zwecken geschehen. Und umgekehrt waren die besitzenden Klassen dem Proletariat gegenüber an der Erhaltung des bestehenden Zustandes interessiert, sie standen also insofern politisch und sozial in der Defensive. Indes selbst damals galt dies nur im großen und ganzen, nicht für jede einzelne historische Situation, und es galt immer weniger, je mehr das Jahrhundert fortschritt, das heißt, je mehr das Proletariat erstarkte und von den herrschenden Klassen Konzessionen ertrotzte.

Wenn Bernstein in seiner revisionistischen Campagne zu Ende des vorigen Jahrhunderts darauf hinwies, dass der oben zitierte Satz des Kommunistischen Manifestes nicht mehr gelte, so hatte er damit ganz Recht. Wohl haben die Proletarier noch immer eine Welt zu gewinnen. Aber sie hatten in vielen Staaten bereits mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Nur bewies das nichts gegen die grundlegenden Sätze dieses Manifests.

Fast in allen Staaten moderner Kultur hatten die Arbeiter eine erhebliche Bewegungsfreiheit erlangt sowie das allgemeine Wahlrecht, Arbeiterschutzgesetze und soziale Versicherungen; sie hatten gewaltige Organisationen aufgebaut, die sie selbst verwalteten und die eine ansehnliche Macht bedeuteten. Durch sie hob sich die Lebenshaltung vieler Arbeiterschichten. Alle diese Errungenschaften wurden den herrschenden Klassen von Tag zu Tag unangenehmer, es mehrte sich zusehends die Zahl derjenigen in ihren Reihen, die darauf ausgingen, den Arbeitern ihre Errungenschaften zu rauben.

Wohl gingen diese Errungenschaften nirgends so weit, die Arbeiter vollständig zu befriedigen. Der Aufstieg der proletarischen Lebenshaltung, so erfreulich er war, vollzog sich weit langsamer als die Zunahme des Reichtums der Kapitalisten. Und der proletarische Aufstieg war nur auf einige Schichten beschränkt, daneben bestand eine große Masse von Elend fort. Vor allem endlich war dieser Aufstieg nicht gesichert, solange die kapitalistische Produktion mit ihren Wechselfällen und Krisen fortbestand und daneben die Feindseligkeit im Bürgertum gegen die proletarischen Errungenschaften wuchs.

Je höher das Proletariat stieg, desto mehr verschärfte sich der Gegensatz zwischen ihm und den ausbeutenden Klassen. Die Gesamttendenz des Proletariats gegenüber den bestehenden Zuständen blieb dabei eine offensive. Indes, je mehr das Proletariat gewann, desto öfter stellten sich Situationen ein, in denen es Errungenschaften zu verteidigen hatte. Und es musste in solchen Fällen nicht nur in der Tendenz, sondern auch in der Taktik zumeist eine defensive Linie einhalten. Denn es ist selbstverständlich, dass die Gegner der proletarischen Errungenschaften am ehesten dann gegen sie Sturm laufen, wenn das Proletariat, durch welche Umstände immer, in seiner Kampfkraft geschwächt oder gar gelähmt ist.

Was von der Taktik des Aufstands im Besonderen, gilt auch von der des Klassenkampfes im Allgemeinen. Ob er jeweilig offensiv geführt wird oder defensiv, hängt nicht vom Belieben der Kämpfenden ab, sondern von Bedingungen, in letzter Linie ökonomischen Bedingungen, die allgewaltig wirken, mit der Wucht von Naturgesetzen. Die einzelnen kämpfenden Individuen und Gruppen können sie nicht nach Willkür abändern oder ignorieren. Je mehr sie sie begreifen und ihnen ihre jeweilige Taktik und ihre nächsten Kampfziele anpassen, um so eher werden sie sich behaupten und zum Schlusse als Sieger aus dem Kampf hervorgehen. Und darauf kommt es an: Bis zum Schlusse durchhalten, um den Kampf siegreich zu beenden. Dagegen ist es ganz verfehlt, vorher schon in einer seiner Phasen alles auf eine Karte zu setzen. Dies bedeutet im Falle der Niederlage die Fortführung des Kampfes einem neuen Geschlecht zu hinterlassen und bis zu dessen Heranwachsen kampfunfähig zu sein.

Offiziere, die recht „schneidig“ auftreten wollen, lieben es, den Satz zu verfechten, dass man unter allen Umständen offensiv vorgehen müsse. Das gleiche gilt von manchen Sozialisten, die Wert darauf legen, recht „schneidig“ zu sein, wobei sie statt schneidig „revolutionär“ sagen. Auch sie weisen jede andere als eine offensive Taktik im politischen oder ökonomischen Kampf entrüstet zurück, als eine Verleugnung der Klassengegensätze und unserer hohen Ziele. Aber in Wirklichkeit vermehren sich gerade durch die Fortschritte des Proletariats die Gelegenheiten und Zeiträume, in denen für eine proletarische Partei eine defensive Taktik geboten ist.

Seit dem Ausbruch des Weltkrieges häufen sich die politischen und sozialen Peripetien, die entscheidenden Wendungen im gesellschaftlichen Leben, und sie gehen unerhört tief. Dabei werden die proletarischen, wie manche antiproletarischen Parteien einmal hoch emporgehoben, dann wieder tief herabgedrückt. Diese Peripetien nehmen in den einzelnen Staaten sehr verschiedene Gestaltungen an; sie treten nicht überall zur selben Zeit ein, stehen untereinander aber doch in einem internationalen Zusammenhang. Der Kriegsausbruch sah die Zerreißung der zweiten Internationale sowie das Bekenntnis der größten sozialdemokratischen Parteien zum „Burgfrieden“, was einer einstweiligen Einstellung des Klassenkampfes nahe kam. Das Kriegsende brachte wieder allenthalben einen gewaltigen Aufschwung der proletarischen Parteien sowie den Zusammenbruch der Hochburgen der europäischen Reaktion, der drei großen Kaiserreiche, der Militärmonarchien.

Aber jede Revolution trägt den Keim der Gegenrevolution in sich. Sie ist stets das Ergebnis einer Empörung der großen Masse der Bevölkerung, der verschiedensten Klassen. Es ist wichtig, immer wieder auf diese Tatsache hinzuweisen, die altbekannt ist und doch immer wieder gern vergessen wird. Gerade unter denen, die am eifrigsten bemüht sind, eine Revolution herbeizuführen, lieben es heute viele, im Namen der marxistischen Theorie des Klassenkampfes alle Klassen außer dem Proletariat als eine reaktionäre Masse zu behandeln. Manchmal trifft dies zu, aber gerade in solchen Momenten war bisher das Proletariat in seiner Isolierung am ohnmächtigsten. Zu einer Revolution kam es stets nur dann, wenn eine Regierung jeden Halt in fast allen Klassen der Bevölkerung verloren hatte, sich nur auf die Machtmittel der Exekutive stützen konnte und auch diese unzuverlässig wurden.

Alle die Klassen, die sich unter solchen Umständen gegen ihre Regierung erhoben, waren jedoch nur einig in der Ablehnung des Bestehenden. War dieses gestürzt, dann kam es zu Kämpfen innerhalb der Klassen, die die Revolution gemacht. Das konnte diese eine Zeitlang weitertreiben, schwächte aber doch die revolutionären Kräfte und bereitete den Boden für eine Reaktion vor.

