Anton Pannekoek

Die Ausgebeuteten

 

Der Kampf gegen die Ausbeutung kann nur von den Ausgebeuteten selbst geführt werden. Mögen auch dann und wann einzelne Mitglieder der ausbeutenden Klassen durch Mitleid oder durch eine tiefere Einsicht in die künftige Entwicklung getrieben, die Ausgebeuteten unterstützen, so werden es doch immer Ausnahmen bleiben. Freiwillig verzichtet keine Ausbeuterklasse auf ihre Vorrechte; sie muss dazu gezwungen werden durch die vereinigte, organisierte Macht der ausgebeuteten Klassen. Jede Klasse handelt, mag sie auch zuerst gewisse aus der Tradition und der Erinnerung an frühere Zustände herrührenden Vorurteile überwinden müssen, schließlich nach den Geboten ihres Klasseninteresses.

Deshalb lohnt es sich, zu untersuchen, welche Klassen alle zu den Ausgebeuteten zu zählen sind, denn diese werden, mag es auch zuerst Mühe kosten, sie zu gewinnen, doch schließlich alle als Anhänger unserer Ziele und unserer Partei in Betracht kommen. Dann wird es sich zugleich herausstellen, weshalb sie sich nicht alle sofort in der nämlichen Weise an dem Kampf betätigen können.

In der Vorhut der ganzen ausgebeuteten Masse steht die industrielle Lohnarbeiterschaft; sie ist an diese Stelle gedrängt nicht nur durch ihre überwiegende Anzahl, sondern auch durch die geistigen und sittlichen Qualitäten, die ihre besondere Stellung im Produktionsprozess ihnen verleihen. Die Entwicklung des Kapitalismus ist in erster Linie die Entwicklung des industriellen Kapitalismus; in die Industrie werden durch fortwährende Verbesserungen der Technik immer bessere, größere und kostspieligere Maschinen eingeführt, wozu immer größere Kapitalien nötig sind. Durch die Konkurrenz ihrer produktiveren Arbeitsmethoden rennt die Großindustrie den Kleinbetrieb über den Haufen und stürzt die kleinen Besitzer in das Proletariat hinab; und durch den immer wachsenden Umfang ihrer Betriebe werden stets größere Arbeitermassen in den Fabriken zusammengebracht. Das industrielle Kapital tritt revolutionär auf; es hat in einer kurzen Zeit in zuvor unglaublicher Weise das Antlitz der Erde umgewälzt; es hat staunenerregende Wunder erschaffen und alle Lebensverhältnisse im tiefsten Grunde umgekehrt.

Inmitten dieser rastlosen revolutionären Tätigkeit leben die Lohnarbeiter. Sie haben bald erkannt, dass gegenüber diesen gigantischen Produktionskräften alles Zurücksehnen nach der Unabhängigkeit des Kleinbetriebs, wo jeder seine eigenen Produktionsmittel besaß, beschränkte Torheit ist. Sie sind Proletarier, und sie werden es bleiben; eine andere Möglichkeit zu einer ausreichenden Existenz gibt es für sie nicht. Sie haben nur ihre Arbeitskraft zum Verkaufen, sie müssen sich zufrieden geben mit einem notdürftigen, zur Existenz eben ausreichenden Lohn, ohne Aussicht, durch Ersparnisse sich selbst jemals wieder eigene Arbeitsmittel zu verschaffen. Zwar wächst das Produkt ihrer Arbeit riesenhaft in dem Maße, wie sich die Produktivität der Arbeit entwickelt; aber diese Vermehrung kommt nur der Kapitalistenklasse zugute, die sich den Überschuss des Arbeitsprodukts über den Lohn aneignet. Die Kapitalistenklasse wird daher stets reicher, während die Arbeiterklasse immer besitzlos bleibt. Zwar kann sie durch ihren Zusammenschluss allmählich Lohnerhöhungen erringen, aber dem steht das fortwährende Streben der Kapitalisten gegenüber, zur Erhöhung ihres Profits die Löhne zu drücken.

