Karl Radek


Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse


Das Wesen des Imperialismus

1. Kapitalistische Verdunkelungsversuche

Es ist klar, dass dieser allgemeine Kampf um kolonialen Besitz, der ohne Rast geführt wird unter steter Bedrohung des Friedens, allgemeine Ursachen haben muss. Das Kapital und seine Verfechter nennen eine Reihe solcher Ursachen: sie sprechen von der Übervölkerung der alte kapitalistischen Länder, von der Notwendigkeit der Zufuhr von Rohstoffen, ohne die die Industrie nicht existieren könne. Und wo diese Gründe nicht verfangen, dort greifen sie zu hochklingenderen Redensarten. Sie sprechen von dem Recht ja, von der Pflicht der höheren Zivilisation, sie den unentwickelten Ländern beizubringen.

Es genügt, die Stichhaltigkeit dieser Argumente kurz zu prüfen, um anzusehen, dass es sich hier um Scheinargumente handelt, die die wahren Ursachen des kapitalistischen Ausbeutungsdranges verschleiern sollen.

Wenn sich die Verfechter der kapitalistischen Kolonialpolitik auf die immer wachsende Zahl der Bevölkerung berufen, die auswandern müsse, so fragen wir sie: ja, warum kolonisiert denn Frankreich, dessen Bevölkerungszuwachs sehr klein ist und dessen Kolonien größtenteils von Untertanen anderer europäischer Staaten besiedelt werden? In Algerien [2] hat Frankreich 7 Milliarden Francs verpulvert, und; es gelang ihm insgesamt 364.000 Franzosen unterzubringen. Diese Zahl kann aber erst iii ihrer wahren Bedeutung erfasst werden, wenn man sich erinnert, dass sie nach 70 Jahren algerischer Politik Frankreichs erreicht worden ist, und dass sie eine große Anzahl naturalisierter Spanier, Italiener und Eingeborener enthält. Noch ärger ist es um Tunis bestellt: dort beträgt die Zahl der Franzosen nach dreißig Jahren französischer Herrschaft nur 24.000, während die der Italiener 83.000, der Malteser 12.000 beträgt. [3] Dabei liegen beide Länder dicht vor Frankreich. Diese Zahlen beweisen, dass Frankreich kolonisiert, obwohl es über keine genügende Zahl von Kolonisten verfügt, wozu noch in Betracht gezogen werden muss, dass die französischen Militärkreise jeden französischen Auswanderer als eine militärische Schwächung Frankreichs betrachten, weil Frankreichs Bevölkerung sich fast gar nicht vergrößert, während die deutsche stark zunimmt.

Schon dies würde beweisen, dass die Ursache der Kolonialpolitik nicht in zu großem Wachstum der Bevölkerung besteht. Würden aber auch alle Länder, die kolonisieren, einen starken Bevölkerungszuwachs, ja sogar eine starke Auswanderung besitzen, so könnte das nicht als Triebkraft der modernen Kolonialpolitik angesehen werden. Denn erstens hängt es ganz von den Umständen ab, ob ein starker Bevölkerungszuwachs eine Auswanderung notwendig macht. Als Deutschland noch ein Agrarland war, mussten jahraus jahrein Zehntausende proletarisierter deutscher Bauern, die in Deutschland keine Arbeit finden konnten, übers Meer wandern, obwohl Deutschland damals eine viel kleinere Bevölkerung hatte als jetzt. Die deutsche Auswanderung betrug in den Jahren 1831 bis 1840 177.000, von 1841-1850 485.000, von 1851-1860 1.130.000, von 1861-1870 970.000, von 1871-1880 595.000. [4] Obwohl seit dieser Zeit die deutsche Bevölkerung stark zugenommen hat – im Jahre 1871 betrug sie nur 41 Millionen, im Jahre 1880 45 Millionen, im Jahre 1890 49 Millionen, im Jahre 1900 56 Millionen und im Jahre 1910 64 Millionen, – sinkt die Auswanderungszahl in den nächsten Jahrzehnten: in der Zeit vom Jahre 1891 bis 1900 beträgt sie noch 529.869, und in dem letzten Jahrzehnt nur noch 269.441. [5] Die deutsche Kolonialpolitik beginnt also just in einer Epoche, wo trotz der starken Bevölkerungszunahme, die in der rapid wachsenden Industrie Beschäftigung findet, die Auswanderung abnimmt Schon dies beweist dass zwischen dem Drang des deutschen Kapitals nach kolonialer Ausbreitung und dem deutschen Bevölkerungszuwachs kein Zusammenhang besteht. Dass die deutschen Kolonien für die noch existierende deutsche Auswanderung überhaupt nicht in Betracht kommen, beweisen die folgenden Zahlen. [6] Es wanderten aus, nach:

Jahr

Großbritannien

Übriges
Europa

USA

Brasilien

Übriges
Amerika

Australien

Afrika

Asien

1901

1.168

31

19.912

402

   282

217

  55

6

1902

1.181

  2

29.211

807

   546

235

114

2

1903

   856

  1

33.649

693

   732

153

226

1

1904

   719

26.085

355

   648

  97

  78

2

1905

   672

26.005

333

   924

  84

  57

1906

   310

29.226

182

1.237

  86

  33

1907

   153

30.431

167

   745

163

  37

1908

   157

17.951

326

1.240

175

  33

1

1909

   164

19.930

367

4.256

178

  26

1910

     77

22.773

353

2.184

128

  16

Von 269.441, die in dem letzten Jahrzehnt aus Deutschland ausgewandert sind, begab sich in die jetzigen Kolonialländer (Asien und Afrika) die „stattliche“ Zahl von 596 Auswanderern. Und das ist natürlich: die deutschen Auswanderer, Arbeiter, Kleinbürger, wandern in Länder aus, wo sie guten Lohn finden, und das ist in erster Linie Amerika. Die deutschen Kolonien aber eignen sich nicht für die Entwicklung der Industrie; sie haben weder Kohle, noch Eisen, und in der überwiegenden Mehrheit sind sie schon aus klimatischen Gründen für den dauernden Aufenthalt von Europäern nicht geeignet. In die deutschen Kolonien wandern also nur mehr oder weniger kapitalkräftige Elemente aus, die dort als Plantagenbesitzer, Farmer und Händler Profit zu ergattern suchen.