Dazu kommt, dass eine Revolution in der Regel das Ergebnis einer ungeheuren Notlage oder einer maßlosen Misswirtschaft der herrschenden Klasse oder Partei ist. Die Revolution beseitigt die Ursachen dieser Notlage oder Misswirtschaft und schafft damit die Möglichkeit ihrer Überwindung. Doch kann das nicht von heute auf morgen geschehen, umso weniger, je entsetzlicher das Übel geworden war. Die Notleidenden können aber nicht warten und verlieren ihr Vertrauen zu den revolutionären Parteien, wenn diese ihnen nicht sofortige Abhilfe ihrer Leiden bringen. Natürlich können auch die Revolutionäre mitunter unzweckmäßig handeln, aber ihre Fehler, soweit sie nicht die einzelner Personen, sondern ganzer Gruppen und Parteien sind, werden zumeist nicht moralische oder intellektuelle Minderwertigkeit, sondern vielmehr die ungeheuren Schwierigkeiten der Aufgaben der Revolution bezeugen.

Alles das bewirkt, dass bisher noch jeder Periode einer Revolution eine Zeit allgemeiner Reaktion folgte. Auch jetzt sind wir nicht davon verschont geblieben. Dem Weltkrieg folgte ein Aufschwung der Macht des Proletariats in der ganzen Welt, folgte aber auch nicht nur ein großer Gegensatz zwischen Proletariat und Bauernschaft, sondern sogar eine Spaltung der Sozialisten selbst in Sozialdemokraten und Kommunisten. Dazu kam, dass die Friedensschlüsse, die den Weltkrieg beendeten, nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln bedeuteten. Wo es zu einer politischen Herrschaft oder Mitherrschaft einer proletarischen Partei kam, da fand sie andere proletarische Parteien unter ihren Gegnern, und als Feld ihrer Aufbauarbeit einen Trümmerhaufen vor, wie ihn in diesem Umfang noch nie ein Regime gekannt hatte. Und sie hatte auf diesem Trümmerhaufen den Produktionsprozess wieder in Gang zu bringen in einem Zustand völliger Unsicherheit – man erinnere sich nur der Reparationszahlungen! – der mörderisch ist für jede Art der Wirtschaft, die nicht von der Hand in den Mund lebt.

Kaum schien es gelungen, trotz alledem die Wirtschaft einigermaßen in Gang zu bringen, da wurde sie völlig desorganisiert durch die Weltkrise, die ebenso wie der Weltkrieg und die Friedensschlüsse an zerstörender und lähmender Wirkung alle früheren Erscheinungen gleicher Art weit übertraf.

Das bewirkte nicht nur, dass der Revolution und dem Aufstieg des Proletariats in allen Ländern früher oder später eine Periode der Reaktion folgte, sondern auch, dass diese stellenweise die Formen eines Despotismus annimmt, der sich mit dem brutalsten und borniertesten orientalischen Despotismus der Vergangenheit kühn messen kann.

So ist heute das Proletariat fast allgemein in die Defensive gedrängt worden, nicht durch irgendeine verfehlte Ideologie, sondern durch die Macht der Verhältnisse. Das braucht uns nicht zu entmutigen. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie rasch seit dem Ausbruch des Weltkrieges die Peripetien einander folgen und welche Intensität sie erreichen.

Man bringt heute nur zu leicht das Proletariat in eine falsche, unhaltbare Situation, wen man es drängt, eine Offensive um jeden Preis zu erzwingen, selbst dort, wo die Verhältnisse eine solche völlig aussichtslos machen. Wo das der Fall, ist es dringend geboten, freiwillig zur Defensive überzugehen, allerdings nicht zu einer passiven, sondern einer energischen und zähen Abwehr, die der Übermacht des Feindes immer wieder neue Schliche entgegensetzt, gegen geistlose Brutalität geistige Überlegenheit aufbietet. Das Ziel der Defensive muss sein, dem Proletariat seine Kampffähigkeit zu erhalten bis zu dem Moment, wo ein Wechsel in der allgemeinen Situation ihm wieder das Ergreifen der Offensive ermöglicht. Unsere wichtigste Aufgabe geht dabei dahin, dafür zu sorgen, dass in unseren Reihen niemals eine Stimmung der Verzweiflung überhand nimmt, die zu aussichtslosen Ausbrüchen führt. Das ist das schlimmste, was uns passieren kann. Nur ja niemals glauben: jetzt oder nie – wenn wir jetzt nicht zur Offensive übergehen, also losschlagen, ist alles verloren.

Viel wichtiger als das Widerstehen gegen die militärischen Machtmittel der Reaktion ist die Abwehr ihres geistigen Einflusses in den arbeitenden Massen.

Das Erstarken der politischen Reaktion wurde eingeleitet durch das Wachstum einer reaktionären, an der Demokratie und dem Sozialismus zweifelnden Stimmung breiter Massen. Doch scheint schon in vielen Ländern diese reaktionäre Stimmung im Rückgang begriffen zu sein. Anzeichen dafür zeigten sich heute bereits in Staaten, die sich eine gesicherte Demokratie bewahrt haben, wie England, die Schweiz, die skandinavischen Staaten.

Das Schwinden der reaktionären Stimmung im Volke bedeutet noch nicht die Überwindung der reaktionären Regierungen, wohl aber die erste und die unentbehrlichste Vorbedingung dazu.

Bisher aber sind wir fast überall in Europa in die Defensive gedrängt gewesen, sogar in der Propaganda, geschweige in der praktischen Politik. Da die Reaktion in jedem Lande, seiner besonderen Geschichte und sozialen Struktur entsprechend, eine andere Gestaltung annimmt, muss auch der Kampf gegen sie verschiedenartige Formen annehmen, das ändert aber nichts daran, dass wir fast allenthalben noch in der Defensive sind, welche Formen immer diese annehmen mag. In der Defensive ebenso in Spanien wie in Deutschland. Wenn das gleiche für die Sozialdemokratie Österreichs zutrifft, ist das nur ein Ergebnis der Weltlage, nicht einer besonderen Defensivideologie des Austromarxismus.
 

III. Schutzbund und Arbeiterschaft

Es geht überhaupt nicht an, von einer bestimmten taktischen Ideologie des Austromarxismus zu sprechen, denn man findet in seinem Schoße die verschiedensten Richtungen, von denen jede mit einer besonderen Richtung der Sozialdemokratie außerhalb Österreichs übereinstimmt. Zum Austromarxismus gehören Karl Renner und Max Adler ebenso wie Otto Bauer.

Aber auch die sozialistische Massenbewegung Österreichs darf man nicht als eine völlig einheitliche betrachten. Ihr ist der Gegensatz zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten erspart geblieben, der in anderen Ländern so verhängnisvoll wirkt. Die Kommunisten sind hier nie mehr gewesen als ein belangloses Häuflein. Aber ein anderer Unterschied hat sich seit dem Ausbruch der Weltkrise in Österreich ebenso bemerkbar gemacht wie anderwärts; der zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen.

Arbeitslose gibt es in der kapitalistischen Produktionsweise immer, aber in normalen Zeiten ist die Arbeitslosigkeit für den davon Betroffenen in der Regel nur ein vorübergehendes Stadium. Anders jetzt, in der Weltkrise. Da wächst von Jahr zu Jahr die Zahl derjenigen, die sich seit langem vergeblich bemühen, wieder Arbeit zu finden, für die die Arbeitslosigkeit ein Dauerzustand wird. Nicht wenige unter ihnen, die seit dem Ende ihrer Lehrzeit keine Arbeit gefunden haben.

