Anton Pannekoek

 

Massenaktion und Revolution

(1912)


Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 30. Jhrg., 2. Band, 1912.
Abgedruckt in Antonia Grunenberg (Hrsgb.):Die Massenstreikdebatte“, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970, S. 264–94.
HTML-Markierung u. Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Die politische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat die Frage der Massenaktionen immer mehr in den Vordergrund geschoben. Aus den Lehren der russischen Revolution heraus wurden sie 1905 als Methode des Klassenkampfes von der Partei theoretisch anerkannt; in dem preußischen Wahlrechtskampf traten sie 1908 und 1910 auf einmal praktisch in großartiger Weise hervor; und seitdem bildeten sie, nur zeitweilig von den Bedürfnissen des Wahlkampfes zurückgedrängt, den Gegenstand eingehender Erörterungen und Diskussionen. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Einerseits ist sie eine Wirkung der steigenden Macht des Proletariats, andererseits ist sie eine notwendige Wirkung der neuen Erscheinungsform des Kapitalismus, die wir mit dem Namen Imperialismus bezeichnen. Die Ursachen und die treibenden Kräfte des Imperialismus brauchen uns hier nicht zu beschäftigen; wir stellen bloß seine Erscheinungen und Wirkungen zusammen: die Weltmachtpolitik, die Rüstungen, namentlich der Flottenbau, die Kolonialeroberungen, der wachsende Steuerdruck, die Kriegsgefahr, der zunehmende Geist der Gewalttätigkeit und des Herrentums bei der Bourgeoisie, die Reaktion im Innern, das Aufhören der Sozialreform, der Zusammenschluss des Unternehmertums, die Erschwerung des Gewerkschaftskampfes, die Teuerung. Das alles bringt die Arbeiterklasse in eine neue Kampfstellung. Früher konnte sie sich mitunter der Hoffnung hingeben, langsam aber stetig vorwärtszudringen, gewerkschaftlich durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen, politisch durch Sozialreformen und Vermehrung ihrer politischen Rechte. Jetzt hat sie alle Kräfte anzustrengen, nicht in Lebenshaltung und Rechten von der erreichten Höhe zurückgeworfen zu werden. Ihr Angriff ist vor allem Verteidigung geworden. Damit wird der Klassenkampf schärfer und allgemeiner; statt der Verlockung einer besseren Lage wird immer mehr die bittere Notwendigkeit der Abwehr von Verschlechterungen zur treibenden Kraft des Kampfes. Mit neuen Gefahren und Katastrophen bedroht der Imperialismus die Volksmassen – die kleinbürgerlichen Klassen so gut wie die Arbeiter – und peitscht sie zum Widerstand auf; die Steuern, die Teuerung, die Kriegsgefahr machen eine erbitterte Abwehr notwendig. Aber sie finden nur zum Teil ihren Ursprung in Parlamentsbeschlüssen und können daher nur zum Teil im Parlament bekämpft: werden. Die Massen selbst müssen auf den Plan treten, sich direkt geltend machen und einen Druck auf die herrschende Klasse ausüben. Zu diesem Müssen gesellt sich das Können durch die steigende Macht des Proletariats; zwischen der Ohnmacht des Parlamentes sowie unserer Parlamentsfraktionen, diese Erscheinungen zu bekämpfen, und dem steigenden Machtbewusstsein der Arbeiterklasse entsteht immer mehr ein Widerspruch. Daher sind die Massenaktionen eine natürliche Folge der imperialistischen Entwicklung des modernen Kapitalismus und bilden immer mehr die notwendige Form des Kampfes gegen ihn.

Der Imperialismus und die Massenaktionen sind Neuerscheinungen, die erst allmählich in ihrem Wesen und ihrer Bedeutung erfasst und geistig bewältigt werden können. Das ist nur auf dem Wege der Parteipolemik möglich, und mit ihnen beschäftigen sich auch die meisten Parteipolemiken der letzten Jahre. Sie bringen einen Umschwung im Denken und Fühlen, eine neue Orientierung der Geister, die über den vor allem der parlamentarischen Kampftaktik entspringenden Gegensatz zwischen Radikalismus und Revisionismus hinausgeht. Sie trennen, zeitweilig oder dauernd, diejenigen, die bisher in engster Kampfgemeinschaft zusammenstanden und sich keines Gegensatzes bewusst waren, erscheinen daher im ersten Auflodern als bedauernswerte peinliche Missverständnisse, wodurch die Auseinandersetzungen eine besondere Schärfe bekommen. Um so mehr ist es zur Klärung der Differenzen nötig, auf die Grundlagen der Kampftaktik des Proletariats einzugehen. Wir werden dann weiter in polemischer Hinsicht vor allem an zwei Artikel Kautskys im vorigen Jahre anknüpfen.
 

1. Die Macht der Bourgeoisie und des Proletariats

Die Staatsgewalt ist das Organ der Gesellschaft, das über Recht und Gesetz gebietet. Die politische Herrschaft, die Verfügung über die Staatsgewalt, muss daher das Ziel jeder revolutionären Klasse sein. Die Eroberung der politischen Gewalt ist die Vorbedingung des Sozialismus. Jetzt verfügt die Bourgeoisie über die Staatsgewalt und benutzt sie, Recht und Gesetz in ihrem kapitalistischen Interesse zu gestalten und zu erhalten. Sie wird aber immer mehr zu einer Minderheit, die noch dazu im steigenden Maße ihre ökonomische Bedeutung, ihre Wichtigkeit für den Produktionsprozess einbüßt. Die Arbeiterklasse bildet eine immerfort steigende Mehrheit der Bevölkerung, in deren Händen die wichtigste ökonomische Funktion liegt; darin liegt die Sicherheit, dass sie fähig sein wird, die politische Herrschaft; zu erobern.

Die Bedingungen und Methoden dieser politischen Revolution gilt es näher zu betrachten. Weshalb hat die Arbeiterklasse, trotzdem sie durch Kopfzahl und ökonomische Wichtigkeit die Bourgeoisie an Macht überragt, noch immer nicht die Herrschaft erobern können. Wodurch hat fast immer während der Geschichte der Zivilisation eine kleine ausbeutende Minderheit über die große ausgebeutete Volksmasse herrschen können? Weil hier noch viele andere Machtfaktoren in Frage kommen.

Der erste dieser Machtfaktoren ist die geistige Überlegenheit der herrschenden Minorität. Als Klasse, die vom Mehrwert lebt und die Leitung der Produktion in den Händen hat, verfügt sie über alle geistige Bildung, über alle Wissenschaft; durch ihren Weitblick, der das Ganze der Gesellschaft: umfasst, weiß sie, auch wenn sie von rebellischen Massen am schlimmsten bedroht wird, immer neue Hilfsquellen zu erschließen und bald durch Selbstbewusstsein und Ausdauer, bald durch verräterische Tücke die einfältigen Massen zu übertölpeln. Die Geschichte jedes Sklavenaufstandes im Altertum, jedes Bauernkrieges im Mittelalter bietet Beispiele davon. Geistige Macht ist die gewaltigste Macht in der Menschenwelt. In der bürgerlichen Gesellschaft, wo eine gewisse geistige Bildung zum Gemeingut aller Klassen wird, tritt an die Stelle des Bildungsmonopols der herrschenden Klasse ihre geistige Beherrschung der Volksmasse. Durch die Schule, die Kirche, die bürgerliche Presse verseucht sie noch immer große Massen des Proletariats mit bürgerlichen Auffassungen. Diese geistige Abhängigkeit von der Bourgeoisie ist eine Hauptursache der Schwäche des Proletariats.

Der zweite und wichtigste Machtfaktor der herrschenden Klasse liegt daneben in ihrer straffen, festen Organisation. Eine gut organisierte, kleine Zahl ist immer stärker als eine große unorganisierte Masse. Diese Organisation der herrschenden Klasse ist die Staatsgewalt. Sie tritt als die Gesamtheit der Beamten auf, die, überall als Behörden zwischen den Volksmassen zerstreut, von dem Zentralsitz der Regierung aus in einer bestimmten Weise geleitet wird. Die Einheitlichkeit des Willens, der von der Spitze ausgeht, bildet die innere Kraft und das Wesen dieser Organisation. Dadurch hat sie eine gewaltige moralische Überlegenheit, die sich in der Selbstsicherheit ihres Auftretens äußert, gegenüber den zusammenhanglosen Massen, von denen jeder etwas anderes will. Sie bildet gleichsam einen riesigen Polypen, der mit seinen vom Zentralgehirn aus bewegten, feinsten Tentakeln in jeden Winkel des Landes eindringt, einen einheitlichen Organismus, dem gegenüber die anderen Menschen, mögen sie noch so zahlreich sein, nur machtlose Atome sind. Jeder einzelne, der sich nicht gehorsam fügt, wird von dem kunstvollen Mechanismus gleichsam automatisch ergriffen und zerdrückt; und dieses Bewusstsein hält die Massen in Respekt.

Kommt aber der Geist der Rebellion über die Massen und schwindet die Ehrfurcht vor den hohen Behörden, tun die Atome sich zusammen in der Meinung, dass sie mit den paar Beamten leicht fertig werden, dann hat der Staat noch stärkere materielle Gewaltmittel – Polizei und Armee. Sie bilden auch nur kleine Trupps, Minderheiten, aber mit Mordwaffen versehen und durch eine strenge militärische Disziplin zu festen, unangreifbaren Körpern zusammengeschmiedet, die wie automatische Maschinen in der Hand der Befehlshaber wirken. Gegen ihre Kraft ist die Volksmasse, sogar wenn sie sich zu bewaffnen sucht, wehrlos.

Eine aufsteigende Klasse kann die Staatsgewalt erobern und behalten wegen ihrer ökonomischen Wichtigkeit und Macht; so die Bourgeoisie als Leiter der kapitalistischen Produktion und Besitzer des Geldes. Je mehr aber ihre wirtschaftliche Funktion überflüssig wird und sie zur Schmarotzerklasse herabsinkt, umso mehr verschwindet dieser Faktor ihrer Macht. Dann geht auch ihr Ansehen und ihre geistige Überlegenheit verloren, und schließlich bleibt ihr als einzige Grundlage ihrer Herrschaft ihre Verfügung über die Staatsgewalt mit all ihren Machtmitteln. Will das Proletariat die Herrschaft erobern, so muss es die Staatsgewalt, die Festung besiegen, in der sich die besitzende Klasse verschanzt hat. Der Kampf des Proletariats ist nicht einfach ein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Objekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt. Das Problem der sozialen Revolution lautet in kurzer Zusammenfassung: die Macht des Proletariats so hoch steigern, dass sie der Macht des Staates überlegen ist; und der Inhalt dieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung der Machtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletariats.