Was von dem Argument der Kolonialpatrioten überhaupt zu halten ist beweist die Tatsache, dass das deutsche Kapital jährlich ungefähr 1½ Millionen ausländischer Arbeiter heranzieht, um die vom deutschen Proletariat erreichte Lohnhöhe niederzudrücken. Dabei soll dieses aber geneigt sein, Kolonien zu gründen und um ihretwillen die Gefahr von Kriegen auf sich zu nehmen, nur um die jetzige, oder zukünftige Arbeiterschaft von den Entbehrungen der Auswanderung in fremde Länder zu retten! Glaube das, wer selig sein will! Aber selbst unter den bürgerlichen Professoren, die sich das größte Verdienst um die Verbreitung dieses Märchens über die Triebkräfte der deutschen Kolonialpolitik erworben haben, findet man Leute, die den Schwindel offen entlarven. So schrieb der Kieler Professor Bernhard Harms, der sich speziell mit den Fragen der Weltwirtschaft befasst, aus Anlass der Marokkokrise, in der der abgerittene Gaul des Bevölkerungszuwachses wieder mal abgehetzt wurde: „Es ist meines Erachtens ganz überflüssig, davon überhaupt zu reden, denn im Interesse Deutschlands liegt es, die Masse seiner Bevölkerung im Lande zu behalten, um vermöge seiner größeren Zahl von hier aus seine Macht spielen zu lassen. Unsere künftige Stellung unter den Weltvölkern wird sehr erheblich durch die Zahl der Menschen bedingt, die wir im gegebenen Augenblick aufraffen können. Hätten wir heute schon achtzig bis neunzig Millionen Einwohner in Deutschland, so gäbe es vermutlich gar keine Marokkofrage. Die wirtschaftlich mit so großen Vorteilen verbundene exponierte Lage Deutschlands ist für uns solange ein Glück, als wir durch unsere militärische Macht im Herzen Europas ein unbedingtes Übergewicht haben“. [7]

Durch das Bevölkerungsargument versuchen sich die Verfechter der deutschen Kolonialpolitik als die größten Volksfreunde aufzuspielen. Demselben Ziel dient das zweite Argument, durch das sie die Notwendigkeit der Kolonialpolitik nachzuweisen suchen. Die deutsche Industrie könne nicht ohne Zufuhr überseeischer Rohstoffe bestehen. In der deutschen Einfuhr machten die Rohstoffe und Lebensmittel im Jahre 1898 80, im Jahre 1908 83 Prozent aus. Diese kolonialen Rohstoffe könnten „wir“ selber in Kolonien erzeugen, wenn wir solche in genügender Zahl hätten; dadurch wäre nicht nur die deutsche Industrie von einem Tribut an das Ausland befreit, nicht nur würde die Gefahr, dass uns diese Zufuhr eines Tages gesperrt, wie auch, dass uns die Preise willkürlich diktiert würden, verschwinden, es würde auch eine Verbilligung der Lebensmittel und aller Waren eintreten, zu deren Produktion die teuren ausländischen Rohstoffe nötig sind. Rührend, wenn es wahr wäre! Aber die Statistik und die Nationalökonomie sagten etwas anderes, als das Märchen der Kolonialpatrioten.

Erstens, wie steht es mit unserem Bezug von Rohstoffen? Kommen sie größtenteils aus fremden Kolonien? Nur zu einem sehr kleinen Teile! Ein Blick in die Statistik zeigt, dass es nicht Kolonien sind, aus denen die deutsche Industrie ihre Rohstoffe bezieht Die deutsche Einfuhr betrug im Jahre 1910 8.934,1 Millionen, wovon auf Europa, Amerika, den australischen Bund und Neuseeland (auch diese Länder darf man nicht als Kolonien betrachten, da sie fast selbständig sind und nach eigenen Interessen regiert werden) 7.661,5 Millionen entfallen. Von den übrigen 1.272,6 Millionen, die sich auf die Einfuhr aus Afrika, Asien und Polynesien verteilen, muss man wenigstens die 36 Millionen der japanischen Einfuhr abziehen, da Japan doch ein selbständiger kapitalistischer Staat ist. Es bleibt also von den ca. 9 Milliarden deutscher Einfuhr, in der die Rohstoffe und Lebensmittel 80 Prozent ausmachen, nur 1 Milliarde 236 Millionen übrig, die aus dem Handel mit allen Kolonialländern Asiens und Afrikas gewonnen werden. In dieser Ziffer ist schon die deutsche Einfuhr aus China (über 94 Millionen) enthalten, und wir wollen ihr auch die aus der Türkei zurechnen, da ja nicht ausgeschlossen ist, dass die beiden Länder, obwohl jetzt unabhängig, noch Objekt der Kolonialpolitik bilden können. Wenn wir also zu den schon gewonnenen 1236 Millionen noch 67 Millionen der Einfuhr aus der europäischen, asiatischen und afrikanischen Türkei zurechnen, erlangen wir die Summe von 1303 Millionen, also keine anderthalb Milliarden und nicht einmal den sechsten Teil der deutschen Einfuhr.

Das wichtigste dabei ist dass die der deutschen Industrienotwendigsten Lebensmittel und Rohstoffe, Weizen und Baumwolle, nur zu einem winzigen Teil aus den Kolonialländern bezogen werden. So wird die Baumwolle [8] nur für 73 Millionen von Ägypten, ca. 40 von Britisch Indien, aber für 406 Millionen von den Vereinigten Staaten Nordamerikas, also von einem kapitalistischen Lande, bezogen. Diese Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, die auf dem Baumwollmarkt fast ein Monopol besitzen – macht das europäische Kapital sehr oft zum Opfer der willkürlichsten Preisspekulationen.