Je länger dieser Zustand anhält, desto mehr entwickelt jede der beiden großen Gruppen des Proletariats, die Beschäftigten hier und die Arbeitslosen dort, ein besonderes Geistesleben, eine besondere „Ideologie“. Dieses Geistesleben ist kein gleichmäßiges, sondern sehr wechselnden Stimmungen unterworfen, namentlich bei den Arbeitslosen. Das bringt eine erhebliche Zwiespältigkeit und Unstetigkeit in die Arbeiterbewegung, die sie umso mehr schwächen, je gewaltiger und komplizierter gleichzeitig die Probleme, politische und ökonomische, werden, die sich vor ihr auftürmen.

Diese Verhältnisse treten überall auf, wo die Weltkrise längere Zeit hindurch wütet. Sie erhielten ein eigenartiges Gepräge in Österreich, wo sich seit dem Zusammenbruch der Monarchie innerhalb der sozialdemokratischen Partei eine besondere große Organisation wehrhafter Proletarier, der Schutzbund, gebildet hatte.

Am Schlusse des Weltkrieges kam es in Österreich zu einem viel gründlicheren Zerfall der Armee als in Deutschland, er führte zur völligen Auflösung des Heeres. Viele seiner Waffenbestände nahmen die in ihre Dörfer zurückkehrenden Bauern an sich und organisierten Heimwehren, zumeist wohl zur Abwehr bolschewistischer Experimente, die sie fürchteten. Ihnen gegenüber organisierten die Arbeiter der Industriegegenden Arbeiterwehren zur Abwehr eventueller gegenrevolutionärer Vorstöße. Auch sie waren reichlich bewaffnet. Aus ihnen ging 1923 der Schutzbund hervor, dessen Name schon auf defensive, nicht offensive Absichten hindeutet. Er wollte die errungene demokratische Republik schützen.

Diese bewaffneten Formationen, die sich in den Dienst der verschiedenen bestehenden Parteien stellten, überlebten die Revolution und wurden zu dauernden Gebilden, ebenso wie in Deutschland manche Privatarmeen, die dort als Protest gegen die Bestimmungen der Friedensverträge aufgekommen waren.

Die Arbeiterwehren, aus denen der Schutzbund hervorging, waren nur zur Abwehr von Angriffen der Gegenrevolution bestimmt. Solche Angriffe erwartete man bloß von den Heimwehren. In der Koalitionsregierung, die bis 1920 bestand, besaß die Sozialdemokratie das Kriegsministerium, unter Julius Deutsch. Im Heer und der Gendarmerie überwog das republikanisch-demokratische Denken. Auch die Polizei unter Schober war der Demokratie freundlich gesinnt. Es gab freie Gewerkschaften der Soldaten, der Gendarmen, der Polizisten.

Leider verschlechterten sich diese Verhältnisse rapid zu unseren Ungunsten, seitdem die Sozialdemokraten aus der Koalition austraten (Juni 1920). Sie hofften, außerhalb der Koalition freiere Hand in der Propaganda zu gewinnen und diese wirksamer gestalten zu können. Sie verfügten damals in der Nationalversammlung über 72 von 170 Mandaten, brauchten also nur noch 14 Mandate zu erobern, um die absolute Mehrheit und damit die gesamte Regierungsgewalt zu erhalten. Jedoch die propagandistische Kraft der Sozialdemokratie wuchs durch den Austritt aus der Koalition nur unerheblich, zeitweise gar nicht – was nicht ihre Schuld ist, sondern mit dem allgemeinen Erstarken des gegenrevolutionären Denkens allüberall zusammenhängt. In solcher Zeit ist auch der geringste Gewinn an Wählern eine große Leistung für eine Partei der Revolution. Er wurde bei der österreichischen Sozialdemokratie leider viel mehr als aufgewogen durch den Verlust an politischer Macht, der ihrem Austritt aus der Regierung folgte. Das Bundesheer unter Vaugoin wurde nun systematisch von allen „marxistischen“ Elementen gereinigt, ebenso die Gendarmerie. Mit der Bundespolizei unter Schober blieb noch das freundschaftliche Verhältnis bestehen bis zum verhängnisvollen Juli 1927.

Dieser ging aus Übergriffen der Heimwehr hervor. Heimwehrleute, die in einem Ort des Burgenlandes blutige Ausschreitungen begangen hatten, waren (notabene von Wiener Geschworenen) freigesprochen worden. Erregt darüber unternahmen eine Reihe von Arbeitern von Wiener Betrieben einen Massenumzug, um gegen den Freispruch zu protestieren. Der Umzug war von der Parteileitung nicht organisiert, auch der Schutzbund nahm als solcher nicht an der Kundgebung teil. Das bedeutete aber, dass es den Demonstranten an einem Plan, an Ordnern fehlte. Anderseits wurde auch die Polizei überrascht und kaum richtig instruiert.

Einzelne Formationen der Polizei suchten die zahlreichen, aber friedlichen Scharen der Aufmarschierenden mit Gewalt zu zerstreuen und erreichten dadurch nur, dass es zu Unruhen kam, denen sich parteifremde, polizeifeindliche, zumeist lumpenproletarische Elemente zugesellten, die zu Akten sinnloser Zerstörung übergingen. Dabei geriet der Justizpalast in Brand. Der Bürgermeister Seitz selbst eilte mit der städtischen Feuerwehr herbei, den Brand zu löschen. Aber alle diese Vorkommnisse hatten die Polizei rasend gemacht. Obwohl sie nirgends Widerstand fand, richtete sie ein furchtbares Blutbad unter den fliehenden Demonstranten an.

Der Brand im Wiener Justizpalast 1927 wirkte ähnlich wie der im deutschen Reichstag fünf Jahre später. Er ließ die Gegenrevolution hoch auflodern, verschärfte die politischen Gegensätze aufs äußerste und säte Furcht und Erbitterung in bürgerlichen Kreisen, die uns bis dahin wohlwollend gegenübergestanden waren. Das Spießbürgertum wähnte, die Sozialdemokratie sei eine Partei der Mordbrennerei geworden.

Bei ruhiger Überlegung hätten die gegnerischen Parteien sich mit uns diesmal wohl verständigen können. Das Gerichtsurteil, das die Demonstration hervorgerufen hatte, war von Geschworenen gefällt worden, also von Volksrichtern. Die Manifestation war von der Partei nicht beschlossen und organisiert worden. Den Brand im Justizpalast, wer immer ihn veranlasst haben mochte, bedauerte sie ebenso sehr wie die übrige Bevölkerung. Auf der anderen Seite war das Blutbad, das die Polizei angerichtet hatte, auch nicht bei kaltem Blute beschlossen und vorbereitet worden, sondern ein Ergebnis der Überraschung und Erregung.

Man durfte auf beiden Seiten, ohne sich etwas zu vergeben, das Geschehene bedauern. Aber das gestattete die hochgradige Erbitterung hüben und drüben nicht. Die Regierung versteifte sich darauf, die Vorkommnisse als eine Kundgebung des verbrecherischen Charakters der Sozialdemokratie zu brandmarken, indes die Sozialdemokraten stürmisch verlangten, die Polizei müsse zur Rechenschaft gezogen, ihr Oberhaupt Schober aus seinem Amte entfernt werden.