Die Macht des Proletariats besteht erstens aus einem von unserem Wirken unabhängigen Faktor, der oben schon erwähnt wurde: seiner Kopfzahl und seiner wirtschaftlichen Bedeutung, die beide durch die ökonomische Entwicklung immerfort steigen und die Arbeiterklasse stets mehr zur maßgebenden Gesellschafsklasse machen. Daneben stehen als die beiden großen Machtfaktoren, deren Steigerung das Ziel der ganzen Arbeiterbewegung ist: Wissen und Organisation. Das Wissen ist in seiner ersten, einfachsten Form Klassenbewusstsein, das sich allmählich steigert zur klaren Einsicht in das Wesen des politischen Kampfes und des Klassenkampfes überhaupt sowie in die Natur der kapitalistischen Entwicklung. Durch sein Klassenbewusstsein wird der Arbeiter aus der geistigen Abhängigkeit von der Bourgeoisie befreit, durch sein politisches und gesellschaftliches Wissen wird die geistige Überlegenheit der herrschenden Klasse gebrochen und bleibt ihr nur die brutale materielle Macht. Die Geschichte jedes Tages zeigt uns, in welchem Maße die Vorhut des Proletariats in dieser Hinsicht die herrschende Klasse schon überragt.

Die Organisation ist die Zusammenfügung der zuvor zersplitterten Individuen zu einer Einheit. Während zuvor der Wille jedes einzelnen unabhängig von allen anderen gerichtet ist, bedeutet die Organisation die Einheit, die gleiche Richtung aller Einzelwillen. Solange die Kräfte der einzelnen Atome nach allen Seiten gerichtet sind, heben sie sich gegenseitig auf und ist ihr Gesamteffekt Null; werden sie alle gleich gerichtet, so steht die Gesamtmasse hinter dieser Kraft, hinter diesem gemeinsamen Willen. Das Bindemittel, das die Individuen zusammenhält und sie zwingt, gemeinsam zu gehen, ist die Disziplin, die bewirkt, dass jeder sein Handeln nicht durch die eigene Einsicht, die eigene Neigung, das eigene Interesse, sondern durch Willen und Interesse der Gesamtheit bestimmen lässt. Die Gewohnheit, im organisierten Großbetrieb die eigene Tätigkeit einem Ganzen unterzuordnen, schafft in dem modernen Proletariat die Vorbedingung zu solchen Organisationen, Die Praxis des Klassenkampfes baut sie auf, macht ihren Umfang immer größer, ihren inneren Zusammenhalt, die Disziplin, immer fester. Die Organisation ist die mächtigste Waffe des Proletariats. Die gewaltige Macht, die die herrschende Minderheit durch ihre feste Organisation besitzt, kann nur durch die noch gewaltigere Macht der Organisation der Mehrheit besiegt werden.

Durch das stetige Wachstum dieser Faktoren: wirtschaftliche Bedeutung, Wissen und Organisation steigt die Macht des Proletariats über die Macht der herrschenden Klasse hinaus, damit erst ist die Vorbedingung zur sozialen Revolution gegeben. Hier wird es nun klar, in welchem Sinne die alte Idee einer raschen Eroberung der politischen Gewalt durch eine Minderheit eine Illusion war. Sie war nicht von vornherein ausgeschlossen und hätte dann die Entwicklung auch durch einen gewaltigen Ruck vorwärtsbringen können; aber das Wesen der Revolution ist doch etwas ganz anderes. Die Revolution ist der Abschluss eines tief einschneidenden Umwandlungsprozesses, der den Charakter und das Wesen der ausgebeuteten Volksmasse völlig umwälzt. Aus einem zuvor zersplitterten Haufen von Individuen, unwissend, beschränkt, von denen jeder nur die eigenen Verhältnisse sieht, dem eigenen Interesse gehorcht, wird eine festgefügte Armee von weitblickenden Kämpfern, die sich vom Gesamtinteresse leiten lassen. Zuvor machtlos, gefügig, eine tote inerte Masse gegenüber der zielbewussten, organisierten Herrschermacht, die sie zu ihren Zwecken in Bewegung setzt, wird sie zu einer organisierten Menschheit, fähig, mit bewusstem Willen das eigene Los zu bestimmen und den alten Herrschern trotzig entgegenzutreten. Aus einer passiven wird sie zu einer aktiven Masse, zu einem Organismus mit eigenem Leben, mit eigener, selbstgeschaffener Zusammenfassung und Gliederung, mit eigenem Bewusstsein und eigenen Organen. Die Vernichtung der Kapitalherrschaft hat zur Grundbedingung, dass die proletarische Volksmasse fest organisiert und vom Geiste des Sozialismus erfüllt ist; ist diese Bedingung im genügenden Maße erfüllt, so ist die Kapitalherrschaft unmöglich geworden. Dieses Emporsteigen der Massen, ihre Organisation und Bewusstwerdung, bildet daher schon das Wesentliche, den Kern des Sozialismus. Die Herrschaft des kapitalistischen Staates, der zuvor mit seiner Zwangsgewalt die freie Entwicklung des neuen lebendigen Organismus zu hemmen sucht, wird immer mehr zu einer toten Hülle, wie eine Eierschale um den jungen Vogel – sie wird gesprengt. Mag diese Sprengung, die Eroberung der Herrschaft, auch ein noch so gewaltiges Stück Arbeit und Kampf sein: das Wesentliche, worauf es ankommt, ihre Vorbedingung und Grundlage bildet das Wachstum des proletarischen Organismus, die Ausbildung der zum Siege nötigen Macht der Arbeiterklasse.

Wie diese Faktoren durch die parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kämpfe stetig wachsen, lassen wir hier beiseite und verweisen dazu auf unsere Schrift: „Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung“, wo gerade dies ausführlich behandelt worden ist.
 

2. Die Eroberung der politischen Herrschaft

Die Illusion der parlamentarischen Eroberung der Herrschaft: beruht auf dem Grundgedanken, dass das vom Volke gewählte Parlament das wichtigste Organ der Gesetzgebung ist. Wenn Parlamentarismus und Demokratie herrschen, wenn das Parlament über die ganze Staatsgewalt und die Volksmehrheit über das Parlament gebietet, würde der politisch-parlamentarische Kampf, das heißt die allmähliche Gewinnung der Volksmehrheit durch Parlamentspraxis, Aufklärung und Wahlkampf, den geraden Weg zur Eroberung der Staatsgewalt bilden. Aber diese Vorbedingungen fehlen; sie sind nirgends vorhanden und am wenigsten in Deutschland. Sie müssen erst durch Verfassungskämpfe, durch die Eroberung des demokratischen Wahlrechtes vor allem, hergestellt werden. Nach der formellen Seite hin besteht die Eroberung der politischen Herrschaft aus zwei Teilen: erstens der Herstellung der dazu nötigen verfassungsmäßigen Grundlagen, der Gewinnung politischer Rechte für die Masse, und zweitens der richtigen Ausnutzung dieser Rechte, der Gewinnung der Volksmehrheit für den Sozialismus. Wo die Demokratie schon herrscht, ist der zweite Teil der wichtigste; wo aber umgekehrt große Massen schon gewonnen sind, aber die Rechte fehlen, wie hier in Deutschland, liegt der Schwerpunkt des Kampfes um die Herrschaft nicht in dem Kampfe mittels der vorhandenen Rechte, sondern in dem Kampfe um politische Rechte.

Diese Verhältnisse sind natürlich nicht zufällig da; das Fehlen der verfassungsmäßigen Grundlagen einer Volksherrschaft in einem Lande mit hochentwickelter Arbeiterbewegung ist die notwendige Form der Kapitalherrschaft. Es drückt aus, dass die tatsächliche Macht in den Händen der besitzenden Klasse liegt. Solange diese Macht ungebrochen dasteht, kann die Bourgeoisie uns nicht selbst die formellen Mittel bieten, sie friedlich hinauszumanövrieren. Sie muss geschlagen, ihre Macht muss gebrochen werden. Die Verfassung drückt das Verhältnis der Macht der Klassen aus; aber diese Macht muss sich im Kampfe bewähren. Eine Änderung in der Abgrenzung der verfassungsmäßigen Rechte der Klassen ist nur dadurch möglich, dass die Machtmittel der kämpfenden Klassen sich entgegentreten und sich aneinander messen. Was nach der formellen Seite ein Kampf um die wichtigsten politischen Rechte ist, ist in seinem tiefsten Wesen, in Wirklichkeit ein Aufeinanderprallen der ganzen Macht der beiden Klassen, ein Kampf ihrer stärksten Machtmittel, die einander zu schwächen und schließlich zu vernichten suchen. Mag der Kampf abwechselnd Siege und Niederlagen, Zugeständnisse oder Reaktionsperioden bringen, er kann nur ein Ende finden, wenn der eine der kämpfenden Gegner besiegt am Boden liegt, wenn seine Machtmittel vernichtet sind und die politische Herrschaft dem Sieger in die Hände fällt.

In dem bisherigen Kampfe hat noch keine der beiden Klassen ihre stärksten Machtmittel ins Feld führen können. Die herrschende Klasse hat zu ihrem großen Verdruss ihre stärkste Waffe, ihre Militärmacht, in dem parlamentarischen Kampfe nie anwenden können, und tatenlos musste sie zusehen, ohne es verhindern zu können, wie das Proletariat seine Macht stetig steigerte. Darin liegt die historische Bedeutung der parlamentarischen Kampfmethode während der Zeit, als das Proletariat, noch schwach, im ersten Aufstieg begriffen war. Aber auch das Proletariat hat dabei seine stärksten Machtmittel noch nicht in Anwendung gebracht; nur seine Kopfzahl und seine politische Einsicht kamen dabei zur Geltung; aber weder seine Wichtigkeit im Produktionsprozess noch seine gewaltige Organisationsmacht – die nur im Gewerkschaftskampf, nicht im politischen Kampfe gegen den Staat gebraucht wurde – traten dabei in Wirksamkeit. Die bisherigen Kämpfe sind im Grunde nur Vorpostengefechte gewesen, während die Hauptmacht beiderseits in Reserve blieb. In den kommenden Kämpfen um die Herrschaft werden beide Klassen ihre schärfsten Waffen, ihre stärksten Machtmittel anwenden müssen: ohne dass diese sich aneinander messen, ist keine entscheidende Verschiebung der Machtverhältnisse möglich. Die herrschende Klasse wird versuchen, mit blutiger Gewalt die Arbeiterbewegung niederzuschlagen. Das Proletariat wird zur Anwendung von Massenaktionen greifen, von der einfachsten Form der Versammlungen zu Straßendemonstrationen und zu der mächtigsten Form der Massenstreiks fortschreitend. Diese Massenaktionen setzen schon eine starke Machtausbildung des Proletariats voraus; sie sind erst auf einer hohen Stufe der Entwicklung möglich, denn sie stellen Ansprüche an die geistigen und moralischen Qualitäten, an Wissen und Disziplin der Arbeiter, die erst die Frucht langer politischer und gewerkschaftlicher Kämpfe sein können. Sollen Massenaktionen mit Erfolg durchgeführt werden können, so müssen die Arbeiter über so viel politische und gesellschaftliche Einsicht verfügen, dass sie selbst die Vorbedingungen, die Wirkungen, die Gefahren solcher Kämpfe, ihres Anfanges und Abbruchs erkennen und beurteilen können. Wenn die besitzende Klasse ihre Herrschaftsmittel rücksichtslos ausnutzt, durch Lahmlegung der Presse, Verbot von Versammlungen, Verhaftung der Kampfleitung eine regelmäßige Verständigung der Arbeiter unmöglich macht, sie durch Belagerungszustand einzuschüchtern, durch falsche Nachrichten entmutigen sucht dann hängt es ab von der klaren Einsicht und festen Disziplin des Proletariats, von seinem Selbstvertrauen, seiner Solidarität und seiner Begeisterung für die große gemeinsame Sache, ob und in welchem Maße sie damit Erfolg haben kann. Die mit autoritärer Gewalt auf tretende Macht des Bourgeoisstaats und die Macht der revolutionären Tugenden der rebellischen Arbeitermassen messen sich da aneinander, wer sich als die stärkere erweist.