Dieser Zusammenschluss hat aber eine weit wichtigere Folge noch, als die unmittelbaren Verbesserungen, die er erringt. Er lehrt die Arbeiterklasse zum ersten Male ihre Kraft kennen. Die Arbeiter leben massenhaft in genau den nämlichen Umständen zusammen; sie empfinden bald, dass sie nicht vereinzelt, sondern nur gemeinsam etwas erreichen können, und dass nur das Eintreten jedes einzelnen für ihr Gesamtinteresse, die Unterordnung der Person unter die Gesamtheit, ihnen Kraft gibt. So erwächst die Organisation, die Disziplin. Und zugleich wächst die Einsicht in das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft; die Arbeiter werden sich darüber klar, dass sie mit den technischen Beamten zusammen eigentlich alles schaffen, und dass die Kapitalisten nur als nutzlose Schmarotzer auftreten, die in der Produktion ganz gut gemisst werden könnten. Deshalb muss ihr Ideal sein, die hochentwickelte Produktion beizubehalten und nur ihre Ausbeuter los zu werden. Die Verfügung über die Produktionsmittel macht die Menschen frei; sie sehen jedoch, dass es Wahnsinn wäre, auf die Riesenkraft dieser starken eisernen Diener zu verzichten, und jeder für sich zu den primitiven Werkzeugen der Väter zurückzukehren. Nein, über diese großen leistungsfähigen Produktionsmittel wollen sie frei verfügen können; die gemeinschaftliche Besitzergreifung der Maschinen und die gemeinsame, gesellschaftliche Arbeit wird ihr Ziel sein.

Der industrielle Arbeiter jammert nicht über den ihn ausbeutenden Kapitalismus, weil er in ihm zugleich die große fortschrittliche Kraft erkannt, die ihm den Weg vorwärts zeigt und ebnet. Er lernt durch die Praxis seiner Arbeit jene Macht handgreiflich kennen, durch die der Mensch sich zur Herrschaft über die Natur emporringt. Und das Zusammenleben und Zusammenwirken lehrt ihn die Kraft der Organisation kennen, die allein imstande ist, den Kampf gegen die Ausbeutung erfolgreich aufzunehmen. Durch diese Ursachen steht das industrielle Proletariat voran im Kampfe.

Aber es bildet nicht die einzige ausgebeutete Klasse. Das Kapital hat sich nicht daraus beschränkt, die Großindustrie zu schaffen und die Kleinbürger zu vernichten; es tritt auch in die Landwirtschaft ein und nimmt dort ganz besondere Formen an, die man zum Teil auch in der Industrie wiederfindet. Wo es als Betriebskapital in eine große landwirtschaftliche Unternehmung gesteckt wird, ist seine Wirkung kaum anders als in der Industrie. Es beutet Lohnarbeiter aus und erzeugt aus ihrer Arbeit Mehrwert für den Unternehmer und für die Kapitalisten, die hinter dem Unternehmer stehen. Der Unterschied ist, dass die Landarbeiter zerstreut leben, in isolierten Dörfern, wo die gewaltige Umwälzung der Welt nicht sichtbar ist, wo die Mittel zur Hebung des Geistes dürftig sind und deshalb die überkommenen Vorurteile stärker. Deshalb entsteht der sozialistische Gedanke nicht von selbst in diesen Kreisen; er muss ihnen vielmehr gebracht werden. Da aber der Landarbeiter durch seine Lage sich völlig als Proletarier fühlt, wird er unsrer Propaganda keine andern Interessen entgegensetzen, und wenn er unsre Ansichten allmählich verstanden hat, wird er ein treuer und begeisterter Anhänger des Sozialismus werden. Die Erfolge unserer Propaganda unter den Landarbeitern zeigen, dass es hier langsam, aber sicher vorwärts geht.

Ganz anders tritt das Kapital auf, wo es, in der Regel als Wucherkapital und Handelskapital, mit den kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Wirtschaften in Berührung kommt. Wird der Kleinbauer in den Kreis der Geldwirtschaft gezogen – für Steuern, Pachtzahlungen und den Ankauf allerhand Artikel braucht er Geld – muss er also sein Produkt verkaufen, so ist er von allen Schwankungen des Marktpreises abhängig und die Rückständigkeit seiner Betriebsweise und die Beschränktheit seiner Verhältnisse stellen ihn meist in Nachteil gegenüber dem Großbetriebe. Er muss Geld leihen, entweder für Verbesserung des Betriebes, oder für Ausdehnung, oder für Ankäufe; er nimmt Hypothek auf sein Gütchen; aber damit hat er nicht die Wohlfahrt gekauft. Und da von dem Ertrag seiner Wirtschaft zuerst unbedingt die Zinsen bezahlt werden müssen, wenn ihm nicht seine Habe, mit der seine ganze Seele verwachsen ist, verkauft und abgenommen werden soll – so muss er sich in seinen Ausgaben beschränken. So entsteht das Bild des Kleinbauern, so wie es so oft durch Augenzeugen geschildert worden ist: furchtbare Abrackerung seiner selbst und seiner Familie, unendlich lange Arbeitszeit, äußerste Beschränkung der Lebenshaltung, wodurch er viel schlechter lebt als sogar die Tagelöhner, völlige geistige Barbarei. Nur dadurch kann er sich halten. Im allgemeinen sind dies ja die Mittel, durch die der konkurrenzfähige Kleinbetrieb sich eine Zeitlang über Wasser halten kann.