Der gewaltige Sturm legte sich allmählich, aber er hinterließ eine weitere Schwächung für die Sozialdemokratie. Mit dem Brande des Justizpalastes hatte die Gegenrevolution für einige Zeit in Kreisen, die unentschieden waren, ein Mittel billiger Propaganda gegen die Partei gewonnen. Vor allem aber, Schober blieb in seinem Amt,jedoch nicht mehr als Freund, sondern als Gegner der Sozialdemokratie und die Polizei wurde nun ebenso systematisch von „Marxisten“ gereinigt wie früher schon Heer und Gendarmerie.

So wuchs immer mehr die Zahl der Bewaffneten, die dem Schutzbund feindlich gegenüberstanden. Er war von Anfang an nur darauf berechnet gewesen, ein Gegengewicht gegen die Heimwehren zu bilden. Wiederholt hat die Sozialdemokratie es angeboten, den Schutzbund zu entwaffnen und aufzulösen, wenn dasselbe mit den Heimwehren geschähe. Ein Zeichen, dass die Partei nicht beabsichtigte, den Schutzbund gegen die „Exekutive“ ins Feld zu schicken. Wären die Regierungen auf das Angebot der Partei eingegangen, dann hätte es im Februar keinen Aufstand des Schutzbundes geben können. Das sahen vielleicht auch die intelligenteren unter den Christlichsozialen ein. Aber die Heimwehr war zu stark geworden, um sich ohne weiteres entwaffnen zu lassen – oder die Christlichsozialen waren zu sehr in Abhängigkeit von ihnen geraten.

So sehr die Partei bereit war, den Schutzbund aufzulösen, wenn gleichzeitig auch die Heimwehren verboten wurden, so konnte sie sich doch nicht entschließen, einseitig dem Schutzbund ein Ende zu bereiten. Auch als die Regierung ihn auflöste (März 1933), bestand seine Organisation als eine von Ordnern weiter. Die Heimwehren aber wuchsen, nicht zum wenigsten infolge der Arbeitslosigkeit. Diese Organisationen waren von ihren Anfängen an von Agrariern und Kapitalisten mit Beiträgen unterstützt worden, alles weist darauf hin, dass später auch manche benachbarte Regierung mit Geldspenden nicht kargte. Schließlich wurden diese Wehren als Hilfe der Exekutive von Staats wegen anerkannt und besoldet. Dieser Sold führte ihnen manchen armen Teufel zu, dem es nicht gelungen war, Arbeit zu finden.

Gleichzeitig verbesserte sich die Ausrüstung der Heimwehren immer mehr, indes die Ausrüstung des Schutzbundes schon vor seiner Auflösung als eine ungesetzliche betrachtet und durch Aufdeckung von geheimen Waffenlagern immer mehr eingeschränkt worden war.

Während also die bewaffneten Kräfte der Gegenrevolution immer zahlreicher und besser ausgerüstet wurden, nahm die Ausdehnung und Schlagfertigkeit des Schutzbundes immer mehr ab. Ursprünglich nicht dazu bestimmt, sich mit den regulären Streitkräften der Staatsgewalt zu messen, wurde er von Tag zu Tag relativ, im Vergleich zu den Machtmitteln der Gegenseite, immer schwächer.

Gleichzeitig wuchsen aber seine Aufgaben insofern, als er durch sein bloßes Bestehen immer mehr zahlreichen Freunden der Demokratie als deren letzter Stützpunkt in Österreich erschien.
 

IV. Schutzbund und Partei

Der Schutzbund hatte nie eine offensive Aufgabe gehabt. Gegründet in der demokratischen Republik, hatte er stets nur ihrem Schutze dienen wollen. Nicht einem Umsturz, sondern der Abwehr ihres Umsturzes. Man hatte sich in der Partei daran gewöhnt, in ihm die letzte, stärkste Schutzwehr der Demokratie in Österreich zu sehen.

Diese Anschauung erhielt sich auch, als unter den eben gezeigten Verhältnissen die relative Schlagkraft des Schutzbundes immer mehr abnahm. Es gibt immer noch viele Menschen, ja heute vielleicht mehr als je, die der Meinung sind, der Appell an die Waffen sei unter allen Umständen das durchschlagendste Argument in der Politik. Sie meinen, wenn die Sozialdemokratie so starke Bedenken gegen diesen Appell hege, so geschehe das nur aus sentimentalen Gründen oder demokratischen Vorurteilen. Diese Sentimentalitäten und Vorurteile hätten zu schweigen, wenn die Demokratie selbst durch Waffengewalt bedroht sei. Dann hätten die Sozialdemokraten moralisch das Recht, zu ihrer Verteidigung zur Waffe zu greifen.

Leider ist jedoch die Frage der Anwendung von Waffen nicht bloß eine Frage der Moral. Auch wer sich berechtigt fühlt, eine Waffe zu gebrauchen, wird es nur dann tun, wenn er eine besitzt und wenn deren Anwendung Erfolg verspricht.

Die arbeitenden Klassen waren seit jeher gegenüber den Herren im Staate mit Waffen schlecht versehen, nur ausnahmsweise sind sie in größerem Ausmaß in den Besitz von Kriegswaffen gekommen. So die Pariser Nationalgarde im Krieg von 1870/71, so nach dem Weltkrieg die österreichischen Arbeiterwehren. Aber auch diese Bewaffnung erstreckte sich fast bloß auf die Infanterie. Im rein militärischen Kampf mussten die Arbeiter, wenn auch bewaffnet, unterliegen, wenn sie nicht über eine große Überzahl verfügten oder die Truppen des Gegners unwillig oder uneinig waren.

Indes verleiht der Besitz einer Waffe naiven Menschen ein großes Kraftgefühl. Man sieht nur zu leicht bloß die eigenen Gewaltmittel, nicht die des Gegners. Das ist ein sehr nahe liegender Denkfehler. Mit den eigenen Waffen ist man vertraut, die Wirkungen der gegnerischen kennt man nur vom Hörensagen. Fast bei jeder Armee konnte man bisher bei Beginn eines Krieges sehen, dass ihre Mannschaften und auch viele ihrer Offiziere selbst dann siegesgewiss waren, wenn ihnen ein übermächtiger Gegner entgegentrat. Sie hatten verabsäumt, dessen Machtmittel zu studieren. So haben auch viele die Kraft überschätzt, die dem Proletariat das Quantum an Waffen verleiht, das es zu erlangen imstande ist.

Als in Österreich, wie anderswo, das arbeitende Volk durch Krise, Arbeitslosigkeit, Bankerotte zum Teil zermürbt, zum Teil sogar korrumpiert wurde und immer mehr an moralischer und ökonomischer Widerstandskraft gegenüber der Gegenrevolution verlor, die von Tag zu Tag weiter fortschritt, da richteten sich die Augen der verzweifelten Verfechter der Demokratie und des Proletariats immer mehr auf den Schutzbund. Wenn alle Stricke rissen, sollte er die Rettung bringen.

Doch diese Zuversicht war keineswegs allgemein in der Partei. Im Gegenteil, gar viele Sozialdemokraten, darunter fast alle leitenden, erkannten, dass der Schutzbund rein militärisch den Kräften nicht gewachsen sei, die gegen ihn aufzubringen waren. Sie wussten aber auch aus den Erfahrungen der Geschichte, dass eine Niederlage im Kampf der Waffen bei einem inneren Konflikt dem Übel, das man abwehren will, nicht nur freie Bahn schafft, sondern es in viel höherem Maße vergrößert, als es ohne das Eingreifen der Waffen der Fall gewesen wäre.