Wir müssen darauf gefasst sein, dass der Staat vor solchen äußersten Maßnahmen nicht zurückschreckt. Ob in Angriff oder Verteidigung, immer will das Proletariat, wenn es zu diesen Waffen greift, auf die Staatsgewalt einwirken, sie direkt beeinflussen, einen moralischen Druck auf sie ausüben, ihr seinen Willen aufzwingen. Die Möglichkeit dazu beruht auf der Tatsache, dass die Staatsgewalt in hohem Maße von dem ungestörten Fortgang des Wirtschaftslebens abhängig ist. Wird der regelmäßige Fortgang des Produktionsprozesses durch Massenstreiks gestört, so werden an den Staat auf einmal ungewöhnlich schwierige Ansprüche gestellt. Er soll „die Ordnung“ wieder herstellen, aber wie? Er kann vielleicht verhindern, dass die Massen demonstrieren, aber er kann sie nicht zwingen, wieder an die Arbeit zu gehen; er kann höchstens probieren, sie zu demoralisieren. Werden vor diesen neuen Aufgaben, gegenüber der Furcht und der Aufregung der besitzenden Klasse, die die Regierung zum Einschreiten oder zum Nachgeben auffordern, die Behörden kopflos, fehlt ihnen der feste einheitliche Wille, so ist die innere Kraft des Staates, seine Selbstsicherheit, seine Autorität, die Quelle seiner Macht angetastet. Noch schlimmer steht es, wenn Verkehrsstreiks hinzukommen, die die Verbindung der lokalen Behörden mit der Zentralgewalt stören und damit die ganze Organisation in ihre einzelnen Glieder auflösen, den riesigen Polypen in sich machtlos krümmende Glieder zerstückeln wie es in den Oktoberstreiks in der russischen Revolution einen Augenblick der Fall war.

Bald wird die Regierung es mit Gewalt versuchen, und dann liegt es an der proletarischen Entschlossenheit, ob es hilft; bald wird sie mit Nachgiebigkeit und Zusagen die Massen zu beschwichtigen suchen dann hat der Kampf der Massen ganz oder teilweise zum Siege geführt. Natürlich ist damit die Geschichte nicht aus. Ist ein wichtiges Recht errungen, so kann eine Ruhezeit eintreten, worin es bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit ausgenutzt wird. Aber dann muss immer wieder der Kampf aufs neue entflammen; die Regierung kann nicht ruhig politische Rechte gewähren, die den Massen eine entscheidende Machtstellung geben, oder sie wird versuchen, sie nachher wieder zu nehmen, andererseits können die Massen nicht aufhören, bis sie die Schlüssel zur Staatsmacht in Händen haben. Immer aufs Neue geht der Kampf also wieder los, stellt sich Organisationsmacht gegen Organisationsmacht, immer wieder muss die Staatsgewalt sich der auflösenden, zerrüttenden Wirkung der Massenaktionen aussetzen. Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völlige Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. Die Organisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit dadurch erwiesen, dass sie die Organisation der herrschenden Minderheit vernichtet hat. Dieses Ziel kann aber nur dadurch erreicht werden, dass die Massenkämpfe zugleich das Proletariat selbst aufs tiefste beeinflussen und umwandeln. Ähnlich wie die bisherigen politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe steigern sie die Macht des Proletariats, nur in viel umfassenderer, gewaltigerer und gründlicherer Weise. Wenn Massenaktionen auftreten, die das ganze gesellschaftliche Leben aufs tiefste erschüttern, so werden alle Geister aufgerüttelt; mit Spannung und Aufmerksamkeit verfolgen auch diejenigen den raschen Lauf der Ereignisse, die sich sonst, alle fünf Jahre einmal, auf das Abgeben eines Wahlzettels beschränken. Und bei den Beteiligten selbst, genötigt, mit schärfster Intensität ihren ganzen Sinn auf die politische Situation zu richten, die ihr Handeln bestimmt, wird die klare gesellschaftliche Einsicht, der politische Weitblick in solchen Zeiten politischer Krise in einigen Tagen mehr geschärft als sonst in Jahren. Die hohen Anforderungen, die diese Kämpfe stellen, erzeugen selbst, durch die Praxis des Kampfes, durch die Erfahrungen von Sieg und Niederlage, die Mittel, ihnen zu genügen. Mit der Entwicklung der Kämpfe steigt die Reife des Proletariats, die es zu weiteren, schwierigen Kämpfen befähigt.

Das gilt nicht nur für die politische Einsicht, sondern auch für die Organisation. Allerdings wird oft das Gegenteil behauptet. Vielfach herrscht die Furcht, in diesen gefährlichen Kämpfen könne die Organisation des Proletariats, sein wichtigstes Machtmittel, vernichtet werden; und auf diesem Gedanken beruht vor allem die Abneigung gegen die Anwendung des Massenstreiks bei denjenigen, deren ganzes Wirken sich auf die Leitung der heutigen großen proletarischen Organisationen bezieht. Sie fürchten, dass beim Zusammenstoß zwischen den proletarischen Organisationen und der staatlichen Organisation erstere als die schwächere notwendig den kürzeren ziehen müssen. Denn der Staat besitzt noch die Macht, die Arbeiterorganisationen, die sich erfrechen, gegen ihn den Kampf zu beginnen, einfach aufzulösen, ihre Tätigkeit zu vernichten, die Kassen zu beschlagnahmen, die Führer einzusperren; und er wird sich sicher nicht durch rechtliche oder moralische Bedenken davon abhalten lassen. Aber solche Gewaltakte werden ihm doch nichts helfen; er kann damit nur die äußere Form zertrümmern, aber nicht das innere Wesen treffen. Die Organisation des Proletariats, die wir als sein wichtigstes Machtmittel bezeichnen, ist nicht zu verwechseln mit der Form der heutigen Organisationen und Verbände, worin sie sich unter den Verhältnissen einer noch festen bürgerlichen Ordnung äußert. Das Wesen dieser Organisation ist etwas Geistiges, ist die völlige Umwälzung des Charakters derProletarier. Mag die herrschende Klasse durch die skrupellose Anwendung ihrer gesetzgeberischen und Polizeigewalt die Organisationen scheinbar vernichten: damit werden die Arbeiter nicht auf einmal wieder die alten individualistischen Menschen, die nur durch die eigene Laune, das eigene Interesse bewegt werden. In ihnen bleibt derselbe Geist, dieselbe Disziplin, derselbe Zusammenhalt, dieselbe Solidarität, dieselbe Gewohnheit des organisierten Handelns lebendig wie zuvor, und dieser Geist wird sich neue Formen der Betätigung schaffen. Mag ein solcher Gewaltakt auch schwer treffen, die wesentliche Macht des Proletariats wird dadurch nicht berührt, sowenig wie der Sozialismus durch das Sozialistengesetz getroffen werden konnte, das die regelmäßige Vereins- und Agitationsform verhinderte.

Umgekehrt wird die Organisation durch die Massenkämpfe in hohem Maße gestärkt. Hunderttausende von Arbeitern, die uns jetzt noch aus Gleichgültigkeit, aus Furcht oder Mangel an Glauben an unsere Sache fern bleiben, werden dann aufgerüttelt und beteiligen sich an dem Kampfe. Während in dem träge fließenden Laufe der Geschichte der bisherigen Alltagskämpfe ideologische Differenzen eine große Rolle spielen und die Arbeiter spalten, bricht sich in revolutionären Zeiten, wo der Kampf schärfere Formen annimmt und rasche Entscheidungen bringt, das urwüchsige Klassenempfinden unwiderstehlich Bahn – wenn nicht auf den ersten Schlag, dann um so sicherer nachher. Und zugleich wird die innere Festigkeit der Organisation gehoben werden; durch die Anforderungen derartiger schwerer Kämpfe auf die härteste Probe gestellt, wird die Disziplin auch fest wie Stahl werden, weil sie es werden muss. Durch diese Kämpfe selbst wird die jetzt noch ungenügende Macht des Proletariats so hoch gesteigert werden, wie zur Herrschaft über die Gesellschaft nötig ist. Wird aber nicht die herrschende Klasse durch Anwendung ihres schärfsten Kampfmittels, der blutigen Gewalt, imstande sein, den Arbeitern in solchen Massenkämpfen eine sichere Niederlage zu bereiten? Die Wahlrechtsdemonstrationen im Frühjahr 1910 haben gezeigt, dass sie vor der Anwendung solcher Gewalt nicht zurückschreckt. Aber dabei hat sich zugleich gezeigt, dass der Schutzmannsäbel gegen eine entschlossene Volksmasse machtlos ist. Er mag einzelne Personen schwer treffen, aber das Ziel solcher Gewalt, die Masse so weit einzuschüchtern, dass sie von ihrem Vorhaben, der Demonstration, Abstand nahm, konnte er gegen die Entschlossenheit, die Begeisterung und die Disziplin der hunderttausendköpfigen Masse nicht erreichen. Allerdings sieht es anders aus, wenn das Militär gegen die Volksmassen aufgeboten wird; gegen die Salven seiner schwerbewaffneten Linien kann eine Volksmasse ihre Demonstrationen nicht durchführen. Damit ist aber der herrschenden Klasse nicht geholfen. Denn die Armee besteht aus den Söhnen des Volkes und in steigendem Maße aus jungen Proletariern, die schon vom Vaterhaus etwas Klassenbewusstsein mitbekommen haben. Das bedeutet nicht, dass sie sofort als Waffe in den Händen der Bourgeoisie versagt; die eiserne Disziplin wird gleichsam mechanisch alle anderen Erwägungen zurückdrängen. Was aber für die alten Söldnerheere schon einigermaßen galt, dass sie sich auf die Dauer nicht gegen das Volk verwenden ließen, gilt für die modernen Volksheere in noch viel höherem Maße. Gegen eine solche Verwendung hält auch eine eiserne Disziplin schließlich nicht stand. Nichts zerrüttet die Disziplin so sicher wie die wiederholte, ein paar Mal von der Tat gefolgte Zumutung, auf das Volk, auf die eigenen Klassengenossen zu schießen, wenn sie bloß friedlich sich versammeln oder herumziehen wollen. Gerade um für den Fall einer Revolution die Disziplin der Armee unangetastet zu halten, hat die Junkerregierung in Deutschland bisher möglichst vermieden, das Militär bei Streiks zu verwenden. Das ist klug erdacht, bringt ihr aber doch keine Rettung. Die Reaktionäre, die immer zu einer „militärischen Lösung“ der Arbeiterfrage hetzen, ahnen nicht, dass sie damit nur ihren eigenen Untergang beschleunigen. Ist die Regierung genötigt, das Militär gegen die Massenaktionen des Proletariats zu verwenden, so verliert diese Waffe immer mehr ihre innere Kraft: Sie ist wie ein glänzendes Schwert, das Respekt gebietet und schwere Wunden schlagen kann, aber, sobald es gebraucht wird, anfängt, untauglich zu werden. Und geht ihr diese Waffe verloren, dann ist der herrschenden Klasse das letzte, stärkste Machtmittel aus der Hand gefallen, und sie steht wehrlos da.