Aber die Kolonien können dagegen nicht helfen. Das deutsche Kapital versucht zwar in Togo, Kamerun und Ostafrika den Baumwollbau einzuführen, es trifft aber dabei auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Es ist bisher nicht gewiss, ob nicht die klimatischen Verhältnisse alle Versuche des Anbaues von Baumwolle in den deutschen Kolonien aussichtslos machen, es ist aber sicher, dass sich ihnen die sozialen Verhältnisse der deutschen Kolonien entgegenstemmen. Bei den Negern selbst ist die Arbeitsteilung so wenig entwickelt, dass es undenkbar ist, sie ihrer Arbeit an der Hervorbringung der Lebensmittel zu entreißen und sie zu bewegen, sich gänzlich der Baumwollkultur zu widmen. Würde das aber gelingen, so würde die Notwendigkeit, für sie Lebensmittel in die Kolonien einzuführen, den Preis der kolonialen Baumwolle so erhöhen, dass der Baumwollbau sich unrentabel zeigen würde. Und es ist fraglich, ob er sich selbst bei der Unterstützung der Regierung entwickeln würde, denn er erfordert nicht nur eine viel höhere Kulturstufe, als die, auf der sich die Neger trotz 25 jähriger deutscher Herrschaft befinden, sondern jede größere Preisschwankung auf dem Baumwollmarkte entmutigt die Neger so, „dass – wie die Denkschrift über die Entwicklung der deutschen Kolonien im Jahre 1909 hervorhebt – alle diese Zusicherungen und Bemühungen (Geldbelohnung für Fleiß, Versicherung der Mindestpreise) indessen nicht imstande waren, die Bedenken der Eingeborenen ganz zu beseitigen“. Noch schlechter steht es um den Plantagenbetrieb. Die Neger sind in Ostafrika noch Grundbesitzer und haben ihre Verwandtschaftsorganisationen noch beibehalten. Es ist sehr schwierig, sie zu überreden, sich auf den Baumwollplantagen schinden zu lassen. Dabei wohnen sie großenteils in dem nordwestlichen Teil Ostafrikas, während die Küstengebiete am meisten für den Plantagenbau geeignet sind. Der Arbeitermangel besteht also schon jetzt, was würde erst sein, wenn die Baumwollernte den Umfang des deutschen Bedarfs – 2 Millionen Ballen – hätte, also 200 000 Leute erfordern müsste. Die zwangsweise Abordnung der Neger zur Arbeit, für die die Kolonialschriftsteller in den verschiedenster Formen eintreten, würde den Baumwollbau nicht weiter bringen, sondern Aufstände hervorrufen. Die deutschen Kolonialkreise sind sich auch dieser Aussichtslosigkeit gut bewusst: das geht schon aus der Tatsache hervor, dass die Regierungsdenkschrift über die Baumwollnot keine Abhilfemittel vorzuschlagen weiß; und welche Stimmung in den kolonialen kapitalistischen Kreisen herrscht, malt ein bekannter Kolonialschriftsteller mit folgenden Worten aus: „Es lässt sich nicht leugnen, dass das vor drei und zwei Jahren, ja im voriger Jahre sehr große Interesse für den Baumwollbau in den deutschen Kolonien bedeutend nachgelassen hat. Die Gründe dafür sind darin zu suchen, dass der auf Eingeborenen-Kultur in Togo gegründete Baumwollenbau sich als Fehlschlag erwiesen hat, auch die mit großen Hoffnungen ins Werk gesetzten Plantagengründungen die hoch gespannten Erwartungen nicht erfüllt haben, die vor drei und zwei Jahren gehegt wurden.“ [9] Wenn trotzdem die Baumwollfrage immer wieder angeschnitten wird, ja selbst die deutschen Arbeiter aufgefordert werden, auch ihre Groschen beizutragen, damit sie bei zwecklosen Versuchen verpulvert werden, so hat dieses zwei Gründe: erstens hilft das Baumwollgeschrei den Anschein erwecken, als treibe man Kolonialpolitik im allgemein-wirtschaftlichen und nicht im rein kapitalistischen Interesse, zweitens erzeugt man dadurch Stimmung für den Eisenbahnbau in den Wüsteneien Afrikas, ohne welchen diese zwecklosen Versuche mit den Baumwollkulturen nicht durchführbar sind. Aus dem Eisenbahnbau aber, der aus den Steuern des deutschen Volkes in Afrika gefördert wird, fließen dem Kapital gesalzene Profite zu!

Besser noch als dieses Beispiel zeigt das Verhalten des deutschen Kapitals in dieser Frage die Schwindelhaftigkeit des Rohstoffarguments. Während die Kolonialschriftsteller Wagen von Papier zur Darlegung der Bedeutung deutscher Kolonien für die Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen verbrauchen, fällt es dem deutschen Kapital nicht im Traume ein, sich für die koloniale Rohstoffproduktion besonders zu erwärmen. „Zwar hatte schon Bismarck im Jahre 1889 den Plan eines kolonialen Baumwollbaues erwogen – schreibt der Handelsredakteur des „Berliner Tageblattes“ O. Jöhlinger [10] – es gelang indes damals noch nicht, die beteiligten Kreise von der Notwendigkeit zu überzeugen, und die bereits unternommenen Schritte der Regierung mussten ohne tatkräftige Beteiligung der nächsten Interessenten zunächst ergebnislos bleiben.“ Und später? Bis zum Jahre 1907 kümmerte sich das deutsche Kapital, mit Ausnahme einiger Lieferanten, um die Kolonien seht wenig. Für die Baumwollkulturversuche brachte es nach der Regierungsdenkschrift über die Baumwollfrage bis Ende 1909 insgesamt 1,7 Millionen Mark auf. Und dabei hausiert man mit der Behauptung, von der Lösung dieser Frage hänge das Los der deutschen Textilindustrie ab! Und es kann auch nicht anders sein. Erstens könnten die deutschen Kolonien nach Berechnungen kolonialfreundlicher Schriftsteller [11] vielleicht erst nach hundert Jahren den Rohstoffbedarf Deutschlands decken.

Auf einen solchen Zeitraum geben aber die Kapitalisten aus eigener Tasche sehr wenig, sie wollen den Profit sofort haben; zweitens sind sie zu gute Geschäftsleute, um nicht zu wissen, dass der Preis der Rohstoffe nicht in Windhuk oder Dar-es-Salam, sondern auf dem Weltmarkte bestimmt wird, dass also die Rohstoffe aus deutschen Kolonien ihnen ebenso teuer oder billig zugestellt werden, wie die ausländischen Rohstoffe. Das deutsche Kohlenund Roheisen-Syndikat beweisen durch ihre Praxis genügend, dass sie sich ebenso gut auf die Verteuerung der Rohstoffe verstehen, wie die New Yorker Baumwollbörse.

Wenn aber die Kolonialfexe von der Verbilligung der Lebensmittel durch billige Zufuhr aus den Kolonien sprechen, so sollten sie damit nicht einmal den einfältigsten Deutschen zu ködern versuchen; als ob es keine deutschen Junker gäbe mit ihrem Brotwucher. Und dass die deutschen Junker gar nicht gewillt sind, sich den aus deutschen Kolonien bezogenen Lebensmitteln gegenüber anders zu verhalten, als den aus Amerika und Russland eingeführten, bewiesen sie vollends durch ihre Stellungnahme zu den Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung Südwestafrikas. Die „Deutsche Tageszeitung“ wandte sich in schärfster Form gegen alle, die Deutsch-Südwestafrika zur Viehausfuhr entwickeln wollten.

Wenn die beiden „Begründungen“ der Kolonialpolitik auch nichts als Irreführung waren, so erforderte doch ihre Widerlegung ein Eingehen auf die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen. Das dritte Argument der Verfechter der Kolonialpolitik, das in besonders feierlichen Momenten herbeigeholt wird, die Berufung auf das Recht der höheren Zivilisation, kann sehr kurz abgetan werden. Kapitalistische Staaten stellen Organisationen dar zur Niederhaltung des Volksaufstieges zu höherer Kultur. Niemand weiß das besser als die deutsche Arbeiterklasse, die jedes Atom Kultur im Kampfe gegen die kapitalistischen Kulturträger hat erringen müssen, und sie weiß auch, dass die Kultur, die das deutsche Kapital den wilden Völkern bringen will, Ausbeutung und Unterdrückung bedeutet. Peters, Arenberg, General Trotha, das sind die Träger der deutschen Kultur in den Kolonien. Angesichts dessen klingt die Berufung der Kolonialpolitiker auf das Recht der höheren Zivilisation wie Hohn in den Ohren der Arbeiter. Man kann mit dieser Behauptung Backfische irreführen, aber nicht die deutsche Arbeiterklasse, der Jahrzehnte ernsten, mühevollen Kampfes um die Kultur schon soviel Einsicht in den Charakter des Kapitalismus beigebracht haben, dass sie weiß: wenn das Kapital von Kultur zu sprechen beginnt, so dient das gewiss zur Verdeckung eines besonders guten Geschäftes.