Noch jede reaktionäre Regierung, die sich einem ungebrochenen inneren Feind gegenüber sah, hat darum gestrebt, den Gegner so weit zu provozieren, dass dieser sich zu bewaffneter Abwehr stellte. Denn das war das sicherste Mittel, seine Kampfkraft durch blutige Ausrottung oder durch Verhaftung oder Verjagung seiner besten Kräfte und Entmutigung der übrigen für lange hinaus völlig zu lähmen.

Die Partei suchte daher trotz aller Provokationen dem bewaffneten Konflikt möglichst lange auszuweichen. Aber gerade in dieser Situation konnte man sich am wenigsten entschließen, völlig abzurüsten und einfach jene Taktik des Durchhaltens einzuschlagen, die der vordringenden Reaktion gegenüber in Ländern ohne Schutzbund von vornherein die gegebene ist. Wenn solchen Staaten die Demokratie genommen wird, dann müssen deren Sozialisten trachten, ohne bewaffnete Abwehr Mittel und Wege zu finden, die es ermöglichen, trotz aller Unterdrückung den Zusammenhang der Arbeiter zu bewahren, sie über den jeweiligen Zustand der Welt zu informieren und ihre Bewegung im Fluss zu erhalten. Die Österreicher hofften, durch den Schutzbund vor der Notwendigkeit einer derartigen Taktik des Durchhaltens bewahrt zu bleiben. Das hat sich als ein Irrtum herausgestellt.

Die Taktik der österreichischen Sozialdemokraten war eine ganz eigenartige. Ihre Schwäche lag nicht in ihrer defensiven Ideologie, sondern in ihrer Zwiespältigkeit. Sie erkannte sehr wohl die vernichtenden Konsequenzen eines bewaffneten Konflikts. Sie ging ihm nach Kräften aus dem Wege, suchte die Schutzbündler nach Möglichkeit zu beschwichtigen, in deren Reihen die Erregung unter den Schlägen der Gegenrevolution wuchs. Aber sie konnte sich nicht entschließen, konsequent von jeglichem Appell an den Schutzbund in der gegebenen Situation abzusehen, sondern sie drohte mit gewaltsamer Abwehr dann, wenn jene Grenze überschritten werde, die nach Schiller jeglicher Tyrannenmacht gesetzt ist.

Diesem Hinausschieben lag wohl eine richtige Erwägung zugrunde: Rein militärisch war seit 1927 eine Erhebung des Schutzbundes von vornherein zum Misserfolg verurteilt. Sie konnte bloß siegen, wenn sie zusammenfiel mit einer allgemeinen Erhebung aller arbeitenden Klassen gegen das bestehende System, einer Erhebung, die vor allem in einem einmütigen Generalstreik ihren Ausdruck finden musste. Wenn die Reaktion so unerträgliche Formen annahm, dass sie das ganze Volk gegen sich aufrief, auch einen großen Teil der Staatsbeamten, wie das 1920 in Deutschland beim Kapp-Putsch der Fall gewesen, dann konnte das Eingreifen des Schutzbundes von großer Bedeutung werden.

Aber wenn dieser Gedanke den Erwägungen vieler Sozialisten zugrunde lag, so fand er nicht den glücklichsten Ausdruck. Zum Beispiel der letzte Wiener Parteitag sprach nicht die Erwartung aus, dass der wachsende Druck der Gegenrevolution schließlich eine Explosion hervorrufen werde, sondern er sprach die Verpflichtung der Genossen aus, wenn bestimmte Maßregeln von der Regierung verfügt würden, sich dagegen zu wehren. Die Verpflichtung zur Insurrektion für einen bestimmten Termin hat aber immer etwas Bedenkliches. Sie wird nie inne gehalten, sei der Termin nun der Ausbruch eines Krieges oder die Verfügung bestimmter volksfeindlicher Maßregeln. Man kann nie voraus wissen, wie diese auf die Stimmung der Bevölkerung wirken werden. Anderseits aber gibt man bei einer solchen Verpflichtung der Partei der reaktionären Regierung die Möglichkeit, selbst den Termin für den Ausbruch der Insurrektion zu bestimmen und sie gerade dann herbeizuführen, wenn die Regierung sie braucht, wenn sie stark ist und ihre Gegner schwach sind.

Viele Sozialdemokraten übten aus einem andern Grunde Kritik daran, dass der Zeitpunkt der bewaffneten Abwehr der Gegenrevolution nicht in Zusammenhang gebracht wurde mit einer erwarteten Intensität der Erregung der Bevölkerung, sondern nur in Zusammenhang mit der Verhängung bestimmter Maßregeln.

Die 1933 verfügten Maßregeln waren in Österreich schon schlimm genug: die Lahmlegung des Parlaments, des Verfassungsgerichtshofes, der Gewerkschaft der Eisenbahner, der Pressefreiheit usw. Wenn die Erhebung nicht abhängig gemacht wurde von der Erregung der Bevölkerung, sondern nur von der Gefährlichkeit der neuen Verordnungen, dann war nicht einzusehen, warum man sie nicht schon früher herbeigeführt, sondern immer wieder hinausgeschoben hatte, obwohl die Kraft des Schutzbundes keineswegs wuchs. Die Zeit wirkte in dieser Beziehung nicht für die Sozialdemokratie.

Vielfach wird heute den damals leitenden Parteigenossen der Vorwurf gemacht, sie hätten den rechtzeitigen Ausbruch der Erhebung hintangehalten, die vor einem Jahre bessere Resultate versprach als später. So zieht z. B. Boris Souvarine in seiner Critique Sociale (März 1934) eine Parallele zwischen der „wahren“ Kommune von Paris 1871 und der bloß „eingebildeten“ Wiener Kommune von heute:

„Diese war eine viel zu späte und verzweifelte Aktion einer sozialistischen Partei, die durch ihre eigenen Fehler besiegt wurde und vergeblich Menschenleben opferte, um ihre nicht mehr zu verbessernde frühere Passivität wieder gut zu machen und ihre verlorene Ehre wieder herzustellen. Der Heroismus der Insurgenten, selbst einzelner Führer, ändert daran nichts, ebenso wie der Heroismus, den die Soldaten jeder Armee bekunden, einen Krieg nicht rechtfertigt.“

Nicht nur in Frankreich und nicht nur von halbbolschewistischer Seite wurde solche Kritik geäußert. Die Kritiker gehören zu jenen Leuten, denen die jeweiligen Misserfolge der Klassen und Parteien nicht in bestehenden sozialen Machtverhältnissen begründet sind, sondern die glauben, unabhängig von diesen könne man stets siegen, wenn man nicht „Fehler“ begehe. Statt diese Machtverhältnisse zu studieren, treiben sie Splitterrichterei. Und „Passivität“ ist ihnen jede Tätigkeit, die sie nicht kennen oder verstehen. Dabei gehen sie mit der „Ehre“ der Genossen, die nicht ihrer Meinung sind, gar leichtfertig um.

In Wirklichkeit hatten die österreichischen Sozialdemokraten in den Jahren vor dem Februar 1934 ganz Recht, verzweifelten Ausbrüchen entgegenzuwirken. Solche Ausbrüche hätten nichts erreichen können, mussten mit einem Zusammenbruch enden. Das galt allerdings im Februar ebenso wie früher.