Die soziale Revolution ist der Prozess der allmählichen, stufenweisen Auflösung aller Machtmittel der herrschenden Klasse und namentlich des Staates, der Prozess des stetigen Aufbaus der Macht des Proletariats bis zur höchsten Vollendung. Zu Anfang dieser Periode muss das Proletariat schon ein ziemlich hohes Maß von klassenbewusster Einsicht, geistiger Macht und fester Organisation erreicht haben, um zu den folgenden schwereren Kämpfen fähig zu sein; aber doch ist das alles noch unvollkommen. Das Ansehen des Staates und der herrschenden Klasse ist dann bei den Massen, die sie als Feinde erkennen, schon in die Brüche gegangen, aber ihre materielle Macht steht noch ungebrochen da. Am Schlüsse des Revolutionsprozesses ist von dieser Macht nichts mehr übrig; das ganze arbeitende Volk steht als hochorganisierte, das eigene Los mit klarem Bewusstsein bestimmende, zum Herrschen fähige Masse da und kann darangehen, die Organisation der Produktion in die Hand zu nehmen.
 

3. Die Aktion der Masse

In der „Neuen Zeit“ vom 13. bis 27. Oktober untersucht Genosse Kautsky in einer Artikelserie „Die Aktion der Masse“ die Formen, Bedingungen und Wirkungen der Aktionen der großen Volksmasse. Obgleich diese Artikel zweifellos dadurch entstanden sind, dass in den letzten Jahren in der Partei immer mehr von Massenaktionen die Rede war, muss doch von vornherein bemerkt werden, dass schon die Fragestellung hier nicht zu der wirklichen Frage passt, um die es sich in der Praxis handelt. Kautsky betont am Anfang, dass er natürlich unter Massenaktion nicht versteht, dass die Aktionen der organisierten Arbeiterschaft durch das Wachstum ihrer Organisationen von selbst immer massenhafter werden, sondern das Auftreten der großen „unorganisierten, gelegentlich zusammenkommenden und dann wieder auseinandergehenden Volksmasse, der ‚Straße‘ ... Damit, dass man feststellt, dass die politischen und ökonomischen Aktionen immer mehr zu Massenaktionen werden, ist keineswegs anerkannt, dass jene besondere Art der Massenaktion, die man kurz als Aktion der Straße bezeichnet, berufen ist, auch immer mehr eine große Rolle zu spielen.“ Für Kautsky gibt es also zwei Aktionsformen, die überaus verschieden sind. Einerseits die Form des bisherigen Arbeiterkampfes, wo eine kleine Kerntruppe des Volkes, die organisierte Arbeiterschaft, die vielleicht nur ein Zehntel der ganzen besitzlosen Masse umfasst, ihren politischen und gewerkschaftlichen Kampf führt. Andererseits die Aktion der großen unorganisierten Masse, der „Straße“, die aus irgendeinem Anlass sich erhebt und in die Geschichte eingreift. Für Kautsky handelt es sich um die Frage, ob das erste auch für die Zukunft die einzige Bewegungsform des Proletariats sein wird oder ob auch die zweite Form, die Aktion der Masse, noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Wo aber in den Parteidiskussionen der letzten Jahre die Notwendigkeit, die Unvermeidlichkeit oder die Zweckmäßigkeit von Massenaktionen betont wurde, handelte es sich nie um diesen Gegensatz. Es bedeutete weder die bloße Festsetzung, dass unsere Kämpfe massenhafter werden, noch das Auftreten der unorganisierten Masse auf der politischen Bühne, sondern ein Drittes, eine bestimmte neue Form der Betätigung der organisierten Arbeiter. Die Entwicklung des modernen Kapitalismus hat dem klassenbewussten Proletariat diese neuen Aktionsformen aufgezwungen. Durch den Imperialismus mit großen Gefahren bedroht, im Kampfe um mehr Macht im Staate, um mehr Rechte, ist es genötigt, in der energischsten Weise seinen Willen gegen die anderen mächtigen Kräfte des Kapitalismus zur Geltung zu bringen – energischer als durch die Reden seiner Vertreter im Parlament möglich ist. Es muss selbst auftreten, in den politischen Kampf eingreifen und durch den Druck seiner Massen Regierung und Bourgeoisie zu beeinflussen suchen. Wenn wir über Massenaktionen und deren Notwendigkeit reden, meinen wir damit eine außerparlamentarische politische Betätigung der organisierten Arbeiterklasse, wobei sie selbst unmittelbar durch ihr Auftreten statt durch Vertreter auf die Politik einwirkt. Sie sind nicht gleichbedeutend mit Aktion der „Straße“; wenn auch Straßendemonstrationen eine ihrer Formen bilden, ist gerade ihre stärkste Form, der Massenstreik, bei leeren Straßen durchzuführen. Die gewerkschaftlichen Kämpfe, worin von vornherein die Massen selbst auftreten, bilden, sobald sie große politische Wirkungen erzeugen, von selbst einen Übergang zu diesen politischen Massenaktionen. In der praktischen Frage der Massenaktionen handelt es sich also einfach um eine Erweiterung des Betätigungsfeldes der proletarischen Organisationen. Diese Massenaktionen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz zu den früheren Volksbewegungen aus der Geschichte, die Kautsky als Massenaktionen untersucht. Dort fanden sich die Massen für einen Augenblick zusammen, durch dieselbe große gesellschaftliche Kraft um gemeinsamen Willen zusammengeballt; dann zerfiel die Masse wieder zu den zersplitterten Einzelindividuen von früher. Hier sind die Massen schon vorher organisiert, ihre Aktion ist im voraus überlegt und vorbereitet, und nach deren Abschluss bleibt die Organisation zusammen. Dort, bei den alten Massenaktionen, konnte das Ziel nur der Sturz eines verhassten Regiments, also die augenblickliche Eroberung der Macht durch einen einzigen revolutionären Akt sein; weil aber, nachdem dieses Ziel erreicht war, die Masse wieder auseinanderfiel, fiel die Herrschaft doch wieder einer kleinen Gruppe zu, und wenn das Volk auch versuchte, seine Herrschaft durch das allgemeine Wahlrecht zu verankern, so war dadurch eine neue Klassenherrschaft doch nicht zu verhindern. In unseren Massenaktionen handelt es sich nun allerdings auch um die Eroberung der Herrschaft, aber wir wissen, dass sie nur durch eine hochorganisierte, sozialistische Volksmasse möglich ist. Daher ist das unmittelbare Ziel unserer Aktionen immer nur eine bestimmte Reform oder Konzession, ein Schritt vorwärts im Zurückdrängen der Macht des Feindes, ein Schritt aufwärts in dem Aufbau der eigenen Macht. Früher konnte die Volksmacht nicht stetig und sicher aufgebaut werden; sie konnte nur während eines Augenblicks in plötzlichen, gewaltsamen Eruptionen emporschießen und eine drückende Herrschaft abwerfen; aber dann zerfloss sie wieder in nichts, und eine neue Herrschaft legte sich auf die machtlose Volksmasse. Die Beseitigung aller Klassenherrschaft, die wir ins Auge fassen, ist nur dadurch möglich, dass jetzt eine bleibende Volksmacht allmählich und unerschütterlich aufgebaut wird, bis zu dem Grade, dass sie die Staatsgewalt der Bourgeoisie durch ihre Wucht einfach zerdrückt und in nichts auflöst. Früher mussten die Volkserhebungen entweder das ganze Ziel erobern, oder sie waren gescheitert, wenn ihre Macht dazu nicht ausreichte. Unsere Massenaktionen können nicht scheitern; auch wenn das gesetzte Ziel nicht erreicht wird, sind sie nicht vergebens, und sogar zeitweilige Rückschläge bauen an dem künftigen Siege mit. Die alten Massenaktionen umfassten immer nur einen winzigen Teil der ganzen Bevölkerung: die Erhebung und Zusammenrottung eines Teiles der Volksklassen der Hauptstadt genügte oft, eine Regierung zu stürzen, und mehr war jedenfalls nicht zusammenzubekommen. Heute umfassen unsere Massenaktionen auch erst eine Minderheit; aber indem sie immer weitere Kreise der zuvor unbeteiligten Bevölkerung heranziehen und sie in unsere Armee einreihen, wächst aus der Gesamtheit der Massenaktionen schließlich die Aktion der großen ausgebeuteten Volksmasse auf, die jede weitere Klassenherrschaft unmöglich macht.

Mit dieser scharfen Hervorhebung des Gegensatzes zwischen dem, was in der Parteipraxis, und dem, was bei Kautsky unter Massenaktion verstanden wird, wird nun seine Untersuchung noch gar nicht überflüssig gemacht. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass auch in Zukunft plötzliche gewaltige Erhebungen der millionenköpfigen unorganisierten Massen gegen eine Regierung losbrechen können.

Kautsky weist – mit vollem Rechte – ausführlich nach, dass der Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung, anstatt direkte Massenaktionen überflüssig zu machen, vielmehr erst recht ihre Grundbedingungen verwirklichen. Teuerung und Krieg, die in der Vergangenheit so oft die Massen zu revolutionären Erhebungen aufpeitschten, tauchen auch jetzt wieder in greifbarer Nähe auf. Daher ist es für uns von allergrößter Wichtigkeit, die Natur, die Grundlagen und die Wirkungen solcher spontanen Massenaktionen möglichst an dem Tatsachenmaterial der Geschichte zu studieren. Die Art und Weise jedoch, wie Kautsky diese Untersuchung durchführt, muss ernste Bedenken erregen. Schon das Resultat lässt diesen Mangel erkennen. Was ist eigentlich das Resultat, das dem Leser des zweiten Artikels, worin das Auftreten der Masse in der Geschichte untersucht wird, als Gesamteindruck verbleibt? Die Masse wirkt bisweilen revolutionär, aber sie wirkt auch reaktionär; sie wirkt zerstörend, bald nützlich, bald schädlich, bald bricht sie aus, wenn man es am wenigsten erwartet, bald versagt sie völlig, wenn man auf ihr Auftreten rechnet.