Die kapitalistischen Kolonialfreunde verdunkeln nur den Charakter der Kolonialpolitik. Die kurze Prüfung der Argumente der Kolonialpolitik überhaupt, und der deutschen im besonderen, wie sie von bürgerlichen Schriftstellern gegeben wird, zeigt, dass man die Wurzel der Kolonialpolitik nicht in den allgemeinen Interessen der Gesellschaft und noch weniger in denen der Volksmassen finden kann. Das ist schon durch die Tatsache ausgeschlossen, dass die Träger der Kolonialpolitik eben die schlimmsten Gegner der Arbeiterklasse sind. Lockoutfabrikanten und Brotwucherer, Bürokraten, die das Volk auf Schrift und Tritt schurigeln, Militärs, die immer wieder nach dem Niederwerfen der „revolutionären Kanaille“ schreien, kurz die Spitzen der kapitalistischen Gesellschaft sind es, die sich für Kolonialpolitik am heißesten ins Zeug legen. Werden also nicht ihre Wurzeln in den Interessen dieser Klassen zu finden sein? Darauf bekommen wir am leichtesten eine Antwort, wenn wir uns die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus, wie er heute schaltet und waltet, vor Augen führen.

2. Die Triebkräfte des Imperialismus

Die ungeahnte Entwicklung des Kapitalismus, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Europa ein Land nach dem anderen erobert, Nordamerika allmählich aus einem Agrar- in ein Industrieland verwandelt, beruht auf einer Entfaltung von Produktivkräften, deren Grenzen überhaupt nicht vorauszusehen sind. Eine technische Erfindung nach der andern hilft die Naturkräfte in den Dienst der Produktion stellen, und mit allen ihren Mitteln ausgerüstet, besiegt die kapitalistische Industrie das Handwerk, die bäuerliche Hausarbeit. Sie reiht den proletarisierten Handwerker in die Armee ihrer Sklaven ein, gesellt ihm den proletarisierten Bauer zu, rottet die Reste der Naturalwirtschaft aus und schafft sich einen inneren Markt. Das Kapital triumphiert. Es gibt außer ihm keinen Gott mehr auf Erden, und alle alten Mächte paktieren mit ihm und dienen ihm. Aber bald zeigt es sich, dass der Altar des kapitalistischen Baal auf einem Vulkan steht, und dass seine Priester leicht in die Luft fliegen können. Die Produktionskräfte wachsen schneller als der Markt, der die Produkte der kapitalistischen Industrie verschlingen soll, damit der von der Arbeiterklasse erzeugte Mehrwert als blankes Gold – und nur dieses ist Gegenstand der kapitalistischen Sehnsucht – in die Schränke der Hohepriester des Kapitals zurückkehren kann. Die Kaufkraft der Arbeiter, die sich für kargen Lohn abmühen, wächst sehr wenig, da ungeachtet aller kapitalistischen Faseleien die Lage des Arbeiters immer eine schlechte, wenn nicht trostlose bleibt; einen je größeren Teil der Gesellschaft die Arbeiterklasse ausmacht, desto enger werden die Schranken der Markterweiterung, solange der Kapitalismus besteht Die Entwicklung der Technik aber nimmt auf diese Sorgen des Kapitals keine Rücksicht. Bevor eine neue Erfindung gehörig ausgenützt ist, erscheint eine zweite auf der Oberfläche – und wehe dem Kapitalisten, der sich der alten bedient: er produziert zu teuer, verkauft mit Verlust. Die riesig gewachsenen Produktionskräfte überschwemmen den Markt mit Waren, die keinen Käufer finden. Es ist aber unmöglich vorauszusehen, welche Masse von Waren der Markt fassen kann, wie viel produziert wird, weil es keine Organisation der Produktion gibt, und man immer aufs Geratewohl produziert, je mehr, desto besser, weil angesichts der wachsenden Konkurrenz nur bei vergrößerter Stufe der Produktion Erniedrigung der Produktionskosten eintritt. Das Resultat dieser Entwicklung sind die Krisen. Es wird anarchisch produziert, mehr produziert, als der Markt fassen kann, es muss also ein Moment eintreten, wo die Stockung beginnt. Die Waren finden keinen Absatz; ihr Preis stürzt, der Kredit wird verteuert. Die Vernichtung ungeheurer Massen von Werten ebnet den Weg für die weitere Entwicklung der Produktion. Zertrümmerte kleinere Unternehmungen, die die Krise nicht überstehen konnten, eine Unmenge von Leiden der Arbeiter, die keine Arbeit fanden und darbten, während die Industrie keinen Absatz für ihre Waren fand, dies alles bezeugt, dass in der kapitalistischen Gesellschaft nicht Menschen über die ökonomische Entwicklung walten, sondern dass sie blinden Kräften unterliegen. Die Leiden der Arbeiterschaft bilden die geringste Sorge des Kapitals. Die Arbeiterklasse ist doch noch schwach, unaufgeklärt, unorganisiert und sieht in ihren Leiden Naturereignisse, Fügungen Gottes. Aber die anderen Folgen der Krisen, die sich den Taschen der Kapitalistenklasse fühlbar machen, reizen zur Abwehr. Das Kapital sucht eine Organisation der Produktion durchzuführen, um die Überproduktion zu verhüten, und wenn das nicht geht, die hohen Preise trotz der Überproduktion aufrechtzuerhalten.

Es schafft Vereinigungen, die den Markt unter den einzelnen Mitgliedern verteilen, die die Höhe der Preise bestimmen und mit hohen Strafen jene Fabrikanten belegen, die sich erfrechen, billiger abzusetzen, als die andern.