Tatsächlich entspann sich dann der Konflikt wegen einer ganz unbedeutenden Angelegenheit: In Linz wollte im Arbeiterheim die Exekutive nach Waffen suchen. Derartiges war schon unzählige Male vorher geschehen, ohne dass die Sozialdemokraten sich zur Wehr setzten. In den letzten Tagen vor dem 12. Februar waren aber die Vorstöße der Heimwehren und die Drohungen einzelner ihrer Führer so provozierend geworden, dass ein erheblicher Teil der Genossen im Schutzbund nur mit Mühe davon abzuhalten war, sich bewaffnet zur Wehr zu setzen. Die Erregung hatte auf beiden Seiten einen solchen Grad erreicht, dass es kein Wunder war, wenn die Gewehre schließlich von selbst losgingen.

Indes, so groß die Erregung war, nur bei einem Teil der Arbeiterschaft, ja sogar nur bei einem Teil der Schutzbündler fand sie aktiven Ausdruck. Die allgemeine Empörung der Arbeiterschaft, die allein dem Schutzbund zu einem Erfolg hätte verhelfen können, blieb aus. Auch das war zu erwarten gewesen und war von manchen vorausgesehen worden.

Das Wachsen der Reaktion, der Gegenrevolution, ist gleichbedeutend mit dem Sinken der Kampfkraft und Kampflust der revolutionären Klassen und Schichten. In der Tat ist dieses Sinken das Moment, aus dem die Gegenrevolution hervorgeht. Den Willen zur Reaktion haben die großen Ausbeuter und ihre Helfer stets. Was ihnen zeitweise mangelt, ist die Kraft – ein relativer Begriff, dessen Größe auf der einen Seite in umgekehrtem Verhältnis steht zu der Kraft der Gegenseite. Die Keckheit der Reaktion bezeugt das Gefühl der Ohnmacht in den revolutionären Schichten. In solcher Zeit auf eine spontane Erhebung dieser zu rechnen, weil die Reaktion unerträglich werde, ist ganz verfehlt. Freilich nicht minder verfehlt die Erwartung jener, die meinen, wie es jetzt stehe, müsse es immer bleiben, der jetzige abnorme Zustand werde zum Normalzustand von Staat und Gesellschaft werden.

Noch kann die volle Geschichte der Februartage nicht geschrieben werden. Noch zu vieles ist unklar dabei. Aber eines steht heute schon fest und wird kaum bestritten: an dem Aufstand nahm nur ein ganz geringer Teil der Arbeiterschaft teil. Die in Arbeit Befindlichen blieben fast alle bei ihrer Beschäftigung. In den weitaus meisten Bezirken Wiens nahm das alltägliche Leben unverändert seinen Fortgang, die Zeitungen erschienen, alle Läden waren offen, die Zufuhren vom Lande wurden nicht unterbrochen, alle Taxis fuhren, sogar die Straßenbahn und die elektrische Beleuchtung funktionierten, nachdem die anfängliche Störung im Elektrizitätswerk behoben worden war. Wenn nicht die ewige Schießerei von manchen Punkten zu hören gewesen wäre, hätte man nicht gewusst, dass ein Aufstand ausgebrochen, außer an den Stellen, wo gerade gekämpft wurde. Das waren aber nur wenige Bezirke, und auch in denen gab es viele Punkte, auf denen das normale Leben unverändert fortging.

Wie ganz anders das Bild Berlins in den Tagen des Kapp-Putsches! Der Generalstreik dort war von einer Lückenlosigkeit, wie sie kaum jemals irgendwo wieder erreicht wurde.

Nicht etwa, dass die Wiener Arbeiter teilnahmslos gewesen wären. Mit größter Sympathie für ihre kämpfenden Genossen verfolgten sie die Wechselfälle des Kampfes, aber kaum anders, als etwa in einem auswärtigen Kriege die Zivilbevölkerung nach den Taten des Kriegsheeres ausblickt: als Vorgänge, in die sich das Zivil nicht einzumengen hat.

Fast nur Schutzbündler kämpften und überwiegend Arbeitslose. Doch bei weitem nicht alle Schutzbündler oder gar alle Arbeitslosen.

Eine Statistik der Zahl der Kämpfenden zu geben, ist zurzeit unmöglich, wird vielleicht nie möglich sein. Auch Julius Deutsch bringt in seinem aufschlussreichen Buch Der Bürgerkrieg in Österreich (Karlsbad 1934) keine Gesamtzahlen. Aber die Zahlen, die von einzelnen umstrittenen Punkten gegeben werden, lauten alle lächerlich gering. Als die Höchstzahl der Verteidiger des Arbeiterheims in Ottakring werden ganze 80 Mann angegeben. Eine heiß umkämpfte Position in Floridsdorf soll bloß mit 11 Mann besetzt gewesen sein. Über den Marxhof berichtet Julius Deutsch (S. 47):

„Wir dürften zur Zeit des höchsten Standes im ganzen Marxhof nur einige hundert Mann gewesen sein. Die Exekutive dürfte damals nach sorgfältiger Schätzung etwa 2.000 Mann gegen uns mobilisiert haben.“

Ähnlich scheint mir das Verhältnis im Durchschnitt überall gewesen zu sein. Die Gesamtzahl der Aufständischen in der Millionenstadt Wien dürfte wenige tausende nicht überschritten haben. Damit soll ihre Leistung nicht verkleinert werden. Im Gegenteil, den unerhörten Mut der Aufständischen hat auch der Gegner anerkannt. Je geringer die Zahl der Insurgenten, umso erstaunlicher der hartnäckige Widerstand, den sie der „Exekutive“ entgegensetzten, die in Wien über eine mehrfache Überzahl von Streitern verfügte, die noch dazu weit vollkommener bewaffnet und einheitlich geführt waren.

Den Aufständischen fehlte dagegen so gut wie jede zentrale Führung. Der Aufstand kam für die Parteigenossen selbst ganz überraschend infolge der durch die Fortschritte der Reaktion hochgediehenen Erregung mancher Kreise des Schutzbundes. Die Polizei die in diesen Kreisen ihre Spitzel hatte, wurde weniger überrascht als die Parteigenossen. Sie verhaftete fast alle Sozialisten, die irgendetwas bedeuteten, noch ehe die Parteigenossen, die Gewerkschaften oder auch nur die Schutzbündler irgendeine Parole erhalten hatten.

Der Aufstand der Februartage war eine völlig spontane Bewegung eines kleinen Häufleins. Er wirkt imponierend durch den Heldenmut derer, die an ihm teilnahmen, doch darf uns dieser Heroismus nicht blind machen für den Charakter des Aufstands. Es ist nicht zutreffend, ihn als „den Aufstand der österreichischen Arbeiter“ zu bezeichnen.

Diesen Titel führt Otto Bauers jüngste Schrift, die er unmittelbar nach dem Aufstand niederschrieb und in Prag erscheinen ließ. Sie enthält eine Darstellung der „Ursachen und Wirkungen“ des Aufstandes, die sehr bemerkenswert ist, der aber der Schreiber dieser Zeilen doch nicht in allen Punkten zu folgen vermag, namentlich nicht darin, dass ihm die Taten einer kleinen Minderheit als kennzeichnend für die Gesamtheit erscheinen. Bauer sagt einmal (S.22):

„Die Sozialisten der ganzen Welt haben es als beschämend, als eine verhängnisvolle Ermutigung der internationalen Reaktion, als eine verhängnisvolle Schwächung der Arbeiterklasse aller Länder empfunden, als sich die deutsche Arbeiterklasse dem Faschismus kampflos unterworfen hat. Sie alle sind stolz darauf und fühlen sich gehoben und gestärkt dadurch, dass sich die österreichischen Arbeiter mit dem Gewehr in der Hand dem Faschismus widersetzt, dass sie, indem sie ungleichen Verzweiflungskampf kampfloser Kapitulation vorgezogen haben, die revolutionäre Ehre des internationalen Sozialismus gerettet, den revolutionären Widerstand der Arbeiter der ganzen Welt ermutigt und gestärkt, der faschistischen Reaktion der ganzen Welt eine drohende Warnung entgegengestellt haben.“

Otto Bauer gibt hier wohl der Stimmung des größten Teils der Internationale Ausdruck und es ist sehr unpopulär, anderer Meinung zu sein. Trotzdem wäre noch manches über Bauers Worte zu sagen. Hier zunächst nur eine Feststellung.