Die Wirkungen und Erscheinungsformen der Massenaktion können also der mannigfaltigsten Art sein. Sie lassen sich schwer vorher ermessen, denn die Bedingungen, von denen sie abhängen, sind höchst komplizierter Natur. Sie wirken fast immer entweder überraschend, alle Erwartungen übertreffend, oder enttäuschend (S. 82). Kurz, man kann eigentlich nichts davon sagen, auf nichts Bestimmtes rechnen, alles ist zufällig und unsicher. Das Resultat ist also kein Resultat; die Untersuchung ist, trotz der vielen guten und wertvollen Einzelbemerkungen, resultatlos geblieben. Woran liegt das? Wir können den Grund nicht besser angeben als durch das, was wir vor sieben Jahren in einer Kritik der teleologischen Geschichtsauffassung ausführten („Neue Zeit“, XXIII, 2, S. 423, Marxismus und Teleologie): Nimmt man die Masse ganz im allgemeinen, das ganze Volk, so findet man, dass bei der gegenseitigen Aufhebung entgegengesetzter Auffassungen und Willen anscheinend nichts übrigbleibt als eine willenlose, launenhafte, zügellose, charakterlose, passive Masse, hin und her schwankend zwischen verschiedenen Antrieben, zwischen aufbäumendem Impuls und dumpfer Gleichgültigkeit – bekanntlich das Bild, in dem die liberalen Schriftsteller am liebsten das Volk darstellen. In der Tat muss es den bürgerlichen Forschern scheinen, dass bei der unendlichen Verschiedenheit der Individuen Abstraktion vom Individuum zugleich Abstraktion ist von allem, was den Menschen zu einem wollenden, lebendigen Wesen macht, so dass nur eine eigenschaftslose Masse bleibt. Denn zwischen der kleinsten Einheit, der Einzelperson, und dem ganz Allgemeinen, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind, der inerten Masse, kennen sie kein Zwischenglied; sie kennen nicht die Klassen. Demgegenüber ist es die Kraft der sozialistischen Geschichtslehre, dass sie in die unendliche Verschiedenheit der Persönlichkeiten Ordnung und System brachte durch die Teilung der Gesellschaft: in Klassen. In jeder Klasse findet man die Individuen beisammen, die ungefähr dieselben Interessen, denselben Willen, dieselben Ansichten haben, welche denen der anderen Klassen entgegengesetzt sind. Unterscheidet man in den geschichtlichen Massenbewegungen die besonderen Klassen, so tritt aus dem zuvor unentwirrbaren Nebelbild auf einmal ein übersichtlicher Kampf der Klassen klar hervor, mit seinen wechselnden Momenten von Angriff, Rückzug, Verteidigung, Sieg und Niederlage. Man vergleiche nur die Darstellungen, die Marx von den Revolutionen von 1848 gegeben hat, mit denen bürgerlicher Autoren. Die Klasse ist das Allgemeine in der Gesellschaft, das zugleich einen besonderen Inhalt behalten hat; hebt man dieses Besondere auf, um zu einem schlechthin Allgemein-Menschlichen zu gelangen, so bleibt nichts Bestimmtes übrig. Eine Gesellschaftswissenschaft; kann nur Inhalt haben, wenn sie sich mit den Klassen beschäftigt, wo die Zufälligkeit des Einzelindividuums aufgehoben ist und zugleich das Wesentliche des Menschen, ein bestimmtes, von anderen verschiedenes Wollen und Fühlen, in reiner, abstrakter Gestalt geblieben ist.

Unter den Schülern von Marx hat keiner die Bedeutung dieser marxistischen Theorie als Rüstzeug für den Forscher der Geschichte so schlagend bewiesen wie gerade Kautsky in seinen historischen Schriften; die glänzende Klarheit, die er überall bringt, stammt wesentlich daher, dass er überall zu den Klassen, ihrer Lage, ihren Interessen und Anschauungen durchdringt und daraus ihre Taten erklärt. Hier aber hat er das marxistische Rüstzeug zu Hause gelassen, und dadurch kommt er zu keinem Resultat. Nirgends in seiner historischen Darlegung ist von dem besonderen Klassencharakter der Massen die Rede; im Anschluss an und in Polemik mit LeBon und Kropotkin wird nur das unwesentliche psychologische Moment beleuchtet, aber das wesentliche, das wirtschaftliche Moment, woraus gerade die Verschiedenheiten in Form und Ziel der Massenbewegungen entspringen, bleibt unberücksichtigt. Die Aktion des Lumpenproletariats, das nur plündern und zerstören kann ohne eigene Ziele, die Aktion der Kleinbürger, die in Paris auf die Barrikaden stiegen, die Aktion moderner Lohnarbeiter, die durch einen Massenstreik politische Reformen erzwingen, die Aktion der Bauern in ökonomisch zurückgebliebenen Ländern – wie 1808 in Spanien oder Tirol – gegen die künstliche Aufpfropfung moderner Gesetze, sie sind alle verschieden und können in der Eigenart ihrer Methoden und Wirkungen nur durch eine Betrachtung der Klassenlage und der Klassenempfindungen begriffen werden. Wirft man sie aber alle als „Aktion der Masse“ unterschiedslos zusammen, so kann daraus nur ein Kuddelmuddel entstehen, der gerade das Gegenteil von Klarheit bringt. Die Darstellung des spanischen Guerillakriegs als eine reaktionäre Massenaktion, die an Stelle der nützlichen Franzosen das „reaktionäre Geschmeiß“ von „Pfaffen, Junkern und Höflingen“ wieder ans Ruder brachte, mag in den Tagen des Kampfes gegen den schwarzblauen Block sehr sympathisch berühren, aber entspricht doch nicht der sonstigen historischen Methode Kautskys. Wenn er auf die Junischlacht als warnendes Beispiel einer von der Regierung provozierten und im Blute erstickten Massenaktion hinweist, zu Nutz und Frommen der heutigen Generation, so fehlt dabei die wesentliche Tatsache, dass hier zwei Massen, eine bürgerliche und eine proletarische, einander gegenüberstanden. So muss jedes historische Ereignis in eine falsche Beleuchtung kommen, wenn man versucht, es unter Vernachlässigung seines wesentlichen besonderen Charakters unter dem inhaltlos-allgemeinen Begriff der Massenaktion unterzubringen.

Dieser Mangel wirkt auch nach, wo im dritten Artikel „die historischen Wandlungen der Massenaktionen“ betrachtet werden. Hier, wo es sich um die Bedingungen und Wirkungen proletarischer Massenbewegungen handelt, bietet Kautsky wieder eine Fülle von wertvollen und wichtigen Darlegungen; aber trotzdem fordert die allgemeine Grundlage seiner Ausführungen zur Kritik heraus. Kautsky sieht, dass die modernen Massenaktionen einen anderen Charakter tragen werden als die alten; aber er sucht den Grund des Unterschieds vor allem in der Organisation und der Aufklärung.

Aber wie machtvoll man sich auch die Massenaktionen vorstellen mag, die aus dieser Situation entspringen können, sie werden nicht mehr völlig den Charakter tragen, den sie ehedem hatten. Die vierzig Jahre politischer Volksrechte und proletarischer Organisation können nicht spurlos vorübergegangen sein. Die Zahl der organisierten und aufgeklärten Elemente in der Masse ist zu groß geworden, als dass sie sich nicht auch bei spontanen Ausbrüchen geltend machen müsste, wie plötzlich diese auch kommen mögen, wie gewaltig die Erregung, der sie entspringen, wie sehr auch jede planmäßige Leitung bei ihnen ausgeschaltet sein mag (S. 115).

Hier wird also der hauptsächlichste Gegensatz zwischen den früheren und den heutigen und künftigen Massenaktionen völlig außer acht gelassen: die ganz andere Klassenzusammensetzung der modernen Massen. Auch die unorganisierten Massen von heute müssen ganz anders auftreten als die Volksmassen von früher, denn sie unterscheiden sich von ihnen als proletarische von bürgerlichen Massen. Die historischen Massenbewegungen waren Aktionen bürgerlicher Massen; Handwerker, Bauern und kleinbürgerlich empfindende Arbeiter der Kleinbetriebe traten darin auf. Weil diese Klassen durch die Natur ihrer Wirtschaft individualistisch waren, deshalb musste die Masse sofort wieder in Einheiten auseinanderfallen, sobald die Aktion vorüber war. Heute bestehen die großen aktionsfähigen Massen vorwiegend aus Proletariern, aus Arbeitern im Dienste des Großkapitals, die einen ganz anderen Klassencharakter aufweisen und in ihrem Denken, Fühlen und Sein völlig von dem alten Kleinbürgertum verschieden sind.

Gegen diese Verschiedenheit im Grundcharakter wird der Gegensatz zwischen organisierten und unorganisierten Massen zwar nicht bedeutungslos – denn Schulung und Erfahrung machen bei gleich veranlagten Mitgliedern der Arbeiterklasse viel aus –, aber doch zu einer Nebensache. Wiederholt ist schon darauf hingewiesen, dass nicht alle Arbeiterschichten in demselben Maße organisierbar sind. Gerade die Arbeiter in den kapitalistisch höchstentwickelten und konzentrierten Betrieben, in der kartellierten schweren Industrie, in dem Eisenbahnbetrieb, teilweise auch in den Bergwerken, bieten der gewerkschaftlichen Organisation viel größere Schwierigkeiten als die weniger konzentrierte Großindustrie. Die Ursache liegt auf der Hand: die Macht des Kapitals – oder des Staates als Unternehmer – tritt ihnen gegenüber so ungeheuer groß und erdrückend auf, dass Widerstand auch mittels der Organisation aussichtslos erscheint. Diese Massen sind in ihrem tiefsten Wesen so proletarisch wie keine andere; die Arbeit im Kapitaldienst hat ihnen eine instinktive Disziplin eingepaukt. Ihre Kämpfe trugen bisher den Charakter spontaner Ausbrüche; aber darin zeigten sie eine erstaunliche Disziplin und Solidarität und eine unerschütterliche Festigkeit im Kampfe, wovon namentlich in Amerika in den letzten Jahren die Ausstände der unorganisierten Massen im Dienste der Trusts schöne Beispiele zeigten. Zwar fehlt ihnen die Erfahrung, die Ausdauer, die Einsicht, die erst in einer längeren Kampfpraxis erworben werden können. Aber in ihnen steckt nichts von dem alten Individualismus des unorganisierten Kleinbürgertums. Ihre Klassenlage bewirkt, dass sie blitzschnell die Lehren der Organisation und des sozialistischen Klassenkampfes erfassen und anzuwenden wissen. Wenn man sie als nicht oder schwer organisierbar bezeichnet, so bezieht sich das nur auf die Form der heutigen gesellschaftlichen Organisation, nicht auf Kampfdisziplin und Organisationsgeist, nicht auf die Fähigkeit, sich an den proletarischen Massenaktionen zu beteiligen. Sobald durch irgendein Ereignis die Macht des Kapitals nicht mehr überwältigend und unantastbar erscheint, werden sie in den Kampf treten, und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass sie in den Massenaktionen eine noch größere Rolle spielen, noch wertvollere Bataillone bilden werden als die Masse der jetzt Organisierten.

Damit schließt sich die Aktion der unorganisierten Masse von selbst an die anfangs von uns betrachtete Aktion der organisierten Massen an. Die Massenaktionen, die die organisierte Arbeiterschaft beschließt, ziehen rasch weitere Kreise des Proletariats heran, und damit steigern sie sich allmählich zu Aktionen der ganzen proletarischen Klasse. Der heute oft so groß erscheinende Gegensatz zwischen Organisierten und Unorganisierten geht dabei verloren; nicht aus dem Grunde, weil letztere sich nun alle in die Kaders der bestehenden Organisationen aufnehmen lassen – denn es ist gar nicht sicher, dass diese in der heutigen Form ruhig bestehen bleiben können –, sondern in dem Sinne, dass in diesen Kampfformen alle in derselben Weise ihre Disziplin, ihre Solidarität, ihre sozialistische Einsicht, ihre Hingabe an ihre Klasse betätigen können. Die Aufgabe der Sozialdemokratie – in der Gestalt der heutigen Parteiorganisation oder in welchem sonstigen Organ sie sich verkörpert – ist es, als der geistige Ausdruck dessen, was in dieser Masse lebt, ihre Aktion zu leiten und einheitlich zu gestalten.