Aber die Kapitalistenklasse stößt hier auf ein ernstes Hindernis. Was würde ihm die Gründung von Trusts und Kartellen helfen, wenn fremdes Kapital dank den immer billigeren Transportkosten in ihre Domäne eindringen könnte. Ist das ausländische Kapital in der Lage, in den einheimischen Markt einzudringen, dann würde die Gründung der Kartelle und Trusts nur ein Mittel sein, den Markt für die fremde Wareneinfuhr freizuhalten. Darum schreit das Kapital nach Schutzzöllen, die sein Ausbeutungsgebiet – es nennt es gefühlvoll nach alter Sitte Vaterland – mit einem Wall vor dem Eindringen fremder Waren schützen. Wo schon Schutzzölle aus der Zeit bestehen, in der sie die wenig entwickelte Industrie vor der Konkurrenz der stärkeren, ausländischen schützen sollten, dort fordert man ihre Beibehaltung und Erhöhung, obwohl man der fremden Konkurrenz vollkommen gerüstet gegenübersteht. Der Schutzzoll hat jetzt eine Aufgabe: er soll dem Kapital die Möglichkeit geben, nach freiem Ermessen die Preise zu steigern. So bilden die Trusts und Kartelle eine Macht, die zur Einführung der Schutzzölle, zu ihrer Erhöhung führt, und diese wieder sind die Fittiche, unter welchen diese Ausbeutungsinstitutionen ihr Unwesen treiben können. Aber auch das hilft nur eine Zeitlang. Die technische Entwicklung, die Aufspeicherung immer größerer Kapitale treibt zur Ausbreitung, zur Erweiterung der Produktion. Was aber mit ihren Erzeugnissen tun? Das Kapital wirft sie zu billigen Preisen, manchmal ohne Profit, auf fremde Märkte. So kommt es in die Lage, die Produktionskosten niederzudrücken, und die hohen Preise im Inlande entschädigen es für die profitlose Verschleuderung eines Teils der Erzeugnisse auf den ausländischen Märkten. Aber auch diese Politik der Kartelle kann nicht für immer Abhilfe schaffen. Die Kapitalistenklasse des Auslandes kann sich durch dieselben Maßregeln ihrer Haut wehren, auch sie versteht es, sich mit einer Schutzzollmauer zu umgeben, die Erzeugnisse des Arbeiterschweißes auf fremden Märkten zu verschleudern. Es gilt, auf anderen Wegen dem Immer wachsenden Kapital großen Profit zuzuführen. Im Kapitalexport findet man die Lösung der Frage. Die Kapitalkönige borgen den Regierungen der weniger entwickelten, kapitalarmen Länder Geld, damit sie nach dem Muster der großen Staaten Armeen schaffen, Bahnen bauen, eine moderne Verwaltung ausbilden können. Russland, die Balkanstaaten, die südamerikanischen Staaten, die Türkei, China, sie alle greifen mit vollen Händen in die Taschen des westeuropäischen Kapitals, Sie lassen sich Bedingungen vorschreiben, bei denen dem Kapital ungeheure Zinsen zufließen, sie verpflichten sich, die ihnen zur Ausrüstung ihrer Armeen, zum Eisenbahnbau nötigen Waren nur bei ihren Gläubigern zu bestellen. So kehrt das ausgeführte Kapital als Zinsen, als Warenbestellungen in die Taschen des europäischen Kapitals zurück, seine Macht ungeheuer erweiternd. Zur Vertretung seiner so entstandenen Auslandinteressen wendet sich das Kapital an den Staat. Es kann auf seine Hilfe sicher rechnen.

Die Staaten Westeuropas, deren Wirtschaftsleben diese Entwicklung durchgemacht hat, blieben inzwischen nicht die alten. Sie haben sich zusammen mit dem Kapital gewandelt. Wurden sie früher von dem Großgrundbesitz, von den Dynastien, die selbst die größten Großgrundbesitzer des Landes waren, beherrscht, bedienten sie sich des Kapitals zu ihren Zwecken, so sind sie jetzt nur Diener des großen Kapitals. Denn ihm unterliegt jetzt das Land. Die überwiegende Masse der Bevölkerung ist jetzt nicht vom Grundbesitz abhängig, sondern vom Kapital. In seinen Fabriken arbeitet die Mehrzahl der Bevölkerung. Von ihm ist der Staat abhängig, denn ohne seine Hilfe kann er die Staatsmaschine nicht in Bewegung erhalten. Die technische Entwicklung, die jahraus, jahrein die Produktionsmittel umwälzt, beherrscht auch die Entwicklung des Heeres, des wichtigsten Machtorgans des Staates. Die alten Mordmaschinen müssen ebenso rasch neuen, besseren, teueren Platz machen, wie die anderen Maschinen, und die Konkurrenz der Großmächte auf diesem Gebiete ist noch größer, als die der Fabrikanten. Immer größer werden die Kosten, die die moderne Ausrüstung des Heeres erfordert. Und das Heer selbst wächst in demselben Tempo, wie die Bevölkerung, denn seitdem die französische Revolution zur Abwehr ihrer Errungenschaften vor dem Feudalismus Massenheere auf die Schlachtfelder geworfen hat, geht ein Staat nach dem andern von dem System der Söldnerheere zu dem mehr oder minder konsequent durchgeführten System der allgemeinen Wehrpflicht über. Und dieser Wandlung im Charakter der Heere gesellt sich die Wandlung in dem zweiten Machtmittel der kapitalistischen Staaten in der Bürokratie. Der Staat greift jetzt in alle Winkel des geschäftlichen Lebens hinein. Er ist rege, mannigfaltig geworden, alle seine Teile greifen ineinander, fordern eine Regelung. Die Aufgaben der Bürokratie wachsen gewaltig. Entspricht sie ihnen nicht, beherrscht sie nicht das ganze soziale Leben, so verliert sie die Macht.

Und so treibt sie die Gesellschaft zu immer schnellerem Wachstum: das Heer der Bürokratie schwillt fortwahrend an.

Die Erhaltungskosten der Armee, der Bürokratie werden immer größer, immer unerschwinglicher. Obwohl der moderne Staat alles zu besteuern sucht, obwohl er die Steuerlast immer mehr vergrößert, muss er zu Anleihen greifen. Die Staatsschuld wächst und mit ihr die Abhängigkeit der Regierungen vom Kapital, das die Anleihen deckt.

Denn wie gewinnbringend auch diese Anleihen für das Kapital sind, es schlägt aus ihnen mehr heraus, als bloß den Profit: es gewinnt Macht im Staate. Mag die Regierung noch so feudal sein, mögen die Spitzen der Bürokratie eine noch so große Verachtung für die bürgerlichen Emporkömmlinge empfinden, sie können ohne sie nicht auskommen, müssen ihnen dienstbar werden. Und das Kapital geniert sich nicht im Gebrauch der Regierungsgewalt: sie dient ihm zur Niederhaltung der Arbeiterklasse und muss es als ihre wichtigste Aufgabe betrachten, seine Interessen den zahlreicheren, wenn auch schwächeren bürgerlichen Schichten gegenüber zu bewachen. Der Willensvollstrecker des Kapitals im Innern, wird der kapitalistische Staat zum Hüter der kapitalistischen Interessen nach außen hin. Wie diese Interessen aussehen, haben wir schon geschildert. Welche Aufgaben übernehmen ihnen gegenüber die westeuropäischen kapitalistischen Staaten? Diese Aufgaben hängen ab von der Eigenart des borgenden Staates und den Bedingungen, unter denen seine Unterjochung durch das fremde Kapital stattfindet. Erstens muss es der unentwickelte Staat, der die Anleihe aufnimmt, als seine heiligste Pflicht betrachten, dem fremden Kapital pünktlich die Zinsen zu zahlen, selbst wenn er alle Pflichten, die er seinen eigenen Untertanen gegenüber hat, unerfüllt lassen müsste. Er muss dem fremden Kapital nicht nur die Zinsen pünktlich zahlen, sondern auch seinen Warenbedarf bei ihm decken. Und will er das fremde Kapital bei gutem Humor erhalten, so ist es notwendig, ihm die Landesreichtümer zu Spottpreisen zu verschleudern Aber nicht immer kann die Regierung eines halbentwickelten Staates die übernommenen Pflichten erfüllen: der wachsende Steuerdruck, die Ausbeutung durch die Fremden, die wie Ungeziefer im ganzen Lande herumkriechen und an seinen Säften saugen, bringt in die bisher ruhig dahinlebenden Massen der eingeborenen Bevölkerung Bewegung hinein; sie leistet der eigenen Regierung Widerstand, zahlt die Steuern nicht, erhebt sich schließlich mit den Waffen in der Hand. In diesem Augenblick schlägt das europäische Kapital Alarm; es fordert von seiner Regierung Schutz seiner ökonomischen Interessen im fremden Lande und die Besetzung des letzteren.