Ein solcher Bauer lebt in den nämlichen Umständen wie ein durch Schulden gedrückter Handwerker, oder gar wie ein Hausindustrieller. Er wird auch vom Kapital ausgebeutet, denn das Kapital lässt ihm nur den dürftigsten Lebensunterhalt und nimmt – hier in Gestalt von Zins – den ganzen, darüber hinausgehenden Ertrag seiner Arbeit weg. Diese Leute gehören ebenfalls zu der ausgebeuteten Klasse, die Interesse daran hat, gegen das Kapital anzukämpfen.

Allerdings bewirken ihre besondern Lebensumstände eine besondere Auffassung des Kampfes. In diesen kleinbürgerlichen Schichten findet die Losung der Rückkehr zum Kleinbetrieb, d. h. die Wiederherstellung des blühenden Kleinbetriebs unter Bändigung des Kapitals, starken Widerhall. Man redet oft davon, dass der „Eigentumsfanatismus“ und die „Beschränktheit“ dieser Schichten der sozialdemokratischen Agitation im Wege stehen; man soll dabei jedoch bedenken, dass diese geistige Verfassung nur sehr natürliche Verhältnisse wiederspiegelt. Einem solchen Bauer tritt das Kapital nicht als fortschrittliche, sondern nur als verheerende Macht gegenüber. Es proletarisiert ihn, nicht indem es ihn aus seiner traurigen Produktion hinauswirft, sondern durch noch tiefere Herabdrückung seines Betriebes. Spricht man ihm von Kapital, so kann er nicht anders denken als an Wucher; spricht man ihm vom Kämpfe gegen das Kapital, dann kann ihm gar nicht einfallen, dass man über die Förderung einer höheren Produktionsweise spricht, sondern er denkt nur daran, dass man ihn von dem Vampir, der ihm auf dem Nacken sitzt, befreien will. Kapital ist für ihn nicht die hochentwickelte, produktivere Wirtschaft eines großen Nachbarn, sondern der Wucherer und die Bank in der Stadt, die ihn aussaugen.

Seine reaktionären Ideale einer Abschaffung der Kapitalherrschaft, die ihn den Antisemiten zur Beute fallen ließen, entspringen also nicht in erster Linie einem geheimnisvollen „Eigentumsfanatismus“, sondern der besonderen Form, unter der er das Kapital kennen gelernt hat. Wollen wir also diese Ausgebeuteten zu Anhängern der Sozialdemokratie machen, so gibt es keinen andern Weg, als auch ihnen den wirklichen industriellen Kapitalismus vorzuführen, mit seinen fortschrittlichen Tendenzen. Ihnen muss gezeigt werden, wie diese Form des Kapitals, die großen Maschinen, keine Rückkehr zum Kleinbetrieb zulässt, aber dafür jedem eine weit bessere Existenz für die Zukunft ermöglicht. Dies ist eine schwere Arbeit, weil immer das selbsterlebte unendlich viel mächtiger wirkt, als das nur theoretisch gehörte. Deshalb ist die Ausbreitung der Industrie über das flache Land und die Ausbreitung der Verkehrslinien für den Fortschritt unserer Ideen auf dem Lande bedeutender als hundert Agitationsreden.

Obgleich also die Interessen aller Ausgebeuteten zusammengehen gegen die besitzende Klasse, bringen die verschiedenen Formen der Ausbeutung es mit sich, dass einige Klassen unter ihnen nur sehr schwer und langsam an einem revolutionären Kampf sich betätigen können. Das industrielle Proletariat, das numerisch die andern weit überwiegt, steht auch durch seine ökonomische Stellung allererst und voran im Kampfe; ihm schließen sich die andern Ausgebeuteten erst allmählich und teilweise an.


Zuletzt aktualisiert am 5.7.2008