Ganz anders sieht das Bild aus, das man aus Kautskys Darlegung gewinnt. Anknüpfend an das Resultat seiner historischen Untersuchung, dass man von einer Massenaktion nichts Bestimmtes sagen kann, sieht er auch in den künftigen Massenaktionen gewaltige Eruptionen, die, völlig unberechenbar, über uns hereinbrechen wie eine Naturkatastrophe, zum Beispiel ein Erdbeben. Bis dahin hat die Arbeiterbewegung ihre bisherige Praxis einfach weiter zu verfolgen; die Wahlen, die Streiks, die parlamentarische Arbeit, die Aufklärung, es geht alles in der alten Weise in allmählich steigendem Umfang weiter, ohne etwas Wesentliches an der Welt zu ändern – bis auf einmal, durch einen äußeren Anlass geweckt, eine gewaltige Massenerhebung emporsteigt und vielleicht das herrschende Regiment niederwirft. Genau nach dem alten Muster der bürgerlichen Revolutionen; nur mit dem Unterschied, dass jetzt die Parteiorganisation fertig steht, die Herrschaft in die Hand zu nehmen und die Früchte des Sieges festzulegen und, statt die Kastanien, die die Masse aus dem Feuer holte, als neue herrschende Schicht selbst zu verzehren, sie zu einem Gericht für alle bereitet. Es ist dieselbe Theorie, die während der Massenstreikdebatte vor zwei Jahren von Kautsky vertreten wurde – die Theorie des Massenstreiks als eines einmaligen revolutionären Aktes, dazu bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen –, die hier in neuer Form auftritt. Es ist die Theorie des aktionslosen Abwartens – aktionslos nicht in dem Sinne, dass nicht in der üblichen Weise parlamentarisch und gewerkschaftlich weitergearbeitet wird, sondern in dem Sinne, dass man die großen Massenaktionen wie Naturereignisse passiv an sich herankommen lässt, statt sie jedes Mal in dem richtigen Moment aktiv zu veranstalten und weiterzutreiben. Es ist die Theorie, die zu der Massenaktionen abholden Praxis der Parteileitung gehört, und aus ihr lässt sich die oft kritisierte Praxis der Parteileitung erst logisch verstehen, während der großen Momente, als die Aktion des Proletariats geboten war, untätig zu bleiben und zur Zeit des Wahlrechtskampfes den Straßendemonstrationen möglichst rasch ein Ende zu bereiten, damit wieder Ruhe herrsche. Im Gegensatz zu unserer Lehre der revolutionären Aktivität des Proletariats, das in einer Periode steigender Massenaktionen seine Herrschaft aufbaut und die Macht des Klassenstaats immer mehr abträgt, erwartet diese Theorie des passiven Radikalismus keinen Umschwung von der bewussten Tätigkeit des Proletariats. Er stimmt mit dem Revisionismus darin überein, dass unsere bewusste Tätigkeit sich in dem parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampf erschöpft, und daher ist es nicht sonderbar, dass seine Praxis nur allzuoft – wie neulich bei dem Stichwahlabkommen – eine Annäherung an die revisionistische Taktik aufweist. Von dem Revisionismus unterscheidet er sich dadurch, dass jener von solcher Tätigkeit selbst den Umschwung, den Übergang zum Sozialismus erwartet und sie daher auf Reformen zuspitzt, während er diese Erwartung nicht teilt, sondern revolutionäre Ausbrüche voraussieht als Katastrophen, die ohne unseren Willen und unser Zutun wie aus einer anderen Welt plötzlich hereinbrechen und dem Kapitalismus den Garaus machen. Es ist „die alte bewährte Taktik“ in ihrer negativen Seite zum System erhoben. Es ist die Katastrophentheorie in der Form, wie wir sie bisher nur als bürgerliches Missverständnis kannten, zur Parteilehre avanciert. Zum Schlüsse führt Kautsky aus:

Wenn wir für die nächste Zeit die politische und soziale Situation schwanger mit Katastrophen sehen, entspringt dies aus unserer Auffassung dieser besonderen Situation, nicht aus einer allgemeinen Theorie. Geht aber aus der Besonderheit der Situation die Notwendigkeit einer besonderen, einer neuen Taktik hervor? Einige unserer Freunde behaupten das. Sie wollen unsere Taktik revidieren. Eingehender ließe sich darüber erst reden, wenn sie mit bestimmten Vorschlägen aufträten. Das ist bis heute nicht geschehen. Vor allem müsste man wissen, ob man neue taktische Grundsätze oder neue taktische Maßnahmen verlangt... (S. 116).

Darauf ist einfach zu erwidern, dass wir keine Vorschläge zu machen brauchen. Die Taktik, die wir als richtig betrachten, ist schon die Taktik der Partei; ohne dass dazu Vorschläge nötig waren, hat sie sich praktisch durchgesetzt in den Massendemonstrationen. Theoretisch hat die Partei sie schon anerkannt in der Jenaer Resolution, wo vom Massenstreik als Mittel zur Eroberung neuer politischer Rechte geredet wird. Das soll nicht besagen, dass wir mit der Praxis der letzten Jahre in jeder Hinsicht zufrieden sind; aber man kann doch nicht als eine neue Taktik vorschlagen, dass die Parteileitung es nicht als ihre Aufgabe ansehen soll, Massenaktionen des Proletariats möglichst zu dämpfen oder Diskussionen über die Taktik zu verbieten. Wenn wir mitunter über eine neue Taktik reden, so nicht in dem Sinne von neu vorzuschlagenden Grundsätzen oder Maßnahmen – dass gehandelt wird, wie die Situation jedes Mal erheischt, setzen wir als selbstverständlich voraus –, sondern um klare theoretische Einsicht zu bringen über das, was sich tatsächlich vollzieht. Die Taktik des Proletariats wälzt sich schon um, oder besser noch, erweitert sich, indem sie neue, mächtigere Kampfmittel in sich aufnimmt; unsere Aufgabe als Partei ist es, in den Massen ein klares Bewusstsein dieser Tatsache zu wecken, ihrer Ursachen wie auch ihrer weitesten Konsequenzen. Wir müssen Aufklärung darüber verbreiten, dass die Situation, die aus der Zunahme der Massenkämpfe entsteht, nicht eine zufällige ist, von der sich nichts sagen lässt, sondern die bleibende und normale Situation der letzten Periode des Kapitalismus. Wir müssen darauf hinweisen, dass die bisherigen Massenaktionen nur den Anfang einer Periode revolutionärer Klassenkämpfe bilden, in denen das Proletariat, statt passiv zu warten, bis Katastrophen von außen die Welt erschüttern, selbst im stetigen Angriff und Vorwärtsdrängen, in schwerer opfervoller Arbeit seine Macht und seine Freiheit aufbauen muss. Das ist die „neue Taktik“, die man auch mit vollem Rechte die naturgemäße Fortsetzung der alten Taktik nach ihrer positiven Seite nennen könnte.
 

4. Der Kampf gegen den Krieg

Wir haben oben den Verfassungskampf als einen Kampf beschrieben, worin die Machtmittel der beiden Klassen sich aneinander messen, um sich gegenseitig zu schwächen. Aber es ist klar, dass das Objekt, die politischen Grundrechte, nur die äußere Form, nur den Anlass bilden, während der wesentliche Inhalt des Kampfes darin besteht, dass die Klassen ihre Machtmittel gegeneinander ins Feld führen und jede die des Gegners zu vernichten sucht. Daher kann derselbe Kampf auch aus anderen Anlässen entbrennen; es ist nicht sicher, dass nur aus dem preußischen oder dem Reichstagswahlrecht diese großen Machtkämpfe entspringen werden, wenn auch selbstverständlich die Vernichtung der Macht der Bourgeoisie von selbst eine demokratische Verfassung mit sich bringt. Die imperialistische Entwicklung schafft immer neue Anlässe zu gewaltigen Empörungen der ausgebeuteten Klassen gegen die Kapitalherrschaft, worin ihre ganze Macht aufeinanderplatzt. Der wichtigste dieser Anlässe ist die Kriegsgefahr.

Bisweilen begegnet man der Ansicht, es dürfe hier nicht einfach von einer Gefahr geredet werden. Die Kriege sind immer große weltumwälzende Kräfte, Wegbereiter der Revolutionen gewesen. Während sonst die Volksmasse noch lange geduldig die Kapitalherrschaft ertragen würde, ohne Energie, sich dagegen aufzuraffen, weil es diese Herrschaft noch für unantastbar hält, peitscht ein Krieg, vor allem, wenn er ungünstig verläuft, sie zur Aktion auf, schwächt die Autorität des herrschenden Regiments, deckt seine Schwäche auf und lässt es leicht unter dem Ansturm der Massen zusammenbrechen. Das ist zweifellos richtig, und darin liegt der Grund, weshalb das Vorhandensein einer revolutionär gesinnten Arbeiterschaft in den letzten Jahrzehnten die stärkste Macht des Friedens bildete. Die Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit der Massen, diese stärksten Stützen der Kapitalherrschaft, fallen in Kriegszeiten weg; die gesteigerte Leidenschaft wird sich in einem Proletariat, in dem die sozialistischen Lehren fest wurzeln, nicht in nationalistische Erregung, wie bei unaufgeklärten Massen, sondern in revolutionäre Entschlossenheit umsetzen und sich bei der ersten Gelegenheit gegen die Regierung wenden. Das weiß auch das Großkapital, und daher wird es sich hüten, einen europäischen Krieg, der zugleich eine europäische Revolution bedeutet, leichtfertig heraufzubeschwören. Daraus ergibt sich aber noch gar nicht, dass wir im stillen einen Krieg herbeiwünschen müssten. Auch ohne Krieg wird das Proletariat imstande sein, in stetiger Steigerung seiner Aktionen die Kapitalherrschaft über den Haufen zu werfen. Nur wer an der selbständigen Aktionsfähigkeit des Proletariats verzweifelt, kann in einem Krieg die notwendige Vorbedingung zur Revolution sehen.