Oder eine andere Möglichkeit. Das Kapital hat sich in einem wenig entwickelten Lande eingenistet. Es hat der Regierung desselben zu Wucherbedingungen Geld geborgt und fühlt sich jetzt dort wie zu Hause. Mit dem Geld gelang es dieser Regierung, ihre Machtmittel zu vergrößern, ihre Lage der Bevölkerung gegenüber zu befestigen. Sie will das ausnützen. Sie hat sich in der Welt umgesehen und weiß, was für Wucherzinsen sie dem fremden Kapital zahlt Um ihre Last etwas zu erleichtern, beginnt sie dem fremden Kapital Schwierigkeiten zu machen, macht sie Miene nach der Art des Kapitals durch eine Pleite bessere Bedingungen erlangen zu wollen. Da kocht wieder die Seele des fremden Kapitals vor Entrüstung, es fordert von seiner Regierung, einen Druck auf die betrügerischen Barbaren auszuüben und ihnen beizubringen, dass die Zivilisation in erster Linie in dem Einhalten der übernommenen Verpflichtungen dem fremden Kapital gegenüber besteht. Oder noch ein anderer Fall. Das fremde Kapital ist ein allgemeiner Begriff. In Wirklichkeit werden die Geschäfte mit den Regierungen unentwickelter Länder von nationalen Gruppen des westeuropäischen Kapitals gemacht. Deutsche, englische, französische Kapitalisten versuchen in einem nach Kapital lechzenden Lande ihr Geld unterzubringen. Sie machen einander Konkurrenz, versuchen sich gegenseitig zu verdrängen. Jede nationale Kapitalistengruppe fordert von ihrer Regierung, dass sie mit ihrer ganzen Macht zur Unterstützung ihres Angebotes eintrete. Sie solle doch der borgenden Regierung zu verstehen geben, wie unangenehm sie ihr werden könne, wenn das Angebot der betreffenden Kapitalistengruppe nicht angenommen würde. So solle sie aufmerksam machen auf ihre militärischen Kräfte, auf die Dienste, die sie ihr anderen Mächten gegenüber erweisen könne.

In allen diesen Fällen muss die Regierung eines kapitalistischen Landes die Interessen ihres Kapitals dem borgenden Staate gegenüber vertreten. Einmal endet die Sache mit einem diplomatischen Druck, das zweite Mal mit einer militärischen Demonstration, das dritte Mal mit der Besetzung des Landes, mit seiner Angliederung an das Gläubigerland. So führt der Export des Kapitals in fremde, wenig entwickelte Länder, zu der sogenannten friedlichen Expansion, sehr oft zu ihrer Besetzung. An der goldenen Schlinge werden sie dem Gläubigerstaat näher gebracht, von ihm ausgebeutet, verlieren schließlich, wenn sie sich gegen die sie erdrückende Last erheben und besiegt werden, ihre Unabhängigkeit und verwandeln sich in eine Kolonie. Der Kapitalist weist seiner eigenen Regierung die Rolle zu, die die fremde nicht ausführen konnte oder wollte.

Aber das ist nicht der einzige Weg, auf dem die Kolonien entstehen. Oft muss das Kapital die Regierung seines Landes anfangs zur Besetzung eines Fleckens freier Erde bringen, bevor es an seine Ausbreitung schreiten kann.

Kapital exportieren bedeutet: Häfen, Städte, Eisenbahnen in einem unentwickelten Lande bauen. Wenn aber das Land auf einer so niedrigen Stufe der Entwicklung steht, dass es überhaupt keine Staatsorganisation, oder eine so schwache besitzt, dass man ihr den Schutz des geborgten Kapitals überhaupt nicht anvertrauen kann, so muss das Kapital zuerst eine eigene Staatsorganisation dorthin übertragen, d.h. die Bevölkerung unterjochen und sich ihr Land aneignen. So sind z.B. alle deutschen Kolonien entstanden. [12] Wir sehen nun, welche Kräfte zur Eroberung der Kolonien, d.h. zur imperialistischen Politik treiben. Um ihr Wesen aber besser zu erfassen, ist es nötig, genauer zu untersuchen, welche Interessen hinter dieser Politik stehen, und welche Schichten sie unterstützen.

