Anton Pannekoek

Interessenkampf und revolutionärer Kampf

 

Der Kampf, den die besitzlose Klasse, mit der industriellen Arbeiterschaft an der Spitze, für ihre Interessen gegen das ganze Ausbeutertum führt, ist zugleich ein revolutionärer Kampf. Weshalb das so sein muss, scheinen viele unsrer Gegner nicht zu begreifen – wenigstens theoretisch nicht, denn praktisch fühlen sie wohl, dass es keine Phrase ist, wenn die Sozialdemokratie die Revolution, den Umsturz der heutigen Produktionsweise als ihr Ziel nennt. Aber weil sie es theoretisch nicht begreifen, machen sie krampfhafte Versuche, uns einzureden, dass dieses revolutionäre Ziel sich mit einer wirklich praktischen Interessenpolitik nicht verträgt. Die Arbeiterklasse, so sagen sie, hat das nämliche Recht wie jede andre Klasse, ihre materiellen Interessen zu verteidigen, und das Recht, einen Interessenkamps zu führen wider andre Klassen, soll ihr völlig unbehindert zuerkannt werden. Aber sie soll dabei auch die Rechte der andern Klassen anerkennen, und nicht die politische Alleinherrschaft erobern wollen, um sie zu revolutionären Zwecken zu missbrauchen; dadurch ruft sie nur den Widerstand aller andern Klassen gegen sich empor und schädigt ihre eignen Interessen, anstatt sie zu fördern.

Solche Ansichten findet die Arbeiterklasse nicht in der Praxis sich gegenüber; da bemerkt sie gar nichts davon, dass ihr Interessenkampf als berechtigt anerkannt wird. Es ist schließlich nur das Gerede einflussloser Schweitzer; da es aber unklare Köpfe, die unserm Kampf sonst sympathisch gegenüberstehen, verwirren könnte, soll hier der Zusammenhang von Interessenkamps und revolutionärem Kampf näher beleuchtet werden.

In jeder Gesellschaft, wo Klassengegensätze bestehen, findet sich auch ein Klassenkampf. Was ist die Ursache, was ist der Gegenstand des Kampfes? Weshalb können sie nicht friedlich nebeneinander leben? Jede Klasse sucht sich eine möglichst gute Existenz zu verschaffen; sie kann aber ihre Lebenshaltung nur verbessern auf Kosten andrer Klassen, weil die Masse des gesellschaftlichen Produkts beschränkt ist. Selbstverständlich könnte durch bestimmte Maßnahmen diese Masse so vergrößert werden, dass jede Klasse davon Profit hätte; aber eine solche vernünftige Beeinflussung der Produktion setzt ein Maß von gesellschaftlichem Bewusstsein voraus, das erst unter dem Sozialismus verwirklicht werden kann; da verbessern die Menschen durch bewusstes Zusammenwirken die Lebenshaltung aller. In den bisherigen, in Klassen gespaltenen Gesellschaftsordnungen ist eine solche bewusste Zusammenarbeit ausgeschlossen, und die Klassen ringen wüst miteinander, um ihren Teil an dem jeweiligen Gesamtprodukt auf Kosten der andern zu vergrößern.

Der Gegenstand des Kampfes ist also die Verteilung der Produktenmasse, die bei der bestehenden Gesellschaftsordnung produziert wird. Jede Produktionsweise hat ihre bestimmten, teils automatischen, teils willkürlichen Verteilungsregeln. Die Höhe des Lohns im Verhältnis zu dem ganzen vom Arbeiter hergestellten Produktenwert gibt die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts zwischen Arbeiterklasse und Ausbeuterklasse an. Der Zinsfuß bestimmt den Anteil des Geldkapitalisten; durch Einfuhrzölle auf Lebensmittel sichern sich die Agrarier eine Einkommenserhöhung, die von Fabrikanten oder Arbeitern getragen wird, je nachdem gleichzeitig eine Lohnerhöhung eintritt oder nicht. Diese Kämpfe um den Anteil im gesellschaftlichen Totalprodukt sind also reine Interessenkämpfe, und die Arbeiterklasse hat darin für ihre Interessen geradeso mitzukämpfen wie die andern. Zwar trifft es nicht zu, was die liberalen Theoretiker von der Gleichartigkeit dieses Kampfes der Arbeiterklasse mit den andern Interessenkämpfen behaupten. Die andern Klassen, um die es sich hierbei handelt, kämpfen miteinander um die Verteilung des Mehrwerts, den sie der Arbeiterklasse gemeinsam abnehmen; deshalb stehen sie meistenteils gemeinsam dem Proletariat gegenüber, so wie eine Ausbeutergesellschaft dem Ausgebeuteten gegenüber stets eine solidarische Masse bildet. Bei jedem großen Streik sieht man die ganze Kapitalistenklasse und ihre Pressorgane einmütig hinter den angegriffenen Unternehmer stehen. Das ist nicht aus kollegialischer Freundschaft, sondern weil sie wissen, dass diese Unternehmer den Verlust, den sie durch die abgezwungene Lohnerhöhung leiden würden, zum größten Teil durch Preiserhöhung über alle ihre lieben Kollegen verteilen werden. Ihre Solidarität ist also nur ein Ausdruck des eignen Interesses.