Gerade umgekehrt liegt die Sache. Wir dürfen nicht allzu fest darauf rechnen, dass das Bewusstsein der revolutionären Gefahr bei den Regierenden den Krieg von uns fernhalten wird. Die imperialistische Beutelust und die sich daraus ergebenden Streitigkeiten können sie in einen Krieg hineinziehen, den sie gar nicht direkt gewollt haben. Und wenn in einem Lande die revolutionäre Bewegung so gefährlich geworden ist, dass sie in nächster Nähe die Herrschaft des Kapitals bedroht, dann hat es von einem Kriege nicht noch Schlimmeres zu befürchten und wird nur zu leicht versuchen, dadurch die Gefahr von sich abzulenken. Für die Arbeiterklasse bedeutet aber ein Krieg das schlimmste aller Übel. Ein Krieg in unserer modernen kapitalistischen Welt ist eine furchtbare Katastrophe, die in viel stärkerem Maße als alle früheren Kriege Wohlfahrt und Leben unzählbarer Massen vernichtet. Die Arbeiterklasse hat alle Leiden dieser Katastrophe auszukosten, und daher wird sie alles daransetzen müssen, den Krieg zu verhindern. Nicht die Frage: was wird nach dem Kriege? muss ihre Gedanken beherrschen, sondern die Frage: in welcher Weise wird es uns möglich sein, das Ausbrechen eines Krieges unmöglich zu machen? Hier liegt eine der wichtigsten Taktikfragen der internationalen Sozialdemokratie vor, die schon manchen Kongress beschäftigt und da die verschiedenste Beurteilung erfahren hat. Kautsky beschäftigt sich damit in seinem Maiartikel des vorigen Jahres: „Krieg und Frieden“ („Neue Zeit“, XXIX, 2, S. 97). Er stellt sich dort die Frage, ob die Arbeiter durch einen Massenstreik („ein Streik der Gesamtmasse der Arbeiter“) einen Krieg verhindern oder ihn im Keime ersticken können, und er antwortet: unter gewissen Verhältnissen ist das allerdings möglich; wo eine leichtfertige und dumme Regierung das einzige Moment zum Kriege bildet und keine feindliche Invasion droht – wie zum Beispiel im spanischen Kriege gegen Marokko –, da kann der Sturz dieser Regierung durch einen Massenstreik zum Frieden führen – leider war das spanische Proletariat dazu zu schwach. Nun ist es klar, dass dieser Fall nur auf kapitalistisch sehr unentwickelte Verhältnisse passt, wo nicht die Masse der Bourgeoisie, sondern nur eine kleine Gruppe an dem Kriegsabenteuer interessiert ist, also eine andere bürgerliche Partei fertig steht, die Stelle der gestürzten Regierung zu übernehmen, und das Proletariat schwach und ungefährlich ist. Wo das Proletariat stark genug ist, einen Massenstreik von dieser Kraft durchzuführen, da fehlen in der Regel alle diese Bedingungen. Kautsky geht jedoch auf diese Klassenverhältnisse nicht ein, sondern stellt einen anderen Gegensatz auf:

Ganz anders steht die Sache dort, wo eine Bevölkerung sich vom Nachbarn, ob mit Recht oder Unrecht, bedroht fühlt, wo sie in ihm und nicht in der eigenen Regierung die Kriegsursache erblickt, und wo der Nachbar nicht so ungefährlich ist wie etwa Marokko, das nie Spanien mit Krieg überziehen könnte, sondern wo die Gefahr seines Eindringens ins Land droht. Nichts fürchtet ein Volk mehr als eine feindliche Invasion. Die Schrecken des heutigen Krieges sind grauenvoll für jeden der Kriegführenden, auch für den Sieger. Aber sie werden doppelt und dreifach grauenvoll für den Schwächeren, in dessen Gebiet der Krieg hineingetragen wird. Der Gedanke, der heute Franzosen und Engländer in gleichem Maße peinigt, das ist die Furcht vor der Invasion des übermächtigen deutschen Nachbarn.

Ist es einmal so weit gekommen, dass die Bevölkerung nicht in der eigenen Regierung, sondern in der Bösartigkeit des Nachbarn die Kriegsursache erblickt – und welche Regierung versuchte es nicht, mit Hilfe ihrer Presse, ihrer Parlamentarier, ihrer Diplomaten, der Masse der Bevölkerung diese Anschauung beizubringen! –, kommt es unter solchen Umständen zum Kriege, dann entbrennt in der ganzen Bevölkerung auch einmütig das heiße Bedürfnis nach Sicherung der Grenze vor dem bösartigen Feinde, nach Schutz vor seiner Invasion. Da werden zunächst alle zu Patrioten, auch die international Gesinnten, und wenn einzelne den übermenschlichen Mut haben sollten, sich dagegen auflehnen und hindern zu wollen, dass das Militär zur Grenze eilt und aufs reichlichste mit Kriegsmaterial versehen wird, so brauchte die Regierung keinen Finger zu rühren, sie unschädlich zu machen. Die wütende Menge würde sie selbst erschlagen. (S. 104.)

Hätten wir nicht in der Betrachtung über die Aktion der Masse eine andere Probe dieser Art Geschichtsbetrachtung kennengelernt, so könnte man kaum glauben, dass diese Sätze aus der Feder Kautskys stammen. Die mächtigste Realität des gesellschaftlichen Lebens, die Grundtatsache sozialistischer Einsicht, die Existenz der Klassen mit ihren besonderen entgegengesetzten Interessen und Anschauungen ist hier vollkommen verschwunden. Zwischen Proletariern, Kapitalisten, Kleinbürgern gibt es keine Unterschiede; sie sind alle zusammen zu einer „ganzen Bevölkerung“ geworden, die „einmütig“ gegen den bösartigen Feind zusammensteht. Und nicht nur das instinktive Klassenempfinden, sondern auch die jahrzehntelang eingeprägten Lehren des Sozialismus sind in nichts aufgelöst; die Sozialdemokraten – die hier mit dem verschämten Ausdruck „international Gesinnte“ angedeutet werden – sind alle mit nur wenig Ausnahmen zu Patrioten geworden. Alles, was sie bisher über die Kapitalinteressen als Ursache der Kriege wußten, ist vergessen. Die sozialdemokratische Presse, die ihre mehr als eine Million Leser über die Triebkräfte der Kriege aufklärt, scheint plötzlich verschwunden zu sein oder ihren Einfluß wie durch einen Zauberschlag völlig eingebüßt zu haben. Die sozialdemokratischen Arbeiter, die in den Großstädten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, sind zu einer „Menge“ geworden, die wütend diejenigen erschlägt, die sich dem Kriege zu widersetzen wagen. So überflüssig es ist, nachzuweisen, daß diese ganze Darstellung mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, so wichtig ist es, zu untersuchen, wie sie möglich ist, aus welcher Grundlage sie entspringt.

Sie entspringt einer Auffassung des Krieges, die die früheren Verhältnisse und Wirkungen der Kriege spiegelt, aber zu den modernen Verhältnissen nicht mehr passt. Seit dem letzten großen europäischen Krieg hat sich die Struktur der Gesellschaft völlig umgewandelt. Zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges war Deutschland so gut wie Frankreich ein Agrarland mir nur einigen Industriebezirken darin zerstreut; Bauernwirtschaft und Kleinbürgertum beherrschten den Charakter des Volkes. Die Wirkungen des Krieges, wie sie in den Köpfen der Menschen noch immer leben, in allen Schilderungen wiederkehren und auch Kautskys Darstellung beherrschen, sind ihre Wirkungen auf Bauernwirtschaft und Kleinbürgertum. Für diese Klassen besteht der Schrecken des Krieges, außer der Lebensgefahr der Dienstpflichtigen, vor allem in der feindlichen Invasion, die ihre Felder zertritt, ihre Häuser verwüstet, ihnen die schwersten Lasten und Kontributionen auferlegt und damit ihre mühsam erarbeitete Wohlfahrt vernichtet. Die Gegenden, wo der Krieg sich abspielt, werden in der schlimmsten Weise heimgesucht; wo aber der Krieg nicht hinkommt, da hat man relativ wenig zu leiden. Das wirtschaftliche Leben spielt sich dort in der üblichen Weise ab; Frauen, Jugendliche und Greise können zur Not auch den Acker bestellen, und nur der Verlust oder die Verkrüppelung der in den Krieg Gezogenen kann einzelne Familien auch wirtschaftlich schwer treffen.

So war es noch in 1870. Heute liegt die Sache für die Großstaaten, vor allem Deutschland, ganz anders. Der hochentwickelte Kapitalismus hat das Wirtschaftsleben zu einem verschlungenen, kunstvollen Organismus gemacht, worin jeder Teil aufs engste mit dem Ganzen zusammenhängt. Die Zeit, dass Dorf und Kleinstadt fast unabhängig von der übrigen Welt sich selbst genügten, ist vorbei; Bauern und Kleinbürger sind in den Kreis der kapitalistischen Warenproduktion gezogen. Jede Störung dieses empfindlichen Produktionsmechanismus zieht die große Masse der Bevölkerung in Mitleidenschaft. Damit sind die Wirkungen des Krieges, seine Wirkungen für das Proletariat und für alle, die vom Kapitalismus abhängig sind, ganz anderer Natur geworden als die alte traditionelle. Seine Schrecken bestehen nicht mehr in einigen verwüsteten Feldern und verbrannten Dörfern, sondern in der Stillsetzung des ganzen ökonomischen Lebens. Ein europäischer Krieg, sei es ein Landkrieg, der mehrere Millionen junger Männer auf die Schlachtfelder ruft, oder ein Seekrieg, der den Handel und damit die Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln für die Industrie hemmt, bedeutet eine ökonomische Krise von ungeheurer Wucht, eine Katastrophe, die bis in die entferntesten Landesteile die Quellen des Lebens der weitesten Volkskreise verschüttet; unser hochentwickelter Gesellschaftsorganismus wird gelähmt, während zugleich ungeheure Massen waffentragender Männer mit den modernen vollkommenen Kriegswaffen einander gleichsam maschinenmäßig vernichten. In dieser Krise werden Kapitalwerte vernichtet, gegen die der Wert der verbrannten Häuser und der zertretenen Fluren Bagatellen sind und die vielleicht die direkten Kriegskosten übertreffen. Der Schrecken eines solchen Krieges ist nicht beschränkt und kaum konzentriert auf die Gebiete, wo die Schlachten geschlagen werden, sondern erstreckt sich auf das ganze Land. Auch wenn der Feind draußen bleibt, ist die Katastrophe im eigenen Lande nicht weniger groß. Für ein modernes kapitalistisches Land ist nicht die Invasion des Feindes, sondern der Krieg selbst das große Unglück, das in erster Linie die proletarischen Massen, die am meisten durch die Krise zu leiden haben, zur Gegenaktion aufpeitscht. Das Ziel dieser Aktion, das die Massen zur höchsten Leidenschaft aufrüttelt, ist nicht den Feind fernhalten, wie in der alten Bauernzeit, sondern den Krieg verhindern.

Dieses Ziel ist für die Arbeiterbewegung auch immer maßgebend gewesen; auf den internationalen Kongressen handelte es sich nie um die Frage, ob man den Krieg zu verhindern suchen oder als gute Patrioten zu den Grenzen eilen sollte, sondern darum, in welcher Weise der Krieg am besten zu verhindern sei. In der Betrachtung der dazu bestimmten Aktionen herrscht aber nur allzuoft eine mechanische Auffassung, als könne man sie im voraus beschließen, zur gegebenen Zeit in Wirkung setzen und wie am Schnürchen ablaufen lassen. Die Sozialdemokratie erscheint dabei, statt als der Ausdruck der durch die tiefsten Klasseninteressen aufgepeitschten Leidenschaft der proletarischen Massen, als „sechste Großmacht“, die wie eine riesige Geheimgesellschaft in dem Augenblick, wenn die Kanonen losgehen sollen, auf den Plan tritt und durch ihre klug erdachten Manöver die militärischen Operationen anderen Großmächte zu vereiteln sucht. Diese mechanische Auffassung liegt der früher von den Anarchisten verfochtenen und neuerdings in Kopenhagen von den Franzosen und Engländern wieder vertretenen Idee zugrunde, durch einen Streik der Transportarbeiter und der Munitionsfabriken der kriegslüsternen Regierung einen bösen Streich zu spielen. Mit vollem Rechte wendet sich Kautsky gegen diese Idee und betont, dass nur eine Aktion der ganzen Klasse auf die Regierung einwirken kann.

