Anton Pannekoek

Die besitzende und die besitzlose Klasse

 

Der politische Kampf, den die sozialdemokratische Arbeiterschaft führt und von dem jeder Wahlkampf eine Episode ist, ist nicht in erster Linie ein Kampf um besondere politische Institutionen und gesetzliche Forderungen, sondern ein allgemeiner Klassenkampf zwischen der besitzenden und der besitzlosen Klasse. Um ihn richtig zu verstehen, ist es nötig, die Kämpfer, die Ursachen und die Ziele dieses Kampfes näher anzuschauen.

Es mag scheinen, nach dieser Benennung der beiden kämpfenden Parteien, dass der Geldbesitz oder das Einkommen zur Grundlage der Klassenscheidung gemacht wird. So wird es von unsern bürgerlichen Gegnern auch oft verstanden. Sie nehmen eine Einkommens- oder eine Vermögensstatistik zur Hand, ziehen ein paar Querlinien hindurch, welche die niedrigen von den mittleren, und die mittleren von den großen Einkommen trennen, und glauben dann einen Einblick in die Klassenverhältnisse der Gegenwart gewonnen zu haben. Noch komischer machen sie es, wenn sie uns eine Statistik aus dem Mittelalter oder dem achtzehnten Jahrhundert präsentieren und darin nachweisen, dass es damals verhältnismäßig gerade soviel kleine, mittlere und große Einkommen gegeben habe wie heute; damit glauben sie dann die Konzentration des Kapitals, den Untergang des Mittelstandes und die Zuspitzung der Klassengegensätze widerlegt zu haben.

Diese armen Schelme, die auf solche Weise die offenkundige Tatsache der großen gesellschaftlichen Umwälzung wegdemonstrieren wollen, haben offenbar keine blasse Ahnung davon, was eine gesellschaftliche Klasseeigentlich ist. Eine Klasse ist nicht eine Gruppe von Menschen, die ein gleich großes Einkommen haben, sondern eine Gruppe von Menschen, die in der gesellschaftlichen Produktion ökonomisch die nämliche Funktion erfüllen. Wir sagen ökonomisch, damit man nicht auf die Idee verfalle, unter der gesellschaftlichen Funktion die technische Seite der Arbeit zu verstehen. Ein Weber und ein Typograph haben beruflich eine verschiedene Funktion, technisch sind ihre Arbeiten verschieden, aber ökonomisch sind sie beide Lohnarbeiter und gehören derselben Klasse an.

Bei der vielgestaltigen Verschiedenheit innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist es kein Wunder, dass sich dem Auge auch ein buntes Bild der verschiedensten gesellschaftlichen Klassen bietet. In der Industrie stehen die kapitalistischen Unternehmer den Lohnarbeitern gegenüber; auf diesem allgemeinen Grundverhältnis bauen sich, je nach der Größe des Betriebes, verschiedene Klassenverhältnisse auf. Mit dem Kapitalisten stimmt der selbständige Handwerker darin überein, dass er selbständiger Unternehmer ist, aber er beschäftigt keine Lohnarbeiter. Und die kleinen Meister des handwerksmäßigen Kleinbetriebes, sowie die Ladenhüter, werden sogar in der Umgangssprache als besondere, von den Großkapitalisten verschiedene Klasse, als Mittelstand, bezeichnet; ihr Unterschied von jenen besteht in der kleineren Arbeiterzahl und dem kleineren Kapital, ohne dass man feste Grenzen zwischen beiden angeben könnte. In dem Großbetrieb schiebt sich zwischen Kapitalist und Arbeiter eine Gruppe von Aufsehern und technischen Betriebsleitern. Die hohen wissenschaftlichen und technischen Ansprüche, die den jetzigen Groß- und Riesenbetrieben gestellt werden, haben eine Klasse von privaten technischen und wissenschaftlichen Beamten hervorgerufen, die zusammen mit ähnlichen und gleichgestellten öffentlichen Beamten die „Intelligenz“ bilden. Ökonomisch gehören sie zu den Lohnarbeitern, da sie auch ihre Arbeitskraft – eine spezielle, durch langes Studium ausgebildete und höher bezahlte geistige Arbeitskraft – für Lohn verkaufen; die größere Höhe des Lohnes, also ihre ganz verschiedene Lebenshaltung, trennt sie wieder von den Arbeitern. Zugleich hat die Entwicklung des Großbetriebes durch die großen Kapitalien, die er erfordert, eine Trennung bewirkt zwischen dem industriellen Unternehmer, der von dem Profit, und dem Geldbesitzer, der von den Zinsen lebt. In der Aktiengesellschaft tritt sogar an Stelle des Unternehmers ein bezahlter Beamter, der Direktor; die doppelte Funktion des Kapitalisten, die Produktion zu leiten und den Mehrwert einzustecken, hat sich auf zwei Arten von Personen verteilt. Alle Geldkapitalisten sind jedoch ebensowenig in einen Topf zu werfen, wie alle Unternehmer; je nach der Größe besteht der nämliche Unterschied, wie z. B. in der Fischwelt der Meere: die Großen fressen die Kleinen. Ein kleiner Rentier ist so gut ein Geldkapitalist wie die Mitglieder der Hochfinanz, aber zu diesen Börsenwölfen steht er gewissermaßen wie ein Börsenlamm, und deshalb ist seine gesellschaftliche Rolle eine andre.