Die Arbeiterklasse muss also auch bei diesem Interessenkampf allen andern Klassen gegenüberstehen. Sie muss versuchen, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ihre Lebenshaltung möglichst zu verbessern, und sie schmälert dabei nicht einmal den Anteil ihrer Gegner, weil unter dem Kapitalismus das Gesamtprodukt fortwährend schnell wächst. Diesen Kampf führen die Gewerkschaften. Eine Arbeiterschicht, die bisher ohne Bewusstsein ihrer Lage dahinlebend, zum erstenmal sich zu Widerstand erhebt, stellt sich auch zuerst auf diesen Standpunkt der Gleichberechtigung mit andern Klassen. Sie will nicht weniger sein, sondern den nämlichen Anspruch haben, ihre Interessen zu vertreten und ihre Lebenslage innerhalb der bestehenden Ordnung zu verbessern. Weitere Ziele steckt sie sich dann noch nicht, höhere Interessen kennt sie noch nicht. Dies ist auch der Standpunkt der mit liberalem Geiste erfüllten Gewerkschaften. Von diesem Standpunkt wird die bestehende Gesellschaftsordnung genommen, wie sie augenblicklich ist, ohne ihre Entwicklung zu beachten. Deshalb können auch allein diejenigen bei diesem Standpunkt beharren bleiben, die den Kapitalismus als ewig betrachten und keine Entwicklung anerkennen, also die Liberalen. Für diejenigen jedoch, die die Gesellschaft als einen sich entwickelnden Organismus kennen lernten, enthält dieser Standpunkt nur eine halbe, unvollkommene und beschränkte Wahrheit.

Die Entwicklung der Gesellschaft bringt Änderungen in die ökonomische Struktur und deshalb auch Änderungen in den Charakter, die Bedeutung und das gegenseitige Verhältnis der Klassen. Die allmähliche Entwicklung des Kapitalismus hat zuerst die Bourgeoisie zur bedeutendsten Klasse gemacht, den Feudaladel zu einer nutzlosen Parasitenklasse herabgesetzt und nachher aus der Bourgeoisie eine Schicht von Großkapitalisten vorangeschoben. Jetzt, in den Herbsttagen des Kapitalismus, ist das Kleinbürgertum wirtschaftlich bedeutungslos geworden, während das Proletariat immer an Bedeutung gewinnt. Im Allgemeinen kann man sagen, dass durch die ökonomische Entwicklung einige Klassen an Macht und Bedeutung gewinnen, andere verlieren; jene werden in eine führende Stellung gedrängt, die andern davon zurückgetrieben. Die ersten stehen daher dieser Entwicklung sympathisch gegenüber und suchen sie möglichst zu fördern; sie sind fortschrittliche Klassen; die andern stehen der Entwicklung feindlich gegenüber und suchen sie – vergebens –- zu hemmen; diese sind reaktionäre Klassen.