Aber auch in seinen eigenen Betrachtungen blickt dieselbe medianische Auffassung durch, indem er herauszufinden sucht, unter welchen äußeren Bedingungen ein Massenstreik zur Verhinderung des Krieges sein Ziel erreichen oder nicht erreichen kann. Das Proletariat soll also zu entscheiden haben: entweder die Sache liegt günstig für uns, wir achten den Massenstreik und verderben der Regierung ihr Konzept – oder die Verhältnisse liegen für eine solche Aktion ungünstig; dann machen wir nichts, dann tun wir ähnlich wie die Berliner im November 1848, die die gewalttätigen Pläne der Reaktion schlau zuschanden machten, indem sie widerstandslos die Truppen einziehen und sich entwaffnen ließen. Dann legen wir also den Regierungen nichts in den Weg und lassen uns willig zur Grenze schicken. Nun mag sich so der Vorgang abspielen in irgendeiner Theorie oder in den Köpfen von Führern, die glauben, dass ihre Weisheit dazu berufen ist, das Proletariat vor Dummheiten zu bewahren. Aber in der Wirklichkeit des Klassenkampfes, wo der leidenschaftliche Wille der Massen sich geltend macht, kann es sich nicht um eine solche Wahl handeln. In einem hochkapitalistischen Lande, wo die proletarische Masse ihre Macht als die große Volksmacht fühlt, wird sie, wenn sie die schlimmste Katastrophe über sich hereinbrechen sieht, einfach auftreten müssen. Sie muss den Versuch machen, mit allen Mitteln den Krieg zu verhindern; wollte sie da schlau der Entscheidung ausweichen, so wäre das eine kampflose Übergabe und schlimmer als eine Niederlage; und erst wenn sie bei diesem Versuch geschlagen und niedergeworfen wird, kann sie ihre Schwäche anerkennen.

Selbstverständlich handelt es sich nicht darum, ob das gut und empfehlenswert ist oder nicht. Nicht wie die Arbeiter handeln sollen, sondern wie sie handeln werden, ist der Gegenstand dieser Erörterung. Die Beschlüsse und Resolutionen von Vorständen, bürokratischen Körperschaften oder gar der Organisationen selbst sind dafür nicht maßgebend, sondern die tiefen Wirkungen, die die Ereignisse auf die Massen ausüben. Wenn wir oben von „müssen“ reden, bedeutet da nicht, dass es nach unserer Meinung nicht anders sein darf, sondern dass sich das mit Naturnotwendigkeit durchsetzen wird. In gewöhnlichen Zeiten steckt in den Parteianschauungen immer ein Stück Tradition, „die wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden lastet“. Kriegszeiten sind ähnlich wie Revolutionszeiten Zeiten der höchsten geistigen Spannung; dann wird der Schlendrian des Alltags gebrochen, und die gewohnheitsmäßigen Gedanken verlieren ihre Kraft gegen die Klasseninteressen, die in urwüchsiger Klarheit den gewaltsam aufgerüttelten Massen zum Bewusstsein kommen. Neben diesen spontan aus der gewaltigen Wirkung der großen Umwälzungen hervorkommenden neuen Auffassungen und Zielen verblassen die überlieferten Parteiprogramme, und die Parteien und Gruppen kommen oft ganz umgewandelt aus dem Schmelztiegel solcher kritischen Perioden hervor. Ein lehrreiches Beispiel dafür bietet die Wirkung des Krieges von 1866 auf die deutsche Bourgeoisie; sie erkannte da, dass das schöne Fortschrittsprogramm ihren tiefsten Klasseninteressen nicht entsprach; ein Teil der Wähler ließ die liberalen Parlamentarier, ein Teil der Parlamentarier ließ das Programm im Stich und bekannte sich zum Nationalismus und zur Regierungsreaktion.

Das soll nicht besagen, dass die Beschlüsse der Partei etwas Gleichgültiges wären. Sie gebieten zwar nicht über die Zukunft und drücken bloß aus, mit welcher Klarheit die Partei die Zukunft erkennt. Aber je besser die Partei den unvermeidlichen Entwicklungsgang und ihre eigenen Aufgaben darin durchschaut, um so erfolgreicher und geschlossener werden die proletarischen Aktionen sein. Die Aufgabe der Partei ist es, die Aktion der proletarischen Massen einheitlich zu gestalten, indem in ihr zum klaren Bewusstsein kommt, was die Massen leidenschaftlich bewegt, indem sie richtig erkennt, was in jedem Augenblick nötig ist, sich an die Spitze stellt und damit der Aktion eine gewaltige Stoßkraft gibt. Würde sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so könnte sie zwar Ausbrüche der Masse, die über sie hinweggehen würde, nicht verhindern, aber durch den Konflikt zwischen Parteidisziplin und proletarischer Kampfesenergie, durch den Mangel an Einheit zwischen Leitung und Massen würden die Aktionen verwirrt, zerfahren, zersplittert werden und außerordentlich an Kraft und Wirkung einbüßen. Parteibeschlüsse, Programme und Resolutionen bestimmen die geschichtliche Entwicklung nicht, sondern werden durch unsere Einsicht in die unvermeidliche geschichtliche Entwicklung bestimmt – diese Wahrheit muss immer denjenigen vorgehalten werden, die glauben, dass die Partei eine revolutionäre Bewegung entweder machen oder verhindern könne, namentlich den bürgerlichen Gegnern, die mit großem Geschrei die Sozialdemokratie denunzieren, als habe sie die Pläne zur Verhinderung eines Krieges gleichsam wie eine Mobilisationsorder fertig in einer geheimen Schublade liegen. Aber dabei darf nicht übersehen werden, dass die Partei mit ihren Beschlüssen, ihrer Natur nach, zugleich einen lebendigen, aktiven Teil der geschichtlichen Entwicklung bildet, dass sie gar nichts anderes sein kann als die Kerntruppe jeder proletarischen Aktion und daher mit Recht den ganzen Hass auf sich zieht, womit die Verteidiger des Kapitalismus jede revolutionäre Bewegung verfolgen.

Von verschiedenen Seiten – von den eigenen Wortführern zur Verteidigung gegen nationalistische Angriffe, von ausländischen Genossen als Tadel – ist oft als besonders wichtig die Tatsache hervorgehoben worden, dass die deutsche Arbeiterschaft es bisher abgelehnt hat, sich für bestimmte Mittel zur Verhinderung des Krieges auszusprechen. Man kann demgegenüber auf die Stuttgarter Resolution hinweisen, die die Anwendung aller zweckdienlichen Mittel offen lässt. Aber auch sonst wäre es unrichtig, darauf ein allzu großes Gewicht zu legen. Mehr als von den Beschlüssen der Partei hängt hier von dem Geiste ab, der die Massen erfüllt. Der bisherige zurückhaltende Standpunkt entsprach nun allerdings dem bisherigen Geiste der Massen, die instinktiv empfanden, dass sie einem Kampfe gegen die ganze Macht des stärksten Militärstaats nicht gewachsen waren. Aber mit dem stetigen Steigen der proletarischen Macht muss einmal ein Umschwung eintreten, dessen Anzeichen jetzt schon wiederholt zutage traten. Eine Arbeiterklasse, die vierzig Jahre intensiver grundsätzlicher sozialistischer Aufklärung durchgemacht hat, wird sich nicht mehr mit dem Gefühl vollkommener Machtlosigkeit auf die Schlachtfelder schleppen lassen. Das deutsche Proletariat, das an Organisationsmacht voransteht in der Welt, kann den Maschinationen des internationalen Großkapitals gegenüber weder tatenlos in Ruhe verharren noch sich auf angebliche Friedenstendenzen der bürgerlichen Welt verlassen. Es wird nicht anders können als eingreifen, sobald die Kriegsgefahr aufkommt, und seine Macht den Machtmitteln der Regierung gegenüberstellen.

Welche Formen diese Aktionen annehmen werden, hängt wesentlich von den Verhältnissen, von der Größe der Gefahr und den Aktionen des Feindes, der regierenden Klasse ab. Sie schließt in ihrer einfachsten Form an die Tatsache an, dass das Kapital sich vor allem durch Rücksicht auf das Proletariat vom Kriege abhalten lässt. Ist das Proletariat machtlos, gleichgültig, regt es sich nicht, so dünkt der Bourgeoisie diese Gefahr nicht groß und wird sie leichter einen Krieg wagen. Die Protestaktionen des Proletariats tragen daher in ihrer ersten Form den Charakter einer Warnung, damit die herrschende Klasse sich der Gefahr bewusst und zur Vorsicht gemahnt wird. Gegen die Kriegshetze der interessierten kapitalistischen Kreise muss es durch internationale Demonstrationen einen Druck auf die Regierungen ausüben, um sie einzuschüchtern. Je drohender aber die Kriegsgefahr wird, um so nachdrücklicher müssen die weitesten Volkskreise aufgerüttelt werden, um so energischer und schärfer werden die Demonstrationen sich gestalten, vor allem wenn von der gegnerischen Seite versucht wird, sie gewaltsam zu unterdrücken. Weil es sich dabei um eine Lebensfrage des Proletariats handelt, wird es schließlich auch zu den allerstärksten Mitteln, wie zum Beispiel Massenstreiks, greifen müssen. So entwickelt sich der Kampf zwischen dem Kriegswillen der Bourgeoisie und dem Friedenswillen des Proletariats zu einem Stück gewaltigen Klassenkampfes, für das alles gilt, was zuvor über die Bedingungen und Wirkungen der Massenaktionen zur Eroberung eines demokratischen Wahlrechts gesagt wurde. Die Aktionen gegen den Krieg werden die weitesten Kreise aufklären, sie mobilisieren und in den Kampf ziehen, die Macht des Kapitals schwächen, die Macht des Proletariats steigern. Die Verhinderung des Krieges, die in der mechanischen Auffassung als ein im voraus klug erwogener Plan erschien, kann in einem Ernstfall nur das schließliche Resultat eines sich von Aktion zu Aktion zur höchsten Intensität steigernden Klassenkampfes sein, aus dem die Macht der Staatsgewalt aufs empfindlichste geschwächt, die Macht des Proletariats aufs höchste gesteigert herauskommt.

Kautsky stellt den Gegensatz auf: nur wenn wir herrschen, ist die Kriegsgefahr beseitigt; solange der Kapitalismus herrscht, wird ein Krieg nicht absolut zu verhindern sein. In dieser scharfen Gegenüberstellung zweier Gesellschaftsformen, die unvermittelt, gleichsam durch einen plötzlichen Umschlag ineinander übergehen, übersieht Kautsky den Prozess der Revolution, worin durch das aktive Auftreten des Proletariats die eigene Macht allmählich aufgebaut wird, die Herrschaft des Kapitals stückweise abbröckelt. Daher stellen wir gegenüber seinem Gegensatz den dritten Fall der „umwälzenden Praxis“: gerade der Kampf um den Krieg, der unvermeidliche Versuch des Proletariats, den Krieg zu verhindern, wird zu einer Episode in dem Prozess der Revolution, zu einem wesentlichen Teil des proletarischen Kampfes zur Eroberung der Herrschaft.


Zuletzt aktualisiert am 14. Dezember 2019