Betrachten wir nun die Landwirtschaft, so finden wir dort die nämlichen Abstufungen, wenn auch nicht in genau der nämlichen Weise, wie in der Industrie; nur kommt hier noch eine Klasse hinzu, weil die Grundbesitzer durch ihr Monopol eine Bodenrente aus dem Ertrag der Landwirtschaft schlagen können, ohne dabei irgend eine tätige Rolle zu spielen. Man hat Zwergbauern, Kleinbauern, Mittel- und Großbauern und Landarbeiter. Hier treten schon die Zwitter- und Übergangsformen aus, die das Bild der gesellschaftlichen Klassen dem ungeübten Auge verwirren. Die Landarbeiter haben oft ein kleines Grundstück, während Besitzer kleinerer Grundstücke, zu klein, um davon leben zu können, als Land- oder auch als Industriearbeiter Nebenverdienst suchen. Sie sind also zugleich selbständige Landwirte und Lohnarbeiter. In der Hausindustrie finden wir scheinbar selbständige Handwerker, die mit Leib und Seele von dem kapitalistischen Kaufmann abhängig sind. Dass nicht die juristische Form des Lohndienstes genügt, um die Klasse zu bestimmen, zeigen die zahlreichen Übergänge vom besoldeten Direktor über Unterdirektor, Abteilungschef, Hauptingenieur, Techniker, Zeichner, Aufseher hinweg zum Arbeiter. Hier wird man oft in Verlegenheit sein, bei den graduellen Übergängen genau zu bestimmen, welche Klassenunterscheidungen man annehmen muss, und wo ihre Grenzen liegen.

Also bietet das gesellschaftliche Leben ein buntes Bild der verschiedensten Klassen, deren Funktionen im gesellschaftlichen Leben und deshalb auch deren Interessen bald schroffe Gegensätze und himmelweite Verschiedenheiten, bald auch graduelle Übergänge zeigen. Ist dieses Bild nun aber nicht eine schlagende Widerlegung unserer Behauptung, dass sich im gesellschaftlichen Kampfe nur zwei Klassen gegenüberstehen? Und zeigt ein Blick auf die verschiedenartigen Funktionen der Klassen nicht sofort, dass eine Unterscheidung von zwei Gruppen nur nach ihrem Vermögen eine unwissenschaftliche, unhaltbare und nur zum Zwecke demagogischer Verhetzung erfundene Behauptung ist?

Nein, diese Unterscheidung ist im tiefsten Wesen der Gesellschaftsordnung begründet. Sie entsteht aus der besonderen Rolle, die das Geld seit dem Emporkommen des Kapitalismus spielt. Alles Geld hat die Eigenschaft, als Kapital wirken zu können, d. h. wenn der Besitzer Produktionsmittel dafür kauft, Arbeiter mietet, und die von ihnen produzierten Waren verkauft, so kehrt es als mehr Geld, als größeres, mit Mehrwert gesegnetes Kapital in seine Hände zurück. Er braucht es nicht einmal selbst zu tun; andre nehmen ihm mit größtem Vergnügen die Sorgen und Mühen des Geschäfts ab und bezahlen ihm für die Benutzung seines Kapitals einen Teil des Profits als Zins. Geld hat durch den Kapitalismus die Eigenschaft bekommen, seinem Besitzer Zins einzubringen. Wer also über Geld verfügt, kann sich ein arbeitsloses Einkommen sichern.