3. Der Imperialismus und das Bürgertum

Wir haben gezeigt, dass es die Interessen des kartellierten, vertrusteten Kapitals sind, die zur Gründung der Kolonien treiben, und die der Banken, die das Kapital in fremde Länder exportieren. Näher betrachtet sind das in erster Linie die Interessen der Eisenmagnaten und Großbanken. Das den Regierungen der unentwickelten Länder geliehene Kapital wird in erster Linie zum Ankauf von Kanonen, Gewehren, zum Bau von Festungen, Eisenbahnen verbraucht, es liefert also Bestellungen an die Magnaten der Hüttenwerke, Kanonenfabriken usw. Da der kapitalistische Staat, dessen Bourgeoisie Kapital exportiert, jederzeit bereit sein muss, ihr beizustehen, so muss er eine starke Flotte besitzen. Das gibt wieder denselben Zweigen der Industrie Beschäftigung, schafft ihnen einen immer wachsenden Warenmarkt, der desto lohnender ist, weil sie ihm die Preise diktieren können. Wie die Regierungen der vom fremden Kapital unterjochten Länder die Preise der Bestellungen annehmen müssen, wie sie von den Fabriken bestimmt werden, weil sie sonst die Anleihe nicht bekommen, so zahlt auch die heimische Regierung für ihre Schiffe und Kanonen, was man von ihr verlangt. Denn würde sie sich an fremde Fabriken wenden, so würde das Kapital Alarm schlagen, sie gefährde die Sicherheit des Landes; Konkurrenzunternehmungen gründen zu lassen, ist angesichts des ungeheuren Kapitals, das dazu nötig ist, nicht leicht, und alle für den Militarismus und Marinismus nötigen Sachen in eigener Regie fertigzustellen, ist schon darum nicht leicht möglich, weil der bürokratische Betrieb noch teuerer ausfällt, als die gesalzenen Preise der Krupp. So sehen wir in der schweren Industrie, den Eisenproduzenten, den Waffenfabrikanten den Reedereibesitzern die stärkste Gruppe der Nutznießer der imperialistischen Politik. Milliarden Mark stecken in ihren Riesenbetrieben Aber nicht nur das macht ihre Kraft aus, da sie doch trotz ihrer Größe nur einen Teil des deutschen Kapitals darstellen: sie sind zusammengeschlossen, sie stehen in einem lang andauernden Verhältnis zur Regierung, wie es sich durch die Versorgung der Armee herausgebildet hat. Dazu kommt noch die Tatsache, dass hinter ihnen das Finanzkapital steht, bei dem die Regierung mit ihrer Staatsschulden-Politik tief in der Kreide sitzt. Das Finanzkapital steht aber hinter ihnen, weil es selbst zum guten Teil die schwere Industrie dirigiert. Ihr Umfang ist zu groß, als dass sie das Eigentum einzelner bilden könnte. Ihr Kapitalbedarf wächst zu schnell, zu enorm, als dass es aus dem von ihren Arbeitern erzeugten Mehrwert gedeckt werden könnte. Sie muss immer wachsenden Kapitalzufluss haben, und den besorgen die Großbanken. Sie sind also an der Entwicklung der schweren Industrie interessiert. Auch sein ureigenstes Interesse macht das Finanzkapital zum eifrigsten Anhänger des Imperialismus. Erstens nötigt die imperialistische Politik den kapitalistischen Staat zu immer stärkerer Schuldenmacherei, was den großen Banken sehr willkommen ist. Zweitens sind sie es doch, die den Export des Kapitals in fremde Länder vermitteln. Was daraus aber für sie herausspringt, mögen nur einige Beispiele beweisen. Wie die Anleihen des letzten ägyptischen Khediven aussahen, die später zur Besetzung Ägyptens durch England geführt haben, zeigt Th. Rothstein [13] an folgendem Beispiel. Die Anleihe von 1873 wurde angeblich für 32 Millionen Pfund Sterling (640 Millionen Mark) zu 7 Prozent Zinsen und 1 Prozent Amortisation geschlossen. Die Banken, die diese Anleihe unterbrachten, gaben dem Khediven nur 20,7 Millionen Pfund und behielten die übrigen etwa 12 Millionen als Sicherstellung gegen Risiko. Damit nicht genug, zwangen sie ihn, 9 Millionen in Scheinen seiner eigenen schwebenden Schuld zum Kurse von 93 in Zahlung zu nehmen, obwohl die Anleihe eben zur Tilgung dieser Schuld bestimmt war und die Banken die Scheine zum Kurse von 65 erworben hatten. Um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nennen, so haben die Banken, die den Bagdadbahnbau finanzieren, 100 Millionen Franc für die Vermittlung verdient und 180 Millionen Franc an den Baukosten gespart, die sie der Türkei übermäßig hoch angerechnet haben. So soll das Geschäft nach englischen Berechnungen aussehen; nach den Angaben des Direktors der Deutschen Bank sollen zwar die „Ersparnisse“ an den Baukosten kleiner sein, aber der Vermittlerprofit wird auf 138 Millionen Franc angegeben. [14] Bei der Anleihe, die der Sultan von Marokko im Jahre 1909 in der Höhe von 62 Millionen Frank abschloss, sackten die Banken 14 Millionen ein, bei der 110 Millionen Franc- Anleihe, die sie im vorigen Jahre untergebracht haben, „verdienten“ sie für Vermittlung bei jeder 500 Franc- Obligation 71 Franc.

Wenn man bedenkt, wie groß die Macht der Großbanken ist, wie sehr die bürgerliche Presse, die bürgerlichen Parteien von ihnen abhängig sind, so kann man sich ein Bild machen von der Kraft, mit der sie ihre imperialistischen Interessen verfechten, sie zu allgemeinen Interessen des Kapitalismus, ja der Nation auszudehnen suchen. Aber hinter der imperialistischen Politik stehen noch ausgedehntere Interessen, als die der schweren Industrie und des Finanzkapitals. Wenn das Finanzkapital Armeen barbarischer Staaten ausrüstet, wenn es Bahnen in Anatolien oder China baut, so flicht es um diese Unternehmungen, die in erster Linie der schweren Industrie zugute kommen, einen Kranz von Unternehmungen, an denen verschiedene Zweige der verarbeitenden Industrie profitieren. Es reißt einen Teil der Eingeborenen-Bevölkerung von der Arbeit an der heimatlichen Scholle und lässt sie Landstraßen anlegen; es gibt ihr zwar kargen Lohn, aber für das Geld kauft die Bevölkerung europäische Waren. Der Bahn folgen Händler und kaufen den Bauern ihre Erzeugnisse ab, ziehen sie in die Wirrnisse des Warenverkehrs hinein. So erweitert sich der Kreis der industriellen Interessenten des Imperialismus.

Aber die imperialistische Politik findet Anhänger in noch weiteren Kreisen. Ihre eifrigsten Verteidiger findet sie in den Militärkreisen, denen sie ein Feld weiterer Betätigung öffnet. Das nähert ihr die Schicht des Kleinadels, der ursprünglich nicht kolonialfreundlich ist, weil doch die Kolonialpolitik in erster Linie im Interesse des Großkapitals geführt wird. Aber Adelssöhne sind es, die als Offiziere an der imperialistischen Politik interessiert sind, denn den jüngeren Söhnen des kleineren Adels winkt die Hoffnung, in den Kolonien, in die der Staat Millionen hineinsteckt, selbst mit einem kleinen Kapital sich emporzuarbeiten; zu Hause aber würden sie nur den Familienbesitz zersplittern und auf der väterlichen Klitsche nichts ausrichten können.

Damit ist der Kreis der direkten Kolonialinteressenten erschöpft. Kein Interesse haben an ihr die breiten Kreise der verarbeitenden Industrie und des Handels, die für den inneren Markt arbeiten oder aus dem Verkehr mit dem kapitalistischen Ausland ihren Profit ziehen. Sie sind der Zahl nach viel größer, als die für die Kolonien und die unzivilisierten Länder arbeitenden Teile der Industrie. Die imperialistische Politik erschwert ihre Entwicklung, weil sie den Schutzzoll verewigt, die Militärlasten vermehrt und den Weltmarkt immer wieder durch Kriegsgefahr beunruhigt.