Durch diese Entwicklung erhält der Klassenkampf eine neue und höhere Bedeutung. Es handelt sich jetzt nicht mehr allein um die Verteilung des gesellschaftlichen Produkts, sondern um die Herrschaft über die Gesellschaft. Selbstverständlich ist immer das materielle Interesse die treibende Kraft in diesem Kampfe, aber nicht in dem schmutzig-beschränkten Sinn, der ihm anhastet, wenn er nur geführt wird, um von dem gegenwärtigen Gesamtprodukt etwas mehr für sich zu gewinnen. Das materielle Interesse tritt hier weiterblickend, revolutionierend, also gleichsam in idealer Verkleidung auf, indem es die emporkommenden Klassen dazu treibt, sich der Herrschaft zu bemächtigen und diese zur Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung zu benutzen. Dann tritt die fortschrittliche Klasse als revolutionäre Klasse auf, wie es die Bourgeoisie zu wiederholtenmalen in der Geschichte getan hat. Weil sie dann fühlt, dass ihr Streben durch die Entwicklung der materiellen Dinge selbst unterstützt wird, und durch die Bedürfnisse des Fortschritts geboten wird, fühlt sie sich frisch, stark und hoffnungsfreudig und durch ihren materiellen Interessenkampf weht der Hauch einer großen geschichtlichen Kulturtat.

Demgegenüber erscheint der Kampf der andern Klassen dann um so schmutziger. Nicht nur, weil er bloßer Interessenkampf um den nackten Geldvorteil ist, ohne höheren Zug; sondern er ist noch schlimmer: er versucht, für dieses beschränkte Interesse den großen und notwendigen gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten. Durch dieses doppelte Odium belastet, ist es kein Wunder, dass die besten Charaktere und die besten Köpfe aus ihrer Mitte ihr den Rücken wenden, um sich der revolutionären Klasse anzuschließen.

Was hier allgemein ausgeführt wurde, gilt jetzt für den proletarischen Kampf. Das gesellschaftliche Getriebe ist nicht ein regelloses Durcheinander der verschiedensten Interessenkämpfe zwischen den vielen Klassen, die es jetzt gibt. Unter ihnen steht das Proletariat als revolutionäre Klasse, deren Interessen mit den Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung zusammenfallen, den besitzenden Klassen gegenüber, die eine reaktionäre Masse bilden. Die ökonomische Entwicklung drängt zur Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel, welche die Aufhebung der Klassengegensätze und die Befreiung des Proletariats bedeutet. Sie wird daher von den besitzenden Klassen möglichst bekämpft und kann nur das Werk des siegreichen, zur Herrschaft gelangten Proletariats sein.

Die Arbeiterklasse wird durch ihre Erkenntnis der Ursachen ihrer elenden Lage und der Entwickelungsgesetze des Kapitalismus dazu geführt, die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel als Endziel auf ihre Fahne zu schreiben. Für sie ist der Kampf um ihre materiellen Klasseninteressen und der Kampf für den notwendigen Fortschritt der Gesellschaft, also für eine höhere Kultur, ein und derselbe. Die Ausbeuterklasse schließt sich durch diese Gefahr, die der ganzen Ausbeuterei droht, eng zusammen. Nicht in dem Sinne, dass sie den gegenseitigen Kampf um die Verteilung des Mehrwertes jetzt aufgibt; nein, denn sie weiß, dass morgen die Revolution noch nicht da ist, und jeder sich also noch für die nächste Zeit seinen Anteil sichern muss. Aber dieser Kampf tritt doch gegen die gemeinsame Gefahr zurück; gegen die Sozialdemokratie werden die besitzenden Klassen zu einer einzigen reaktionären Masse. Ihre Sache ist jedoch nur vom niedrigsten Interessenstandpunkt zu verteidigen; die Erhaltung der kapitalistischen Ausbeutung wird von ihnen nur im Interesse einer kleinen Parasitengruppe gefordert, die diesem Interesse den notwendigen Fortschritt der Gesellschaft zu einer höheren Kulturstufe opfern will. Deshalb ist es kein Wunder, dass ihre Sache immer mehr von einsichtsvollen und tieffühlenden Menschen verlassen wird, dass die Sozialdemokratie immer mehr Anhänger gewinnt, und in ihrem Siegeslauf nur noch aufgehalten werden kann, indem über ihr Wesen bei den rückständigsten Bevölkerungsschichten lügenhafte Vorstellungen verbreitet werden.

Die gesellschaftliche Entwicklung bewirkt also, dass unser Interessenkampf zu einem revolutionären Kampf wird, denn diese Entwicklung treibt zu neuen Gesellschaftsformen; dieselbe Entwicklung sichert uns deshalb zugleich den Sieg in diesem Kampfe.


Zuletzt aktualisiert am 5.7.2008