Dieses Einkommen stammt aus dem Mehrwert, der im Produktionsprozess gebildet wurde. Die Arbeiterklasse bringt eine Unmasse von Wert hervor durch ihre Arbeit; nur einen Teil davon empfängt sie als Lohn zurück, und der übrig bleibende Teil ist der Mehrwert, der der Kapitalistenklasse zufällt. Diesen Mehrwert müssen die verschiedenen Kapitalisten und Kapitalistengruppen mit einander teilen, denn sie leben alle davon. Die Grundbesitzer fordern ihren Anteil, die Kaufleute und Zwischenhändler heischen einen Teil, die Direktoren und hochbesoldeten Betriebsleiter nehmen ihr Stück, die Geldkapitalisten erhalten ihren Zins oder ihre Dividende. Um die Verteilung dieses Mehrwerts kämpfen sie untereinander, und diese Verteilung wird teils durch ökonomische Gesetze, teils durch politische Machtverhältnisse entschieden. Worauf es uns hier ankommt, ist die Tatsache, dass alle diejenigen, die Geld besitzen, dadurch gewissermaßen einen Anspruch auf einen Teil des Mehrwerts haben, vorausgesetzt natürlich, dass sie es nicht wie die früheren Geizhalse in einen alten Strumpf verstecken. Der Mehrwert entsteht durch Ausbeutung der unteren Klassen, deren Arbeit diesen Überschuss liefert; alle jene Klassen, die den Mehrwert unter sich teilen, bilden zusammen eine große Ausbeutungsgesellschaft, und jeder, der Geld besitzt, ist dadurch von Mammons Gnaden Aktionär in dieser trefflichen Korporation.

Hier liegt also der Grund, weshalb man von einem großen Klassengegensatz zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen reden darf. Er liegt darin, dass diese Wörter gleichbedeutend sind mit ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen. Wer nichts besitzt, ist gezwungen, um leben zu können, seine Arbeitskraft den Besitzern der Produktionsmittel, d. h. mittelbar den Kapitalbesitzern, zu verkaufen. Diese geben ihm für schwere und lange Arbeit einen Lohn, der gerade zu einer dürftigen Lebenshaltung ausreicht, und den übrigen von ihm produzierten Wert stecken sie in ihre Tasche. Wer nichts besitzt, muss sich gefallen lassen, ausgebeutet zu werden; das Privateigentum an Produktionsmitteln schneidet ihm jeden andern Ausweg ab. Die Sache bleibt auch noch die nämliche, wenn ein Arbeiter ein bisschen Geld besitzt, dessen Zins einen kleinen Zuschuss zu seinem Lohn bildet. Obgleich er Geld auf der Bank hat, ist er deshalb noch kein Ausbeuter. In diesem Zins erwirbt er sich zwar ein winziges Stücklein von der großen Mehrwertmasse, die aus der ganzen Arbeiterklasse ausgepresst wird, aber dieses bisschen kommt nicht in Betracht neben dem Mehrwert, den er selbst durch seine Lohnarbeit der Totalmasse hinzufügt. Er vergrößert diese Mehrwertmasse und wird ausgebeutet; er befindet sich in der nämlichen Lage wie seine Kameraden. Und in der Regel betrachtet er dieses Geld gar nicht als Kapital, sondern als einen Sparfonds, aus dem er bei Arbeitslosigkeit oder Unglücksfällen seinen Konsum bestreitet.

Sobald aber das Vermögen über ein bestimmtes Maß hinausgeht, befähigt es den Besitzer, von der Ausbeutung statt von der eignen Arbeit zu leben, bescheiden, wenn er ein kleiner Rentier oder Unternehmer ist, üppig, wenn er zu den Reichen gehört. So sehr unter diesen Leuten Klassenunterschiede bestehen, so sehr sie in dem Ausbeutungsprozess verschiedene aktive oder passive Funktionen erfüllen, so sehr sie miteinander noch um die Teilung der Beute hadern und kämpfen, weshalb ihr Besitztum auch nicht für immer sicher ist – so haben sie doch ein gemeinsames Interesse, weil sie alle Teilhaber an der Ausbeutung sind. In dem großen gesellschaftlichen Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten kommt es auf die Größe des Vermögens innerhalb der Ausbeutergenossenschaft nicht an. Aus dieser Auseinandersetzung ergibt sich zugleich, dass wir nicht behaupten, dass die Gesellschaft nur aus diesen beiden großen Gruppen besteht. Es liegt eine Schicht zwischen ihnen, von der man nicht sagen kann, ob sie näher zu der einen oder zu der andern Gruppe steht, wie z. B. ein Bauer, der Arbeiter ausbeutet und selbst von dem Landherrn ausgebeutet wird, oder ein Beamter, der ein mittelmäßiges Gehalt bezieht. Wie sie sich in dem großen politischen Kampf stellen werden, kann erst aus einer besonderen Untersuchung ihrer Klassenlage ermittelt werden. Für die größere Masse der Menschen und der Klassen gilt aber, dass ihre verschiedenen besonderen gesellschaftlichen Funktionen in dem großen politischen Kampf zurückstehen hinter der Grundfrage, ob sie zu den Besitzenden oder den Besitzlosen, d. h. zu den Ausbeutern oder zu den Ausgebeuteten gehören.


Zuletzt aktualisiert am 5.7.2008