Aber sie sind nicht imstande, ihr Widerstand zu leisten, denn sie scheint ihnen die Politik zu sein, die auch ihren Interessen in der Zukunft entsprechen wird. Heute geht 5/6 der deutschen Ausfuhr in kapitalistisch entwickelte Länder. Aber was wird der nächste Tag bringen, fragen alle Schichten der Bourgeoisie. Alle Länder entwickeln ihre eigene Industrie; werden sie nicht als Märkte in immer geringerem Maße für sie in Betracht kommen? Mögen die Kolonialländer heute noch so wenig entwickelt sein, gilt es nicht, sie zu entwickeln, damit sie später einen aufnahmefähigen Markt für die heimische Industrie bilden? Natürlich wird sich die Bourgeoisie aus Rücksicht auf ihre zukünftigen Interessen jetzt keine Unkosten machen, aber ihre Berücksichtigung genügt, um sie mit kolonialfreundlichem Geiste zu erfüllen, und das um so mehr, als die Koloniallasten zum größten Teil nicht ihr aufgebürdet werden. Den größten Teil des Budgets der kapitalistischen Staaten decken die Volksmassen durch indirekte Steuern. Und schließlich, wie kann das Bürgertum ohne den kolonialen Traum auskommen, was soll es dem aus den Volksmassen immer lauter erschallenden Ruf nach dem Sozialismus gegenüberstellen? Vor Jahrzehnten konnte es den Sozialismus unbeachtet lassen, als Utopie verlachen. Jetzt, wo die Vergesellschaftung der Arbeit durch die fortschreitende Beherrschung der Industrie durch das Finanzkapital, wo die Ausschaltung der Einzelunternehmer, ihre Verdrängung durch unpersönliche Aktiengesellschaften auf die Entwicklung der Produktion zur gesellschaftlichen Leitung, d.h. zum Sozialismus, hinweist, wo die immer wachsende Macht der Arbeiterklasse beweist dass auch die Kräfte reifen, die diese Aufgabe aufnehmen können – was kann die Bourgeoisie dem Proletariat gegenüberstellen? Gibt es für sie noch eine andere Ausflucht als die, dass ihrer noch die große historische Aufgabe harrt, in die unzivilisierten Länder den Kapitalismus mit seinen Wundern der Technik hinein zu tragen? Was kann die Bourgeoisie dem Proletariat entgegnen, wenn es darauf hinweist, dass die Einengung der Absatzmärkte die alten kapitalistischen Länder vor Krisen und Erschütterungen stellen wird, in denen das vom Elend gepeinigte Proletariat zu einer anderen Organisation der Produktion greifen wird? Sie hat keine andere Zuflucht als den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Kolonien. Darum, mögen auch die breiten Kreise des Bürgertums keinen direkten Nutzen von den Kolonien haben, ja, mögen ihnen aus der imperialistischen Politik Schwierigkeiten erwachsen, sie werden sich doch im Schlepptau dieser Politik bewegen.

Auch für die gebildeten Schichten, die an der Produktion keinen Anteil haben und nur davon leben, was von den Tischen der Bourgeoisie abfällt, bildet der Imperialismus die einzige mögliche Ideologie, wenn sie, aus den Schlupfwinkeln ihrer Interesselosigkeit durch wichtige politische Ereignisse hervorgescheucht, sich in die Politik einmischen. Die Anbetung der starken rücksichtslosen Persönlichkeit, das ist die am stärksten verbreitete Weltanschauung dieser Kreise, die sich nur durch persönliche Tüchtigkeit hervortun können. Wo anders aber lebt sich jetzt die bürgerliche „Persönlichkeit“ am rücksichtslosesten aus, wenn nicht in den Kolonien? Und wenn das graue bürgerliche Leben den Intelligenzler anekelt, wo sieht er die Leute, die vor Abenteuern nicht zurückschrecken, die sich „ganz“ ausleben, ohne Rücksicht auf die Sitten und Gesetze und die Heuchelei der Heimat? In den Kolonien! So nimmt der Imperialismus eine bürgerliche Schicht nach der anderen gefangen, er spannt sie vor seinen Wagen und feiert seinen Triumphzug durch die Welt.

Aus den Ländern des entwickelten Kapitalismus, aus England, Frankreich, Deutschland, dringt er in die Länder, in denen das Kapital schwach ist, in denen noch Raum ist für seine weitere Entwicklung, und erobert auch hier die Geister. Italien, Österreich, selbst das sieche Spanien sehen, wie die alten kapitalistischen Länder ein Stück Asiens und Afrikas nach dem anderen besetzen. Bald wird nichts mehr zu rauben sein. Sollen sie sich damit vertrösten, dass sie noch für Jahrzehnte mit sich selbst zu tun haben, werden nicht später dieselben Schwierigkeiten vor ihnen auftauchen, die den alten kapitalistischen Ländern heute schon drohend in den Weg zu treten beginnen? Das imperialistische Fieber ergreift auch sie und lässt sie eine Last auf sich nehmen, unter der sie schier zusammenbrechen.

So sehen wir den Imperialismus als die Politik, die den Interessen der schweren Industrie und eines Teiles der verarbeitenden, den Interessen des Finanzkapitals schon heute entspricht; die dem Kapital als die einzige Rettung vor den Schwierigkeiten erscheint, mit denen die weitere Entwicklung es bedroht; die die gebildeten Schichten der Bourgeoisie als einzige „ganze“ Weltanschauung anzieht. Nicht mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen des Kapitals in seiner letzten Entwicklungsphase ist die imperialistische Politik verknüpft. Sehen wir uns nun den Weg an, den sie in Deutschland zurückgelegt hat, um ihre Wirkungen und die von ihr heraufbeschworenen Gefahren würdigen zu können.



Anmerkungen

2. M. Schanz: Algerien, Tunis, Tripolitanien, Verlag: Angewandte Geographie, Frankfurt a. M. (S.37, 134).

3. M. Schanz: Algerien, Tunis, Tripolitanien, Verlag: Angewandte Geographie, Frankfurt a. M. (S.37, 134).

4. Roscher: Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung, Leipzig 1885 (S.377).

5. Statistisches Jahrbuch für 1911 (S.29).

6. Statistisches Jahrbuch für 1911 (S.29).

7. Deutsche Revue, Oktober 1911.

8. Die Baumwollfrage, Denkschrift des Kolonialamtes, Jena 1910, Verlag Fischer.

9. Emil Zimmermann im Reichsboten vom 7. Januar 1911.

10. Otto Jöhlinger: Die wirtschaftliche Bedeutung unserer Kolonien, Berlin 1910, S.51.

11. Geheimrat Wohltmann im Tropenpflanzer (1909, Nr.1).

12. Natürlich läuft die Geschichte nicht in jedem kapitalistischen Lande in derselben Weise ab; es handelte sich aber bei dieser Darstellung nicht um die Entstehung der imperialistischen Politik in einem Lande – den Werdegang der deutschen werden wir noch speziell schildern – sondern um eine Gruppierung der allgemeinen Triebkräfte des Imperialismus. Eingehender schildert sie Rudolf Hilferding in seinem Finanzkapital, Wien 1910 (S. 374-477), Otto Bauer in der Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907 (S. 400-490), Parvus in seiner Kolonialpolitik und Zusammenbruch (Leipzig 1907), Kautsky in seiner Kolonialpolitik (Leipzig 1907)

13. Th. Rothstein: Egypt’s Ruin, London 1910 (S.40).

14. The Nineteenth Century, Juni 1909. Arthur von Gwinner: The Bagdad Railway usw.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008