Sollte es richtig sein, dass die „kampflose Unterwerfung der deutschen Arbeiterklasse“ „beschämend und verhängnisvoll“ war, so müsste das für die große Mehrheit der österreichischen Arbeiterklasse nicht minder gelten als für die deutsche. Denn die überwiegende Mehrheit der Arbeiter Österreichs hat dem „ungleichen Verzweiflungskampf“ ihrer Brüder zugesehen, ohne einen Finger zu ihrer Unterstützung zu rühren.

Diese Tatsache steht fest. Das soll keine Anklage oder Herunterreißung der österreichischen Arbeiterschaft bedeuten. Es soll nur feststellen, dass, abgesehen von einigen Tausend arbeitsloser, verzweifelter Schutzbündler, die österreichischen Arbeiter nicht anders einzuschätzen sind als ihre deutschen Brüder. Wer sie beide näher kennt, schätzt sie beide gleich hoch und lässt sich dabei nicht durch die Tatsache beirren, dass sie gelegentlich unseren Wünschen und Erwartungen nicht entsprechen.
 

V. Deutsche Schande und österreichische Ehrenrettung

Kein Zweifel, die Haltung der deutschen Arbeiterklasse in den Jahren 1932 und 1933 hat uns alle aufs tiefste erschüttert und deprimiert. Aber darf man daraus schließen, die deutschen Arbeiter seien moralisch minderwertig und stünden tief unter den österreichischen? Gewiss, wir hatten von den deutschen Arbeitern ganz anderes erwartet, als sie uns zeigten; es war für uns entsetzlich zu sehen, dass sie zum Teil in hellen Haufen zu den Nazis übergingen, zum Teil wie gelähmt dem kommenden Unheil entgegensahen. Aber wer davon überrascht wurde, bezeugte bloß, dass er die Wirkungen der Krise und ihrer Begleiterscheinungen auf das Proletariat nicht genügend eingeschätzt hatte. Die Arbeiter, die Hitler 1933 gegenüber so kläglich versagten, waren dieselben, die 1920 Kapp gegenüber sich so glänzend bewährt hatten. Kein Generalstreik ist so musterhaft durchgeführt worden wie der gegen den Kapp-Putsch gerichtete.

Es gab damals aber auch deutsche Arbeiter, die zu den Waffen griffen, um proletarische Interessen zu wahren. Es waren zumeist Kommunisten. Von 1919 bis 1921 ziehen sich durch die innere Geschichte des deutschen Reichs eine Reihe von Aufständen in München, in Mitteldeutschland, im Ruhrrevier. Sie fielen gerade in eine Zeit, in der die österreichischen Arbeiter ganz ruhig zusahen, wie ihre Vertreter in der Regierung durch Austritt aus der Koalition die wichtigsten Posten im Staate dem Gegner „kampflos“ auslieferten.

Das soll kein Vorwurf für die österreichischen Arbeiter sein. Wie immer man über den Austritt aus der Koalition 1920 denken mag, die Sozialdemokraten hatten ganz recht, den Gegner nicht mit Waffengewalt aus der Regierung drängen zu wollen, obwohl sie damals über die bewaffnete Macht des Staates verfügten. Sie sahen davon ab, weil sie der von ihnen eroberten Demokratie treu blieben. Und die Ergebnisse der gleichzeitigen bewaffneten Erhebungen in Deutschland luden durchaus nicht zur Nachahmung ein.

Wenn damals so viele Arbeiter in Deutschland bereit waren, zur Waffe zu greifen, und ein Dutzend Jahre später kein einziger, auch kein Kommunist; wenn damals kein österreichischer Arbeiter auch nur einen Moment daran dachte, der Reaktion, die durch den Austritt der Sozialdemokraten aus der Koalition eingeleitet wurde, mit bewaffneter Hand entgegenzutreten, so lag das alles nicht an Unterschieden zwischen dem österreichischen und dem deutschen Menschen, sondern in Unterschieden der historischen Situation, nicht zum wenigsten daran, dass damals die Arbeiter noch voll Selbstbewusstsein waren, indes sie heute durch Jahre des Elends und der Verzweiflung zermürbt sind. Wenn diese Situation bei den deutschen Arbeitern die Tatlosigkeit der Verzweiflung allgemein machte, während sie in Österreich wohl bei der großen Mehrheit der Arbeiter die gleiche Wirkung herbeiführte, eine kleine Minderheit dagegen in einen „ungleichen Verzweiflungskampf“ hineintrieb, so ist die Differenz für die Gesamtheit der Arbeiterschaft keine so tiefgehende, wie sie auf den ersten Blick erscheint.

Man hat schon oft die Bemerkung machen müssen, dass hochstrebende Revolutionäre im Proletariat eine Rasse von Übermenschen sahen, von denen sie Außerordentliches erwarteten. Traf das nicht ein, so erklärten die Revolutionäre nicht, sie hätten sich getäuscht, sondern das Proletariat oder vielmehr seine Führer hätten sich schmachvoll benommen.

Derartiges konnte man z.B. in den Jahren vor dem Weltkrieg beobachten. Engels hatte einen solchen bereits als ein furchtbares Unglück bezeichnet, nicht zum wenigsten deshalb, weil er im Proletariat die nationalen Gegensätze wieder aufpeitschen, viele aus den sozialistischen Reihen dem Nationalismus zuführen müsse. Das war auch die Meinung der nüchternen Marxisten nach Engels.

Neben denen gab es aber auch illusionäre Marxisten, die ganz anders dachten. Sie sind später fast alle dem Kommunismus verfallen. Sie waren der Überzeugung, dass das Proletariat überall eine Kriegserklärung mit einer Revolution beantworten werde. Bekanntlich war dies nicht der Fall, sondern die Befürchtung der nüchternen Marxisten erwies sich als richtig – nicht zu ihrer Freude: sie hätten es vorgezogen, die Illusionäre hätten recht behalten. Diese gestanden aber nun nicht zu, dass sie in einer Täuschung befangen waren, sondern riefen in alle Welt hinaus, die Proletarier aller der Kriegführenden Länder hätten einen niederträchtigen Verrat begangen.

Ähnliches vollzog sich 1932 in Deutschland, allerdings mit einigen Unterschieden. Diesmal wurden auch die nüchternen Marxisten von der Haltung der deutschen Arbeiter überrascht. Dass die Krise diese so sehr geschwächt hatte, war von niemand vorausgesehen worden. Anderseits aber nahmen diesmal alle Richtungen der Sozialisten die gleiche Haltung ein, die Revolutionäre ebenso wie die Reformisten, Kommunisten wie Sozialdemokraten.

Doch so schmerzlich, ja zeitweise geradezu niederschmetternd die Erfahrungen mit den deutschen Arbeitern waren, moralische Entrüstung der Außenstehenden über sie war wohl das nächstliegende, aber nicht das am meisten fruchtbringende Ergebnis, das man aus diesen Erfahrungen ziehen konnte. Wir mussten uns gestehen, dass wir uns getäuscht, die Machtverhältnisse der Klassen und Parteien in Deutschland falsch eingeschätzt, die Selbständigkeit und Kraft weiter Schichten des deutschen Proletariats überschätzt hatten. Wir mussten aber auch den deutschen Umsturz der letzten zwei Jahre als ein Elementarereignis betrachten, das kein Ehrbegriff irgendwelcher Art hätte verhindern können.

Das bedeutet nicht eine Entschuldigung für Feigheit und Quietismus, sondern nur die Aufforderung, zunächst nach den Ursachen des Elementarereignisses zu forschen. Gerade diese Forschung, je weiter wir uns in sie vertiefen, gibt uns die beglückende Überzeugung, dass es nicht irgend eine angeborene, bleibende Minderwertigkeit der Arbeiterschaft in Deutschland war, die den Sieg des Faschismus dort möglich machte, sondern ein Zusammentreffen lähmender Umstände, das ganz abnorm ist, das wieder vorübergehen muss, so dass dem bestehenden Zustand keine Dauer beschieden sein wird. Alles weist darauf hin, dass in Deutschland jetzt schon das schlimmste Stadium geistiger Lähmung der Arbeiterschaft überwunden ist. Die Arbeiter der Welt haben gar keinen Grund, über ihre Genossen in Deutschland beschämt zu sein.

Anderseits besteht aber auch keine Veranlassung, die Arbeiter Österreichs hoch über die deutschen zu erheben, als hätten jene die „revolutionäre Ehre des internationalen Sozialismus“ gerettet, die diese verraten haben sollen.

Emil Franzel spricht über das „Schicksal der tapferen, treuen Arbeiter von Wien“:

„Isoliert in der Masse, die zu stumpf war, aufzustehen und den Kampf zu entscheiden, verraten von streikbrecherischen Proleten, denen die Krise das Rückgrat gebrochen hatte, Gefangene ihrer eigenen Defensiv- und Legalitätsideologie, verbluteten tausende unter dem Feuer der Haubitzen des christlichen Kanzlers.“

Von der „Defensivideologie“ haben wir schon gehandelt. Wir werden noch einiges darüber zu sprechen haben. Dass der „christliche Kanzler“ über Haubitzen verfügte, wusste man bereits vor dem Februaraufstand. Mit ihrem Einsetzen musste man von vornherein rechnen. Hier interessiert uns nur die „stumpfe Masse“, die „verräterischen, streikbrecherischen Proleten“. Die so Gebrandmarkten, das waren ja gerade die „tapferen treuen Arbeiter von Wien“, oder mindestens neun Zehntel von ihnen.

Selbst über die deutschen Arbeiter im Jahre 1932 hat sich kein Revolutionär so wegwerfend geäußert, wie Franzel hier über die österreichischen. Wohl gab es in Österreich, im Unterschied von Deutschland, einen mit Waffen versehenen Schutzbund, aber als ein Teil seiner Mitglieder losschlug, blieb die Masse der Arbeiter ebenso ruhig bei der Arbeit, wie sie im Juli 1932 in Deutschland geblieben war. Diese Feststellung ist für die österreichischen Arbeiter ebenso wenig eine Schande wie für die deutschen. Sie bezeugt nur, dass die Wirkungen der Krise hier wie dort die gleichen sind.

Unser Zutrauen zu den österreichischen Arbeitern ist ebenso ungebrochen wie das zu den deutschen. Man soll nur nicht Legenden bilden, die die einen über die andern erheben.

Man vergesse nicht, dass eine internationale Vereinigung nur möglich ist unter Gleichen. Die Franzosen haben es seit dem Umsturz von 1789 geliebt, sich als das auserwählte Volk der Revolution zu betrachten, das den andern Völkern der Erde die Freiheit zu bringen habe. Auch unter den französischen Sozialisten der ersten Internationale war dieser Anspruch noch sehr lebendig, sehr zum Missvergnügen von Marx. Mit der Pariser Kommune von 1871 hörte diese revolutionäre Überheblichkeit mancher französischen Sozialisten auf. Die deutsche Sozialdemokratie wurde nun zur stärksten unter den sozialistischen Parteien der Welt. Sie wurde es nicht zum wenigsten dadurch, dass sie mit ganz andern Methoden und Anschauungen arbeitete, als in den Arbeitern Frankreichs und Englands bis dahin vorgeherrscht hatten. Für diese selbst wurde die deutsche Sozialdemokratie vorbildlich. Das machte die Deutschen nicht anmaßend, sie haben nie die Führung der Internationale beansprucht, aber es erhöhte ungemein die Ansprüche, die an sie gestellt wurden und die Erwartungen, die man von ihnen hegte.

Und doch verminderte sich immer mehr die geistige Überlegenheit, die der deutsche Sozialismus eine Zeitlang unstreitig über die Bruderparteien besessen hatte. Sie minderte sich nicht durch geistiges Herabsteigen der deutschen, wohl aber durch den Aufstieg der Arbeiter der andern Nationen, die zusehends immer mehr marxistisches Denken in sich aufnahmen. Gleichzeitig aber erlangte, namentlich seit dem Weltkrieg, die Arbeiterbewegung in demokratischen Staaten eine solche Kraft, dass sie mitunter aufhören konnte, sich auf die Opposition zu beschränken. Auf die Gestaltung der Gesetzgebung hatte sie von ihren Anfängen an gewirkt, das kann man auch in der Opposition erreichen. Nun aber erhielten die Arbeiter vielfach auch die Möglichkeit und die Kraft, auf die Staatsverwaltung einzuwirken, und diese gewinnt heute überall enorm an Bedeutung, auch in Staaten der Demokratie und des Parlamentarismus.

Unter diesen Umständen vermochte eine ganze Reihe von sozialistischen Parteien an praktischen Erfolgen in den letzten Jahrzehnten weit mehr zu erreichen als die deutsche Sozialdemokratie. Trotzdem fuhr man fort, an sie besonders hohe Ansprüche zu stellen, von ihr besonders viel zu erwarten und zu verlangen, namentlich seit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches, obwohl sie gerade seitdem durch die Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten höchst empfindlich geschwächt wurde. Dazu kam die Ungunst der Verhältnisse, namentlich der Friedensbedingungen, die als Strafe für die Sünden der Militärmonarchie gedacht waren, tatsächlich aber auf das schwerste die deutsche Arbeiterschaft belasteten und schwächten.

Die Weltkrise hat das Proletariat fast in allen Ländern in die Defensive gedrängt, seine Widerstandskraft verringert. Immer noch baute man auf die große deutsche Sozialdemokratie, erwartete, sie werde zeigen, wie man die Reaktion siegreich zurückwirft. Umso größer jetzt die Entrüstung darüber, dass sie alle Erwartungen so sehr enttäuscht hat.

Mit der vorbildlichen Stellung ist es nun vorbei, die die sozialdemokratische Partei Deutschlands unter den Sozialisten der Welt gewonnen hatte, ebenso vorbei, wie vorher die der französischen und englischen Arbeiter aufgehört hat, die bis zum Ende der ersten Internationale bestand. Das ist kein Unglück. Umso größer wird die Gleichheit und umso enger der Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Bestandteilen der sozialistischen Internationale sein.


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012